Der Zeit dienen, um Gott zu dienen

Seit fast 120 Jahren leben Diakonieschwestern in enger Gemeinschaft
Moderne Arbeitskleidung. Fotos: Ev. Diakonieverein Berlin-Zehlendorf
Moderne Arbeitskleidung. Fotos: Ev. Diakonieverein Berlin-Zehlendorf
Der Evangelische Diakonieverein Berlin-Zehlendorf e.V. ist Träger der größten Schwesternschaft in Deutschland und Mitglied des Weltbundes DIAKONIA, der im Juli in Berlin tagt. Katharina Lübke hat mit der Weltpräsidentin Oberin Doris Horn über christliche Spiritualität, aber auch den Kostendruck in der Pflege gesprochen und darüber wie es ist, Diakonieschwester in Nigeria und Deutschland zu sein.

Oberin Doris Horn hat mehr Länder der Welt gesehen, als die meisten Menschen. Besucht hat sie alle fünf Kontinente, allein in Afrika war sie in acht Ländern. Ruanda und Madagaskar stehen noch aus und sind als Reiseziel fest eingeplant für ihre Pensionszeit in vier Jahren. Denn auch dort gibt es Gemeinschaften der DIAKONIA - dem Weltbund von Verbänden der Diakonie. Seit 1996 ist die Frau mit den kurz geschnittenen Haaren Vorstandsmitglied, seit 2009 Weltpräsidentin, davor war sie acht Jahre Regionalpräsidentin für die Region Afrika/Europa.

"Es ist unglaublich, was es bewirkt, wenn jemand hilft und ein kleines Stück Weg mitgeht", erzählt sie. Sie selbst ist ein solches Stück Weg mitgegangen: In den Achtzigerjahren hat die gelernte Diakonieschwester in Nigeria ein Dorfgesundheitsprogramm der Kirche mit aufgebaut. Acht Jahre lebte sie dort zusammen mit den rund zweitausend Einwohnern - Christen, Muslime und Anhänger traditioneller Religionen nebeneinander. Zuvor hatte sie bereits drei Jahre als Missionsmitarbeiterin in einem nigerianischen Krankenhaus gearbeitet und anschließend Pflegedienstleitung in Deutschland studiert. Heute ist die 61-jährige Pflegedienstleiterin am Evangelischen Krankenhaus Mülheim/Ruhr, übergibt aber die Aufgabe nach und nach an einen Kollegen. Sie konzentriert sich nunmehr auf das "Oberin sein": Sie leitet einen Bezirk des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf und ist zuständig für die diakonische Kompetenz, die christliche Ethik und die Schwesternschaft in einer Holding, zu dem auch das Krankenhaus in Mülheim an der Ruhr gehört.

Von der Wärterin zur Pflegerin

Der Zehlendorfer Verein ist fast 120 Jahre alt. Pfarrer Friedrich Zimmer, Leiter eines Predigerseminars, gründete ihn 1894 unter dem Namen "Verein zur Sicherstellung von Dienstleistungen der evangelischen Diakonie" und verfolgte damit verschiedene Ziele: Vor allem wollte er ledige Frauen eigenständig und finanziell unabhängig machen und den Notstand an Pflegekräften in Krankenhäusern durch Ausbildung ausgleichen. Denn noch gab es weder eine geregelte Pflegeausbildung - Pflegerinnen wurden oft als Wärterinnen bezeichnet - noch die Möglichkeit, als nicht verheiratete Frau zu arbeiten und selbstständig zu wohnen. Die Diakonieschwestern trugen fortan eine Tracht, die der Kleidung der verheirateten bürgerlichen Frau nachempfunden war. So wurden sie "gesellschaftsfähig" und konnten Menschen auch in fremden Häusern pflegen. Ein Jahr nach Vereinsgründung schlossen sich zehn Schwestern innerhalb des Vereins zur evangelischen Schwesternschaft zusammen. Sie hatten sich mehr Gemeinschaft gewünscht. Heiratete eine Diakonieschwester, ging sie damit eine neue Gemeinschaft ein und musste die schwesterliche verlassen.

Der Leitsatz Friedrich Zimmers lautete: "Wir wollen Gott dienen, indem wir den Bedürfnissen der Zeit dienen". Die Bedürfnisse änderten sich: Seit 1993 kann man Mitglied der Schwesternschaft unabhängig vom Familienstand sein, jede zweite Schwester ist mittlerweile verheiratet. Entsprechend ist auch das gemeinsame Leben im Wohnheim ein Modell der Vergangenheit.

"Die Gemeinschaft hat sich dadurch verändert, ist gelassener, weniger eng geworden", sagt Horn. Aber nicht weniger wichtig. Sie beschreibt sie als großes Netzwerk mit Kontakten bundesweit und regelmäßigen Treffen. Kliniken können sich austauschen und unterstützen, zum Beispiel wenn neue Systeme eingeführt werden, die andere schon installiert haben. Ebenso einzelne Berufsgruppen. Die Oberin schätzt die Schwesternschaft auch deshalb, weil sie hilft, soziale und fachliche Beziehungen aufzubauen. Man fühle sich getragen von einem gemeinschaftlichen Bewusstsein noch über die Familie und über Freunde hinaus gehend. Das gebe Stärkung im Alltag.

Fehlende Wertschätzung

Das hat Oberin Horn ganz direkt erfahren: Nach der Ausbildung in Oldenburg schloss sie eine Intensivpflegeausbildung in Reutlingen an. "Es war schön, überall die bekannten grau-weiß gestreiften Uniformen zu sehen". Gerade in Nigeria lernte sie die Schwesternschaft schätzen. "Ich war weit weg, aber dieses Wissen, dass da ganz viele Menschen sind, zu denen ich gehöre, war unendlich wichtig", erklärt sie. Angebunden fühlte sie sich auch durch die diakonischen Seminare und Fortbildungen, die der Diakonieverein anbietet: zu Fragen der Bibel und zum Gesangbuch, zur Vorbereitung von Andachten, zum Leben und Gestalten der Schwesternschaft im Alltag, zu Burnout, Fasten und Palliativ-Care. "Viele erleben das als Burnout-Prophylaxe", so die Oberin.

Wie sehr dieses Thema den Puls der Zeit trifft, zeigt sich darin, dass kürzlich ein entsprechendes Seminar ausfiel, da es zu wenige Anmeldungen gab. Die Personalnot in Krankenhäusern ist so groß, dass die Schwestern nicht mehr freigestellt werden. Pflegende leiden unter dem Zeitdruck und den hohen körperlichen und psychischen Belastungen. "Es ist schlimm, wie in Deutschland der Pflegeberuf angesehen wird", findet die Weltpräsidentin und erzählt, wie der Vertreter einer Regierungsstelle einmal fragte: "Wieso braucht man einen Realschulabschluss? Pflegen kann doch jeder!" Dabei seien Pflegende keine Assistenz des Arztes, sondern befänden sich auf Augenhöhe mit diesem. Dass sich die fehlende Wertschätzung auch in den Löhnen wieder findet, sieht Horn als ein "riesengroßes Problem": "Das passt nicht zusammen. Aber wie viel will sich die Gesellschaft Gesundheit kosten lassen?", fragt sie.

"Viele Krankenhäuser merken, dass durch eine konfessionelle Gemeinschaft ein anderer Geist im Haus ist. Sie finden, das ist gut fürs Marketing, deshalb leisten sie sich eine Schwesternschaft", sagt Horn. Aber was macht diesen Geist aus? "Ich wünsche mir, dass die Schwestern den Menschen wahrnehmen mit seinen Bedürfnissen. Dass sie nicht nur für geordnete Abläufe und Fachlichkeit sorgen, sondern gucken, welchen Hintergrund jemand hat, Sorge tragen, dass er seine Religion leben kann, egal welche", so Oberin Horn. Auch die Angestellte soll nicht nur als potenzielle Arbeitnehmerin, als Fachkraft gesehen werden, sondern auch als jemand, der ein Umfeld und eine Geschichte hat.

Oberin Doris Horn. Foto: Bernd Roselieb
Oberin Doris Horn. Foto: Bernd Roselieb

In der Schwesternschaft habe es immer Frauen gegeben, die "berufspolitisch" gedacht, sich nicht zufrieden gegeben hätten mit Missständen. Auch an der Novellierung des Krankenpflegegesetzes von 1985 hätten Diakonieschwestern mitgearbeitet, um die christlich-ethischen Maßstäbe einzubringen und ihr Berufsbild, die Eigenständigkeit von Pflege zu vertreten.

Daukonflikt: maximale Effizienz und christliche Pflege

Wie kann man dem zu Pflegenden auch in kurzer Zeit das Gefühl geben, als Mensch wahrgenommen zu werden? "Man kann nicht alles selber machen. Und man muss es auch nicht", sagt Horn. Wenn zu wenige zu viel arbeiten, müsse man überlegen, wen man einbinden kann: den Pfarrer zum Beispiel oder ehrenamtliche Helfer. Im Mülheimer Krankenhaus gibt es zum Beispiel Angestellte, die nur für die Mahlzeiten sorgen und so die Schwestern entlasten. Nun soll eine Stelle geschaffen werden, die nichts anderes tut, als das diakonische Profil und die christliche Ethik in den Häusern sichtbar zu machen. Da geht es um existenzielle Fragen wie den Umgang mit Sterbenden und Schwerstkranken oder Angebote für Angehörige.

In einem neuen Seminar wurde der Dauerkonflikt zwischen maximaler Effizienz und umfassender und christlicher Pflege aufgenommen: "DiakonieCare für Pflegeberufe". Darin lernen die Teilnehmer, wie sie ihren christlichen Hintergrund und Spiritualität als Kraftquelle und Burnout-Prophylaxe nutzen können und schließlich, wie sie mit der fehlenden Zeit umgehen. Oberin Horn sagt klar: "Wir könnten ohne Ehrenamtliche nicht mehr arbeiten. Sie könnten niemals ein Hospiz betreiben ohne Ehrenamtliche. Das geht nicht". Gerade in konfessionellen Häusern gebe es viele freiwillige Helfer.

Über den Tellerrand hinaus

Der Zehlendorfer Diakonieverein ist Träger von zwei staatlich anerkannten Ausbildungseinrichtungen. In fünfzehn an diese Schulen angeschlossenen Krankenhäusern werden junge Menschen ausgebildet: in der Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege oder in der Kinderkrankenpflege. In manchen Krankenhäusern gehören die Auszubildenden mit Beginn der Lehrzeit automatisch zum Diakonieverein, in anderen können sie entscheiden, ob sie das wollen. Es gebe einen Trend bei jungen Leuten, sich bewusst für eine christliche Gemeinschaft zu entscheiden, sagt Horn. Die Ausbildungszahl bleibt seit Jahren konstant, rund 500 Schüler bildet der Diakonieverein zurzeit aus. Einige Auszubildende sind konfessionslos oder anders religiös. Sie müssen den Diakonieverein nach der Lehre allerdings verlassen, sofern sie sich nicht taufen lassen und einer Kirche der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ack) angehören. Wenn sie im Verein verbleiben, können sie, wenn sie wollen, überall eingesetzt werden, wo Bedarf besteht. Neben der fachlichen Ausbildung gehören Seminare über das christliche Selbstverständnis und Menschenbild dazu, wie auch Theaterbesuche, Buchbesprechungen, politische und gesellschaftliche Themen.

Dieses "über den Tellerrand schauen" findet Oberin Horn wichtig. Besonders aber in einem fremden Land zu leben, bringe einen Menschen persönlich weiter. "Man wird viel offener. Am faszinierendsten finde ich, zu erleben, wie Menschen unter ganz anderen Bedingungen arbeiten, und wie unterschiedlich sie ihren Auftrag der Diakonie leben. Und doch gibt es eine gemeinsame Basis", erzählt Horn, die selbst lange gebraucht hat, um das zu lernen. "Für mich gab es als junger Mensch nur eine Richtung, und die war evangelisch-methodistisch. Alles andere war nicht richtig. Ich bin liberaler in meiner christlichen Einstellung geworden, auch dem Islam gegenüber", erzählt sie. Demnächst soll eine Gruppe Auszubildender für vierzehn Tage in das Partnerkrankenhaus in Tansania geschickt werden.

Auf Augenhöhe

Die Welttreffen von DIAKONIA, wie das kommende im Juli in Berlin, sind ein weiterer Ort für Austausch. Unter dem Titel "Heilung und Segen für die Welt - Heilendes Handeln" werden rund fünfhundert Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus ihrer Kultur, sozialpflegerischen Arbeit und ihrer Bildungs- und Entwicklungspolitik berichten, Kontakte knüpfen, Workshops, Vorträge und Podiumsdiskussionen halten und hören und Bibelarbeiten besuchen. Neben dem zentralen Thema sollen sich die Teilnehmer mit weiteren beschäftigen: Menschenhandel, zu dem bereits eine Resolution herausgegeben wurde, die Stellung von Frauen in der Kirche, das Thema der Versöhnung. Dazu gehöre auch der interreligiöse Dialog, die Frage nach eigener Identität und Öffnung.

Diese Frage betrifft auch den Weltbund selbst, der über zehn kirchliche Traditionen vertritt. Wie kann man die Gemeinschaft stärken und das Netzwerk weiter ausbauen? Es sei schwieriger geworden, sagt Horn. Auch finanziell. Die finanziell besser gestellten Gemeinschaften in Europa werden kleiner, die spirituell stärkeren afrikanischen, südamerikanischen und südasiatischen werden größer. Das müsse man zusammen bringen. Die Oberin nennt das eine Herausforderung. Als Präsidentin vertritt sie den Weltbund auf kirchlicher Ebene, besucht Mitglieder, stellt die Kommunikation her zwischen den einzelnen Verbänden, leitet das Exekutivkommitee, reist. "Ich will vor allem ökumenische Verbindungen herstellen. Sich auf Augenhöhe begegnen, sich gegenseitig achten und wertschätzen, das verstehe ich unter Gemeinschaft", so Horn.

Information

Die Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf e.V. wurde 1895 von zehn Schwestern innerhalb des schon bestehenden Vereins gegründet. Mit rund 1900 Schwestern - inklusive pensionierte Schwestern und Schülerinnen - ist sie derzeit die größte in Deutschland. Insgesamt hat der Evangelische Diakonieverein etwa 2200 Mitglieder, die meisten davon in der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege. In den vergangenen Jahren sanken die MItgliederzahlen in Schwesternschaft und Diakonieverein leicht.

Der Zehlendorfer Diakonieverein ist nicht nur Träger der Schwesternschaft, sondern auch mehrerer Einrichtungen: von einem Krankenhaus in Rotenburg an der Fulda, einer Diakoniestation und der Neuen Treberhilfe gGmbH sowie Mitgesellschafter von Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens. Bundesweit arbeitet der Verein in insgesamt achtzig Kliniken, Alten- und Pflegeeinrichtungen, mit denen er sogenannte Gestellungsverträge schließt. Das bedeutet, dass er eigene Schwestern in die jeweilige Einrichtung überstellt, diese haben dort ihren Arbeitsplatz, aber das Dienstverhältnis schließen sie mit dem Diakonieverein, von dem sie auch die Vergütung erhalten. Die Höhe der Vergütung ist dabei identisch mit der der anderen Schwestern in der jeweiligen Einrichtung. Von den anderen Schwestern unterscheiden sich die Diakonieschwestern einzig durch ihre Arbeitskleidung, den grau-weißen Hosenanzug und eine Brosche mit der Diakonierose.

Seit Mitte der Neunziger Jahre öffnete sich der Diakonieverein für alle Menschen, die zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) gehören, auch für Männer. Sie bilden eine Art "Gemeinschaft der Schwestern und Pfleger im Diakonieverein". Zur Schwesternschaft gehören nach wie vor nur evangelische Frauen. Eine neue Öffnung könnte bald anstehen: Seit rund zwei Jahren diskutiert der Verein, ob man auch die Schwesternschaft öffnen sollte für Männer und katholische Frauen hin zu einer großen christlichen Gemeinschaft.

Katharina Lübke

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