Vertreiben, aber nicht töten

Luthers Umgang mit Abweichlern war ein Impuls für allgemeine Toleranz
"Cucina opiniorum – Der Friede mahnt die Kirchen zur Toleranz", um 1600–1625. Foto: akg-images
"Cucina opiniorum – Der Friede mahnt die Kirchen zur Toleranz", um 1600–1625. Foto: akg-images
Verglichen mit den durch die Aufklärung definierten Maßstäben von Toleranz, war die so genannte Vormoderne durch Intoleranz gekennzeichnet. Dennoch sei dies für heutige Protestanten kein Grund, in Sack und Asche zu gehen, meint Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Auch in der Toleranzfrage habe die Reformation der Moderne mannigfach vorgearbeitet.

Wer die Frage zu beantworten versucht, wie sich die Rolle der Reformation in der Geschichte der Toleranz darstellt, sollte Vereinfachungen vermeiden. Was verstehen wir unter Toleranz? Für die neuzeitliche Gestalt der Toleranz ist charakteristisch, dass sie durch eine allgemeingültige, vernunftbegründete Moral und eine dieser entsprechenden Rechtsordnung gewährleistet wird. Danach darf man niemandem etwas auferlegen, was man selber nicht erleiden möchte. Und Meinungsverschiedenheiten aller Art sind so auszutragen, dass die Würde einer jeden Person unverletzt bleibt.

Das Gebot der Toleranz ist nach unserem Verständnis universal; keine religiöse oder sonstige Überzeugung berechtigt zu Intoleranz. Als ethische Haltung geht Toleranz über die bloße Duldung des Anderen im Sinne der Gewährleistung seiner Unversehrtheit hinaus; sie schließt Respekt ein. Toleranz ist mehr als der ordnungsstaatlich verbürgte Verzicht auf den Vernichtungswillen gegenüber Menschen, deren sittliche und weltanschauliche Überzeugungen mit denen anderer nicht vereinbar sind. Bloßes Dulden, die Grundbedeutung des lateinischen Begriffs und des vormodernen Verständnisses von "tolerare", reicht für unser modernes Toleranzempfinden nicht aus. Toleranz basiert auf Kommunikation, auf Kenntnis und partieller Anerkenntnis des Anderen und schließt Austausch und Wechselseitigkeit ein. Gegenüber Intoleranz tolerant zu sein, widerstreitet dem Wesen der Toleranz; sie begnügt sich nicht mit der Feststellung von Grenzen; sie arbeitet an ihrer Überwindung.

Das moderne Toleranzverständnis im skizzierten Sinne ist eine geistes-, rechts- und kulturgeschichtliche Folge der grundlegenden Transformationsprozesse Lateineuropas, die mit dem Begriff der Aufklärung verbunden werden. Diese bedeutet den Verzicht auf die Selbstverabsolutierung einer bestimmten religiösen und weltanschaulichen Überzeugung im Namen universaler Vernunft- und Moralprinzipien. Aus der Perspektive der Aufklärung war ihre Vorgeschichte durch Grenzziehungen ideologischer und traditionaler Art gekennzeichnet, die zu überwinden ihr programmatisches Anliegen war. Toleranz als allgemeingültige Haltung entgrenzt.

Vergleichen mit den durch die Aufklärung inaugurierten, bis heute gültigen Maßstäben dessen, was Toleranz genannt zu werden verdient, war die so genannte Vormoderne durch Intoleranz gekennzeichnet. Dies scheint in besonderem Maße für die Reformationszeit und das konfessionelle Zeitalter zu gelten. Denn hier waren unduldsame Haltungen gegenüber Andersdenkenden aller Art an der Tagesordnung - schärfste Verurteilungen der nichtchristlichen Religionen, die ständige Polemik gegen die anderen christlichen Konfessionen und das Austeilen von Ketzerhüten gegenüber Abweichlern in der eigenen Konfession. Der in der Reformation aufgebrochene Glaubensstreit war essenziell intolerant, förderte und forderte trennscharfe Abgrenzungen.

Stukturell intolerant

Auch das im Alten Reich etablierte System des Religionsrechts, das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 fixiert und im Westfälischen Frieden von 1648 erneuert wurde, war strukturell intolerant. Denn es akzeptierte zunächst nur die Katholiken und die Lutheraner, und nach dem Dreißigjährigen Krieg auch die Reformierten. Zudem basierte es auf dem Grundsatz der religiösen Homogenität einzelner politischer Einheiten, befriedete den Konfessionskonflikt durch Grenzziehungen und schuf ein gestuftes System der religiösen Betätigungsberechtigung: Nur die jeweils offiziell geltende Landeskonfession durfte sich öffentlich präsentieren; die beiden anderen im Reich geduldeten Konfessionen hatten dagegen nur das Recht auf ein halböffentliches oder privates Religionsexerzitium; das Judentum hingegen unterlag einer - wie seit alters - befristeten, gegen Geldzahlungen gewährten Duldung, einer "tolerantia limitata", die jederzeit widerrufen werden konnte. Eine Duldung des "mohammedanischen" Glaubens des "Erbfeindes" der Christenheit, der Türken, war unvorstellbar. Die Gewährung religiöser Existenzrechte gegenüber den protestantischen "Sekten", insbesondere den Täufern, unterlag kontingenten obrigkeitlichen Interessen, wurde aber seit dem 18. Jahrhundert immer häufiger praktiziert - nicht zuletzt wegen der sittlichen Integrität und ökonomischen Leistungsfähigkeit der Mennoniten.

Das System des Reichsreligionsrechts, das bis zum Ende des Alten Reichs (Reichsdeputationshauptschluss 1803) in Geltung blieb, bot im internationalen Vergleich deutlich mehr an religiöser Toleranz und kultureller Vielfalt. Denn in den übrigen Ländern Europas setzte sich im Verlauf der frühen Neuzeit eine Tendenz zur konfessionellen Monokultur durch - in Polen beispielsweise nach einer multikonfessionellen Phase im Zuge einer siegreichen Gegenreformation, und in Frankreich infolge des staatlichen Absolutismus Ludwigs XIV., der auf die einheitliche Religion als Einheitsband der Gesellschaft setzte und das Toleranzedikt von Nantes am Ende des 17. Jahrhunderts aufhob.

Früchte der Blut- und Tränensaat

Die für unsere Erinnerung mit dem konfessionellen Zeitalter verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen, insbesondere die Religionskriege in Frankreich, den Niederlanden und der Dreißigjährige Krieg, bilden die Blut- und Tränensaat, auf der das zarte Pflänzlein des aufklärerischen Toleranzdenken erwuchs. Der Generation der Reformatoren waren Erfahrungen mörderischer kriegerischer Intoleranz, wie sie seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ins Kraut schossen, weitgehend unbekannt geblieben. Die spezifische Tradition der den Schriftbesitzern - Juden und Christen - in den islamischen Ländern gewährten Duldung aufgrund steuerlichen Freikaufs wurde zumeist erst in der Aufklärungszeit als kulturspezifische Form der Toleranz gewürdigt; in der Reformationszeit glaubte man zumeist, dass überall da, wo das Osmanische Reich siegreich vordrang, nach und nach auch die Grundlagen christlicher Existenz beseitigt würden. Manche scharfen Urteile über den Islam haben hierin und in den Gräuelgeschichten türkischer Gewaltexzesse ihren Grund.

Der Blick aus dem 16. Jahrhundert nach vorn muss unweigerlich zu der Feststellung führen, dass die Reformation hinter der neuzeitlichen Toleranz zurückgeblieben ist. Aufschlussreich ist aber auch ein Blick zur Seite und zurück. Und hier zeigt sich, dass die Reformation im Umgang mit Andersdenkenden und Abweichlern keineswegs den Weg der lateineuropäisch-römischen Kirche ungebrochen fortgesetzt hat. Dabei ist zunächst zwischen der Umgangsweise mit den Nichtchristen - den so genannten Heiden und den Juden - einerseits und den getauften Abweichlern, den als "Ketzer" bezeichneten, andererseits zu unterscheiden. Zwischen beiden Gruppen macht das seit dem Hochmittelalter verbindliche kanonische Recht grundlegende kategoriale Unterschiede. Sie werden in der Toleranzdebatte notorisch übersehen. Gegen die, die definitiv außerhalb der Kirche stehen, also die Heiden und Juden, kommen Zwangsmaßnahmen in der Regel nicht in Betracht. Nichtchristen sind deshalb entweder unter bestimmten Bedingungen zu dulden oder auszutreiben.

Anders die Ketzer. Sie sollen - seit einer wegweisenden Äußerungen Augustins in der Auseinandersetzung mit den Donatisten - mit Mitteln äußerer staatlicher Gewalt in die Kirche gezwungen oder im Fall notorischer Gehorsamsverweigerung als "krankes Glied" vom Leib Christi abgetrennt werden - um dessen weitere Infizierung zu verhindern.

In Bezug auf die Juden brach Luther zunächst mit der Tradition der befristeten Duldung. In seiner Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" (1523) warb er für einen freundlichen Umgang mit den Juden, um ihnen so die Attraktivität des Christuszeugnisses nahezubringen. Im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern, in denen den Juden im 15. Jahrhundert ein Existenzrecht verweigert wurde, waren sie in den einzelnen Städten und Territorien des Reichs jeweils aufgrund bestimmter vertraglicher Vereinbarungen befristet geduldet.

Toleranzgeschichtlich epochal

In seinen späten Judenschriften verfolgte Luther dann aber mit allergrößtem Nachdruck das Ziel einer Austreibung. Die Maßnahmen einer "scharfen Barmherzigkeit", die er in seiner Hetzschrift "Von den Juden und ihren Lügen" (1543) propagierte - unter anderem den im Lichte der Reichspogromnacht erschütternd bedrückenden Vorschlag, die Synagogen anzuzünden - waren in seiner Sicht nur die gegenüber der Austreibung "schlechtere" Lösung der "Judenfrage". Zur Anwendung kamen sie, nach allem was wir wissen, in der Reformationszeit aber nicht. Wo man die Juden - natürlich gegen entsprechende "Schutzzahlungen" - nicht duldete, trieb man sie aus. Die vor der Reformation nachweisbaren, in katholischen Territorien weiterhin begegnenden Pogrome infolge so genannter Ritualmorde hat es in protestantischen Territorien allerdings nicht gegeben.

Von dem späteren Augsburger Stadtschreiber Georg Frölich wurde unter Rekurs auf Luthers Schrift "Von weltlicher Obrigkeit" (1523) und unter Bezug auf die multikonfessionellen und multireligiösen Verhältnisse im Königreich Böhmen die These vertreten, dass es allen christlichen Gruppen, auch den "Wiedertäufern", ebenso wie den Juden, freistehen solle, ihre jeweiligen Lehren und Zeremonien zu vertreten. Die Obrigkeit solle sich nur einschalten, wenn es zu Konflikten zwischen den verschiedenen Akteuren auf dem religiösen Markt komme. Dies war eine in ihrer Zeit außergewöhnliche Position. Sie verdeutlicht aber, dass in dem Prozess, den wir "Reformation" nennen, eine enorme geistige und kulturelle Dynamik entfaltet wurde. Nun konnten Vorstellungen entstehen, die unter den Bedingungen einer Dominanz des papstkirchlichen Rechtssystems undenkbar waren. Luther, der rechtmäßig verurteilte Ketzer der Papstkirche, hatte durch seine Appelle, Häretiker allein mit dem Wort zu bekämpfen, nicht mit dem Schwert, in diese Richtung vorgearbeitet. Unter den 41 Artikeln, die der römische Papst in seiner Bannandrohungsbulle "Exsurge Domine" verurteilte, findet sich auch der Satz: "Dass Häretiker verbrannt werden, ist gegen den Willen des Geistes!" Wahrlich: Eine toleranzgeschichtlich epochale These.

In "Von weltlicher Obrigkeit", dem wichtigsten Text für die Ausformung der später so genannten Zwei-Reiche-Lehre, auf den sich dann auch Toleranztheoretiker wie Sebastian Castellio beriefen, fordert Luther: "Ya welltlich gewallt zwingt nit zu glewben / sondern weret nur eusserlich / das man die leutt mit falscher lere nicht verfure / wie kundt man sonst den ketzern weren? Anttwort. Das sollen die Bischoff thun / den ist solch ampt befohlen unnd nicht den fursten. ... Gottes wort soll hie streytten / wenns das nicht auß richt / so wirtts wol unaußgericht bleyben von welltlicher gewallt / ob sie gleych die wellt mit blutt füllet. Ketzerey ist eyn geystlich ding / das kann man mitt keynem eyßen hawen / mitt keynem fewr verbrennen / mitt keynem wasser ertrencken." Die übliche Zuständigkeit des weltlichen Arms für die physische Bekämpfung der Ketzerei wurde in der frühen Reformation von niemandem schärfer zurückgewiesen als von Luther.

Nicht in Sack und Asche

Dass er im Angesicht der so genannten Irrlehre in den eigenen Reihen, auch unter dem Einfluss Philipp Melanchthons, der hier früher und eindeutiger votierte, zu Strategien der Ketzerbekämpfung mit Mitteln staatlicher Gewalt zurückkehrte und auf das Konzept der homogenen Einheitsreligion innerhalb eines Territoriums setzte, er also - ähnlich wie im Falle der Judenpolitik - schließlich wieder auf die traditionelle Linie der lateinischen Kirche einschwenkte, bedeutet nicht, dass es fortan keine Unterschiede zwischen den Konfessionen gegeben hätte. Im Gegenteil: Unter den Täufern, die im 16. Jahrhundert hingerichtet wurden, kam nur ein Bruchteil in evangelischen Territorien ums Leben. In der Regel vertrieb man die abweichenden Geister zwar, aber tötete sie nicht. Dass es gerade die protestantischen Sekten waren, die im Anschluss an und unter Berufung auf Luther für Glaubens-, Gewissensfreiheit und Toleranz und gegen die Durchsetzung religiöser Einheit mit physischen Zwangsmitteln eintraten, kommt nicht von Ungefähr. Fromme protestantische Sekten Englands und Europas verwirklichten schließlich ihre Vorstellungen religiöser Toleranz in Nordamerika.

Entgegen der etwa von der EKD verbreiteten Tendenz, wegen der "Intoleranz" der Reformatoren in Sack und Asche zu gehen, ist eine nüchtern differenzierende historische Urteilsbildung angebracht. Hinrichtungen um des Glaubens willen erfolgten in der Verantwortung des weltlichen Arms, sind also Teil der Staats- und Gesellschafts- ebenso wie der Kirchengeschichte. Die Reformation bedeutet dagegen einen relativen Einschnitt in der Geschichte der vormodernen Intoleranz, da sie den traditionellen Mechanismus der staatlichen Strafverfolgung von Ketzern zeitweilig wirkungsvoll unterbrach. Im Protestantismus blieb das durch den jungen Luther geweckte Bewusstsein lebendig, dass Irrlehre allein durch das Wort zu bekämpfen sei. Dieses Bewusstsein bildete eine kulturelle Ressource, die in späteren Zeiten zugunsten einer allgemeinen Toleranz weiterwirken konnte.

In der Toleranzfrage spiegelt sich, was für die historische Einordnung der Reformation im Ganzen gilt: Sie hat der Moderne mannigfach vorgearbeitet, zugleich aber das Mittelalter perpetuiert; sie ist uns nahe und fremd zugleich. Anders als in dieser hochgradigen Ambivalenz ist sie historisch nicht zu haben. Wer hier einfache Identifikationen oder Verwerfungen sucht, beweist eigentlich nur, dass er von der Sache nichts versteht. Dem Verständnis der Reformation und der Vorbereitung ihres angemessenen Gedenkens dient er nicht.

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Thomas Kaufmann

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