Lohnender Schatz

EKD-Orientierungshilfe - Ende der kirchlichen Engherzigkeit
2013 - auch das ist Familie: zwei Lebenspartner und Väter von zwei Kindern. Foto: dpa / Jens Kalaene
2013 - auch das ist Familie: zwei Lebenspartner und Väter von zwei Kindern. Foto: dpa / Jens Kalaene
Die neue EKD-Orientierungshilfe zum familiären Zusammenleben ist eine Einladung an Familien, die evangelische Kirchengemeinde als verlässliche und verändernde Gemeinschaft für sich zu entdecken. Diese Ansicht vertritt Christel Riemann-Hanewinckel, Parlamentarische Staatssekretärin a.D. aus Halle/Saale und Präsidentin der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen.

Für die Evangelische Kirche in Deutschland ist die Familie ein hohes Gut. Das spiegelt sich in verschiedenen Veröffentlichungen. Seit 1990 gibt es vermehrt Texte, Stellungnahmen, Informationen und Orientierungshilfen, die von Kammern oder Kommissionen im Auftrag des Rates verfasst wurden. Im Mittelpunkt der früheren Veröffentlichungen standen die einzelnen Familienmitglieder, wie zum Beispiel "... die Situation und die Befindlichkeit von Frauen in den östlichen Landeskirchen". "Im Alter neu werden können" beschäftigt sich mit der Lage der älteren Generation. Die Situation der Kinder ist das Thema in "Aufwachsen in schwieriger Zeit", "Ihr Väter und Mütter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn!" beschreibt die soziale Lage junger Menschen und die Probleme der Jugendarbeitslosigkeit. Familienpolitische Themen wie die "Beratung im Schwangerschaftskonflikt", das Problem "Homosexualität und Kirche" und "Was Familien brauchen" wurden als Leitlinien für die Kirchengemeinden erarbeitet. In den Neunzigerjahren hatte der Rat der EKD eine Verständigung über ein evangelisches, christliches Leitbild für Ehe und Familie erhofft. Die eingesetzte letzte Familienkammer hatte nach intensiver Arbeit Kinder als konstituierend für die Familie gesehen und immer weniger die Ehe. Sie sprach sich gegen ein verengtes Familienverständnis aus, das letztlich Kinder diskriminiert, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind. In der Stellungnahme "Gottes Gabe und persönliche Verantwortung - Zur ethischen Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie" (1998) stellte die Kammer fest, "... dass Staat und Gesellschaft auch den auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaften, insbesondere wenn sie Kinder haben, Achtung, Schutz, Unterstützung und notwendige Hilfe schulden. Niemand sollte solchen Gemeinschaften streitig machen, dass sie Familien sind." (Seite 39)

Das galt auch für Alleinerziehende, die als Ein-Eltern-Familie besondere Anerkennung und Hilfe brauchen. Die Kammer knüpfte damit auch an die Ergebnisse der achten EKD-Synodaltagung in Halle/Saale 1994 und an ihre Forderung zum Perspektivwechsel an. Diese hatte hervorgehoben, dass "die Basis für die positive Entwicklung von Kindern wesentlich durch die emotionale Verlässlichkeit der Personen im unmittelbaren Umfeld des Kindes bestimmt" wird.

Außerdem dürften "die innerfamiliären Beziehungen ... weder durch geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen noch durch hierarchische oder biologisch begründete Abhängigkeitsverhältnisse bestimmt werden." Nachzulesen in "Aufwachsen in schwieriger Zeit" 1995, Seite 38.

Perspektivwechsel

Der Wechsel der Perspektive wurde gesellschaftspolitisch durch die Neuentwicklung des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes (KJHG) und die Ratifizierung der VN-Kinderrechtekonvention durch die Bundesrepublik Deutschland 1992 vorbereitet. Außerdem fand bis 1994 eine breite Debatte im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat statt. Der Vorschlag für Artikel 6,1 - "Familien und andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften zu fördern und zu schützen, die Ehe zu achten" - bekam zwar in der Kommission eine Mehrheit, aber nicht die notwendigen zwei Drittel der Stimmen zur Veränderung des Grundgesetzes.

Der Rat der EKD konnte 1997 den von der Kammer vorgelegten Text nicht befürworten. Deshalb wurde er als Stellungnahme der Kammer für Ehe und Familie herausgegeben. Im Vorwort für die Stellungnahme "Gottes Gabe und persönliche Verantwortung - Zur ethischen Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie" schrieb der Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD Hermann Barth: "In welcher Weise können Ehe und Familie soziale Leitbilder sein? ... ‚Leitbild‘ wird von vielen als unhistorische normative Größe und damit als Verabsolutierung vorfindlicher Form von Ehe und Familien aufgefasst; ... Es muss kirchlichen Äußerungen noch stärker gelingen, die aus der Bibel und den Bekenntnissen entwickelten Leitbilder so zu präsentieren, dass sie als Wegweiser wahrgenommen und in Anspruch genommen werden. Die Auseinandersetzung um das Verständnis von Ehe und Familie ist noch in vollem Gange." (Seite 9).

Die vorliegende Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" dokumentiert die Fähigkeit zur Veränderung in der evangelischen Kirche. Sie beschreibt aufschlussreich die "Ehegeschichte" in der Bibel und in der Gesellschaft und räumt damit auch Ideologien beiseite. Es wird deutlich, dass Familienleben und die Gestalt der Familie immer auch abhängig ist von historischen, sozialen und politischen Gegebenheiten. Sie informiert über familienrechtliche Aspekte und die Vielfalt der Familienformen. Sie beschreibt Problemlagen, die Politik und Kirche den Familien bereiten und macht den Bedarf an politischen und ideologischen Veränderungen deutlich. Sie stellt die Fähigkeiten und die Leistungen der Familien für unsere Gesellschaft ins Zentrum.

Demokratisierung der Familie

Ein zentraler Punkt ist die Demokratisierung der Familie. "Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird." Dieser Satz gehört nun endlich auch zur Kirchengeschichte! Im laufenden Text wird deutlich, wie die Frauenbewegungen seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zur Geschlechtergerechtigkeit beigetragen haben. Der Weg durch die Institutionen von Kirche und Politik, Diakonie und Gewerkschaft ist lange nicht zu Ende.

Die ungleiche und ungerechte Stellung der Frauen ist noch immer Realität. Frauen verdienen weniger, von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit wird gerade erst angefangen zu reden. Für manche Arbeitsbereiche, etwa in der Pflege, reicht es als Voraussetzung, eine Frau zu sein. Das diskriminiert alle Beteiligten: die professionell Pflegenden, die Pflegebedürftigen, die pflegenden Angehörigen. Kirche und Diakonie sind eigentlich prädestiniert dafür, mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen zu beginnen. Damit akzeptierten wir nicht nur die Orientierungshilfe, sondern vor allem auch die biblische Zusage, Abbilder Gottes zu sein.

Die VN-Konvention für die Belange der Menschen mit Behinderungen gibt einen Perspektivwechsel für alle Bereiche des Lebens vor. Damit wird es Veränderungen vor allem für die Familien geben, in denen betroffene Kinder oder Erwachsene leben. In der Stellungnahme wird die Wirkung auf die Bildung der Kinder reduziert. Bisher wurden die Menschen klassifiziert: nach medizinischen, sozialen, kognitiven Kriterien. Menschen, die der Norm nicht entsprachen, waren Objekte des Handelns und der Fürsorge, auch in Deutschland. Andere haben für sie entschieden, was nach den Vorstellungen der nichtbehinderten Mehrheit und der Fachleute gut, richtig, nicht nötig oder auch nicht verantwortlich für sie schien. Die medizinische oder normative Betrachtung geht vom Defizit eines Menschen aus, das ihn an der Teilhabe in der Gesellschaft hindert. Die VN-Konvention fordert einen vielfältigen Perspektivwechsel: gesellschaftliche Barrieren sind die eigentlichen Behinderungen. Fehlende Gebärdensprache, unzulängliche Verkehrsmittel, Sonderbeschulung, fehlende Fahrstühle und vieles mehr. In der Präambel der Konvention steht: Behinderung entsteht "... aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren." Deshalb geht es nicht nur um den uneingeschränkten Besuch von Regelschulen für Kinder, sondern um eine veränderte Wahrnehmung und anderes Handeln in der Gesellschaft, und damit auch in Kirche und Diakonie. Wir könnten in der evangelischen Kirche den Weg bereiten: weg von der Integration, die Ausgrenzung voraussetzt, hin zur Inklusion; von der Wohlfahrt und Fürsorge zur Selbstbestimmung; vom Objekt zum Subjekt; von den Problemfällen der Gesellschaft zu gleichberechtigten Trägerinnen und Trägern der Menschenrechte.

Leiden an der Verlogenheit

Die theologische Orientierung breitet die Vielfalt biblischer Texte und die Unterschiedlichkeit kirchengeschichtlicher Deutung aus. Breiten Raum nehmen die Geschichten über den Segen ein. "Menschen können sich Liebe und Zukunft versprechen, weil sie selbst in der Erfahrung leben, von Gott gesegnet zu sein. Wird der Segen einem Paar zugesprochen, steht er als Zuspruch der bleibenden Gottesbeziehung über der Bindung dieser beiden." (Seite 44)

Nach den Ausführungen über die Wirkung des Segens für Paare und Familien ist es schwer zu begreifen, wieso die Segnung für homosexuelle Paare und Familien noch immer in der evangelischen Kirche umstritten ist. Haben wir das Recht, Menschen den "Zuspruch der bleibenden Gottesbeziehung" vorzuenthalten? Wer gibt uns das Recht, andere Menschen zu diskriminieren? Geschlechtergerechtigkeit gilt auch für schwule und lesbische Paare und für ihre Familien.

Die Auseinandersetzung mit dem Vorbild einer "christlichen Ehe" ist noch immer in vollem Gange. In Kirchgemeinden, auf den Foren der Kirchentage, in den Elterngruppen der kirchlichen Kindergärten und Schulen, in Jugendgruppen, in den Ehe-, Familien und Erziehungsberatungsstellen wird bis heute über Familie und Partnerschaft, mit oder ohne Trauschein diskutiert. In Deutschland ist die Zahl der Paare, die ohne Trauschein verantwortlich, liebevoll und verlässlich mit ihren Kindern leben und sich als Christen verstehen, gestiegen.

Manche haben aber den "Schoß von Mutter Kirche" verlassen, weil sie sich mit ihrem Lebensentwurf nicht mehr angenommen fühlten. Die Ehe steht für viele so hoch im Kurs, dass sie sich nicht "trauen", aus Angst zu scheitern. Andere leiden an der Verlogenheit der vorausgegangenen Generationen. Manche entdecken in biblischen Geschichten die Vielfalt des gemeinsamen, solidarischen Lebens in früheren Zeiten ohne das bürgerliche Eheinstitut unserer Zeit. Andere wiederum trauen sich gemeinsam, weil sie ihre Liebe und Familie öffentlich vor der Gemeinde segnen lassen wollen. Wieder anderen aber wird dies verwehrt, weil ihre schwule oder lesbische Partnerschaft in unserer Kirche als nicht richtig angesehen wird.

Die neue Orientierungshilfe der EKD räumt auf mit der Spaltung in bessere und schlechtere Familien oder Paare. Die Vielfalt der Familienformen wird ins rechte Licht gerückt. Ihre Leistungen, Hoffnungen, Wünsche, Sorgen und Probleme werden anerkannt, die vielfältigen Fragen und Widersprüchlichkeiten aufgenommen. Die Verfasserinnen und Verfasser der Kommission haben konsequent für die Partei ergriffen, die lieben, solidarisch sind, Verantwortung für Kinder und andere übernehmen und darin auch das Scheitern oder Schuldigwerden riskieren. Denn trotz aller politischen Defizite an Familienleistungen, kirchlicher Engherzigkeit und persönlichen Unwägbarkeiten steht Familie hoch im Kurs.

Die Kommission hat Familie detailliert beschrieben und Veränderungsmöglichkeiten für die Gesellschaft, Politik und Kirche aufgezeigt. Kirchengemeinden haben mit dieser Orientierungshilfe einen "Schatz", mit dem es sich zu beschäftigen lohnt. Sie gibt Informationen und Antworten, aber auch Anstöße zum Weiterfragen und Nachdenken. Es wird aufgeräumt mit der scheinbaren Eindeutigkeit des biblischen Befundes zu "Ehe" und "Familie", die Vielfalt menschlichen Lebens wird in den Mittelpunkt gestellt. Die Orientierungshilfe ist eine Einladung an Familien, die evangelische Gemeinde als verlässliche und verändernde Gemeinschaft für sich zu entdecken.

Christel Riemann-Hanewinckel

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"