Zumutung für die Kirche

Der Heidelberger Katechismus hat auch Bedeutung für das politische Engagement
Michael Triegel: "Auferstehung (Der Auferstandene)", 2006. Foto: akg-images
Michael Triegel: "Auferstehung (Der Auferstandene)", 2006. Foto: akg-images
Die Katechismusfrage, warum Jesus "Gesalbter" genannt wird, ist brisanter, als es auf den ersten Blick aussieht, zeigt der reformierte Pastor Rolf Wischnath, Professor für Systematische Theologie an der Universität Bielefeld. Er erläutert die "Dreiämterlehre" des Heidelberger Katechismus und macht deutlich, dass das Judesein Jesu für sie selbstverständlich ist.

Historisieren wir den Heidelberger Katechismus nur ja nicht. Es ist an ihm in den 450 Jahren seines Bestehens genug herumgetüftelt worden. Und man kann kirchliche Jubiläen auch so feiern, dass man sich die Jubilare durch unverwandte Blicke nach hinten vom Hals hält. Darum sogleich die Frage: Gibt es etwas Elementares im Heidelberger Katechismus, das auch heute noch (oder heute wieder) ins Auge springt? Man kann hier manche seiner Fragen und Antworten nennen. Meistens gilt als Meisterstück die Antwort auf Frage 1 (siehe Interview auf Seite 40). Aber ich möchte sie nicht vorziehen. Ich sehe derzeit vielmehr die Frage 31 als diejenige an, in der sich die Brisanz und Schärfe des alten Buches am deutlichsten und dringendsten erweist und zeigen lässt: "Warum wird er Christus, das heißt 'Gesalbter' genannt? Er ist von Gott dem Vater eingesetzt und mit dem Heiligen Geist gesalbt zu unserem obersten Propheten und Lehrer (5. Mose 18,15?/?Apostelgeschichte 3,22), der uns Gottes verborgenen Rat und Willen von unserer Erlösung vollkommen offenbart (Johannes 1,18; 15,15); und zu unserem einzigen Hohenpriester, der uns mit dem einmaligen Opfer seines Leibes erlöst hat (Psalm 110,4?/?Hebräer 7,21) und uns alle Zeit mit seiner Fürbitte (Römer 8,34; 5,9-10) vor dem Vater vertritt; und zu unserem ewigen König, der uns mit seinem Wort und Geist regiert und bei der erworbenen Erlösung schützt und erhält."

Hier wird die "Dreiämterlehre" vorgetragen. Es gibt viele Verwendungen dieses Konstrukts, es gab sie auch vor 1563. Der Heidelberger Katechismus ist in seiner Darlegung besonders abhängig vom Genfer Reformator Johannes Calvin (1509-1564). Und man könnte nun in langen Abhandlungen darlegen, wie die Verbindungen von hier nach dort, von dort nach hier verlaufen. Aber das würde an der Souveränität des Katechismus, mit der er sich Vorgegebenes aneignet, vorbeigehen. Die Angst, als Plagiatoren entlarvt zu werden, kannten Autor und Herausgeber dieses Buches nicht. Sie wollten damit ja auch nicht promovieren.

Die Dreiämterlehre findet (wie der ganze Katechismus) ihre Intention nicht in Spitzfindigkeiten, sondern in der Seelsorge an den Bedrängten und der pädagogischen Aufgabe, den Glauben zu elementarisieren. Diese Lehre will fraglos den Verstand ansprechen, aber auch das Herz. Und anleiten will sie zum Lobe Gottes. Summa summarum will dieses Stück Theologie Antwort geben auf eine Frage, die der Christenheit - und darum auch jedem Katechismus - immer wieder und immer wieder neu aufgegeben ist: Wer ist Jesus Christus?

Die Bedeutung Jesu Christi wird in der Frage 31 in drei Aspekten - in Anlehnung an die im Alten Testament vorgebildeten Ämter der Gesalbten Israels - ausgelegt: Christus, der Gesalbte Gottes, ist erstens der "oberste Prophet und Lehrer", zweitens der "wahre hohe Priester" und drittens der "ewige König".

Dass Christus nur vom Alten Testament und der Weggemeinschaft Gottes mit Israel her geglaubt werden kann, ist für den ganzen Katechismus selbstverständlich. In ihm findet sich kein böses Wort über Israel. Stattdessen findet sich die Wahrnehmung des Juden Jesus in der Perspektive der Bundesgeschichte Gottes und der Ausbildung der drei Ämter, wie sie zuvor in Israel wahrgenommen worden war.

Spricht der erste Aspekt dieser "Lehrformel" von Christus als dem "obersten", das heißt entscheidenden "Propheten und Lehrer", ist damit festgehalten: Jesus Christus ist in letzter Verbindlichkeit Gottes Wort. Er enthüllt "den verborgenen Rat und Willen Gottes". Dieser Prophet und Lehrer sagt aber nicht allein, was Gott den Menschen zu sagen hat, sondern er ist das, was Gott für die Menschen ist. So ist er das Ende allen menschlichen Anspruchs auf die letzte Wahrheit. So ist er die Verheißung, dass in der Bindung an ihn Wahrheitserkenntnis nicht nur möglich, sondern gewiss ist.

Es ist dieser Bekenntnisaspekt zu bedenken, wenn in den Auseinandersetzungen in der Kirche - auch und gerade in politischen Fragen - immer wieder ein lähmender Skeptizismus notwendige Entscheidungen aufschiebt oder gar zu erledigen sucht. Niemand könne wissen, wird da gesagt, was dem Frieden letztlich diene, wie Gerechtigkeit hergestellt und die Bewahrung der Schöpfung gelingen könne. Es könne in politischen Dingen keine eindeutigen christlichen Entscheidungen geben, weil unser Erkennen eben "Stückwerk" sei und immer bleiben müsse.

Doch diese Argumentationsfigur verkennt die Spitze der paulinischen Aussage aus dem Ersten Korintherbrief, auf die man sich beruft. Dabei wird der Gemeinde gerade bei allem "Stückwerk", das sie von sich aus nur produzieren kann, zugemutet, in Bindung an die in Christus offenbare Wahrheit und Liebe Gottes die Zeichen der Zeit zu erkennen, die politische Situation im Licht der offenbarten Wahrheit zu beurteilen und den vernommenen Ruf zum Glaubensgehorsam laut werden zu lassen.

Ganz auf der Linie und in der Konsequenz der Entscheidungen des Heidelberger Katechismus lag das Wort des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union in der DDR und Bundesrepublik aus dem Jahr 1975 - lange ist es her: " Die Wahrnehmung ihres Auftrages kann die Gemeinde zu expliziten Stellungnahmen in politischen und gesellschaftlichen Fragen nötigen. Davon kann keine politische Thematik - etwa durch Kennzeichnung als bloße Ermessensfrage - prinzipiell ausgeschlossen werden, weil es keine ein für allemal gültige Grenze zwischen Glaubens- und Ermessensfrage gibt. Auch ist es nicht auszuschließen, dass die Zeit und die Situation in ihren Tendenzen den Glauben herausfordern und dass neue gesellschaftliche Entwicklungen den Gehorsam gegen Gottes Gebot berühren, wo das bisher nicht geschah. Es kann Situationen geben, in denen es bei politischen Entscheidungen um das Bekennen und Verleugnen des Evangeliums geht."

Der zweite Aspekt der Lehrformel vom dreifachen Amt verweist auf Christus als den einen wahren "hohen Priester". Hier ist der Verstehenshorizont des Kultus vorausgesetzt. Dass der Mensch Sünder ist und warum und wie seine Sünde Gottes gerechten Fluch und Zorn nach sich zieht, in welcher Weise die Welt (nicht Gott!) durch den Opfertod Jesu Christi versöhnt worden ist, sagt der Heidelberger an manchen Stellen seines Textes, auch schon in Frage 1. Aber gerade das scheint für das Verstehen heute unüberwindlich genannte Hindernisse aufzutürmen. Die Rede vom Opfertod des Gekreuzigten als eines Sühnegeschehens zur Versöhnung der Welt ist auch im Heidelberger Katechismus keine sekundäre Vorstellung, Interpretament des Evangeliums, sondern grundlegend und unverzichtbar die Sache selbst. Indem der Katechismus den "einzigen Hohenpriester" benennt und seinen Kreuzestod als "einziges Opfer" qualifiziert, benennt er das Zentralthema des Wortes Gottes: das Wort vom Kreuz.

Und in der Tat: Die Kirche hat derzeit keine wichtigere theologische und didaktische Aufgabe, als das Wort vom Kreuz zu erschließen. Über den Heidelberger Katechismus hinausgehend ist neu zu elementarisieren, dass es in der hohenpriesterlichen Tat des Gekreuzigten um das Zu-Gott-Kommen des Sünders geht, die Beseitigung seiner alten, ihn versklavenden Wirklichkeit der Sünde und des Todes und die Neuschöpfung einer Wirklichkeit, in der er von der Sünde befreit als Gerechter leben darf.

Der Katechismus legt die Bibel aus

Es geht um die Versöhnung der Welt. Und so steht - das hat der Katechismus noch nicht gesehen, aber er hat es angebahnt - im Zentrum des Evangeliums die weltweite Mitverantwortung der christlichen Gemeinde, die grenzenlos ist, alle nationalen und klassen- und kassenmäßigen Bindungen überschreitend.

Die Erkenntnis des Katechismus muss auch darin weiter geführt werden, dass die Kontur des politischen Handelns der christlichen Gemeinde für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fortgeschrieben wird. Und wie? Blickt man auf den Gestus des Heidelbergers, so sind wir an die Heilige Schrift gewiesen, die auszulegen seine einzige Norm und Absicht war.

Im Sinn des Katechismus auf die Heilige Schrift blickend und in der Fortschreibung seiner Auslegung vom hohenpriesterlichen Amt ist zu sagen: Die Verantwortung für den Frieden hat ihren Grund in der Tat des Gekreuzigten. Der Einsatz für die weltweite Gerechtigkeit ist verankert in der Gerechtigkeit, in der Gott den Fernsten und Gottlosesten heimholt und versöhnt durch den Opfertod des Mannes auf Golgatha. Die Bewahrung der Schöpfung ist Entsprechung, entspricht der Erkenntnis am Karfreitag, dass "unsere Hilfe im Namen des Herrn steht, der Himmel und Erde gemacht hat, der Bund und Treue hält ewiglich und der nicht preisgibt die Werke seiner Hände".

Die Sehnsucht nach Freiheit und der Einsatz für die Befreiung der Unfreien hat ihren Grund in jener Freiheit, die selbst den Anführer aller Unfreiheit, den römischen Hauptmann unterm Kreuz freigemacht hat, der erste christliche, orthodoxe, rechtgläubige Bekenner zu sein: "Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!"

Ist das zu viel gesagt? Ist die Bürde zu groß, die uns da auferlegt wird? Im Heidelberger Katechismus findet sich die entscheidende, unter allen Umständen wirksame Kraft, wenn er davon spricht, dass der "einzige Hohepriester uns immerdar mit seiner Fürbitte vor dem Vater vertritt". Und wie sollte im Vertrauen auf dieses Gebet uns Kraft und Mut ausgehen?

Schließlich bringt der Aspekt des ewigen Königtums Jesu Christi in der Dreiämterlehre des Katechismus zum Ausdruck, dass die Machtfrage entschieden ist. Denn es gilt die Selbstaussage des Auferstandenen: "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden." Weil nach dem Heidelberger die Herrschaft des Christus von Ewigkeit her ist und keiner Begrenzung unterliegt, ist dem Einwand einer dualistisch interpretierten Zwei-Reiche-Lehre, die sich auf Luther beruft, zu entgegnen, "dass diese zwei Reiche zwar zu unterscheiden, aber insofern doch Eines sind, also Jesus Christus nicht nur der Herr der Kirche, sondern in jener ganz anderen Weise, nämlich in Form des Anspruchs auf die politische Ordnung der Herr auch der Welt ist" (Karl Barth).

Mit welcher Macht wir rechnen und auf welche wir zählen, fragt uns der Heidelberger Katechismus? Durch welche Wirklichkeit lässt die christliche Gemeinde ihren Realitätssinn zuerst und zuletzt bestimmen? Durch den "ewigen König", der machtvoll "mit seinem Wort und Geist" regiert oder durch die, die ihre erworbene Erlösung leugnen? Hier geschieht die Weichenstellung für alles Weitere: "Der Glaube ist niemals eine Feststellung von Faktischen, sondern er ist immer eine Entscheidung, wo die Wirklichkeit zu suchen ist. Der Unglaube wird die Wirklichkeit der Sünde im Menschen, in der Welt, in der durch die menschliche Tat gesetzten Wirklichkeit suchen - aber der Glaube sucht sie in Christo, wo sie eben damit aufgehoben und verwandelt ist. Hier erst wird die Sache brennend", schrieb der lutherische Theologe Hans Joachim Iwand (1899-1960). Und das war eine notwendige Fortschreibung der Theologie des Heidelberger Katechismus.

In der Tat wird hier "die Sache brennend". Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem ewigen König, zu dem der Katechismus ruft, lebt von einem anderen Wirklichkeits- und Machtverständnis als jenem, das landläufig in der Politik herrscht. Es ist im Unterschied dazu bestimmt vom neutestamentlichen Zeugnis, dass Christus am Kreuz die Mächte und Gewalten der Welt schon entwaffnet, ja öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert hat (Kolosser 2,15).

Gott hat in der Auferstehung des Gekreuzigten die Macht und Wirklichkeit der Versöhnung offenbar gemacht, und er wird in der Auferstehung aller Toten enthüllen und unwidersprechlich machen, was heute schon als wahre Realität aller Menschen gilt und verborgen wirksam ist. Das sagt der Heidelberger über die Auferstehung des Gekreuzigten und die, der wir entgegengehen (Frage 45).

In der begrenzten Erkenntnis des Glaubens und der eingeschränkten Wahrnehmung des Gehorsams geschieht Erkenntnis und Wahrnehmung dieser anderen Wirklichkeit, die Menschen veranlasst, sich allen Einwänden des Faktischen zum Trotz auf die Macht jenes ewigen Königs einzulassen, der uns "bei der erworbenen Erlösung schützt und erhält". Das ist im Kern auch die politische Verantwortung der Kirche, von der der Heidelberger Katechismus zwar nicht spricht, die aber heute unumgänglich ist, wenn man auf ihn hört. So geht es in seiner Richtung weiterdenkend und weiterglaubend um nichts Geringeres als um die Zumutung des einen und ganzen Bekenntnisses der Kirche.

Rolf Wischnath

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