Unter die Haut

Über Menschen am Lebensende
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Wie soll sie reagieren, wenn verzweifelte Patienten um Sterbehilfe bitten? Diese immer wieder zu verweigern, gehört zu ihrem Berufsethos. Sie plädiert dafür, die Lebensqualität der Patienten in der letzten Lebenszeit zu fördern und ihnen die Möglichkeit zu einem würdigen Tod zu geben.

Er ist grausam, zerstörerisch und unerbittlich: der Tod. Sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen, gehört zu den letzten Tabus dieser Zeit. Denn auf die Frage, wie jemand sterben möchte, antworten die meisten Menschen: zuhause, ganz plötzlich oder im Schlaf. Dabei weiß man heutzutage, dass dieser Wunsch in seltenen Fällen in Erfüllung geht. Gestorben wird täglich, stündlich, zumeist in Krankenhäusern oder in Pflegeeinrichtungen - 850 000 Menschen sind es im Jahr. Und wer diese Geschichten vom Sterben in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Hand nimmt und liest, spürt förmlich die bohrenden Blicke der Mitreisenden oder den beobachtenden, fast fragenden Blick beim Ausstieg. Was ist das für ein Mensch, der - noch dazu im Hochsommer - Geschichten vom Sterben liest? Lest sie alle, möchte man ihnen nach der Lektüre zurufen.

Doch der Reihe nach: Die Ärztin Petra Anwar behandelt seit fünfzehn Jahren Menschen, bei denen keine Aussicht auf Heilung besteht. Meistens sind sie an Krebs erkrankt oder HIV-positiv. Die Berlinerin Palliativmedizinerin sorgt dafür, dass diese Menschen zuhause in ihren eigenen vier Wänden sterben dürfen. Doch was heißt palliativ? "Wir versuchen nicht, zu heilen, was nicht zu heilen ist, wir lindern Schmerzen und Beschwerden und bemühen uns, den Patienten und ihren Angehörigen Ängste zu nehmen", schreibt Anwar. Sie hat sich einem medizinischen Konzept verschrieben, das erst seit ungefähr drei Jahrzehnten in Deutschland praktiziert wird. Dabei werden nicht nur körperliche Symptome gelindert, sondern auch existentielle Fragen des Krankseins und des Sterbens thematisiert - immer vor dem Hintergrund der individuellen Lebenssituation. Und diese ist jedes Mal eine andere. Die zwölf berührenden Geschichten, die die Medizinerin mit dem Potsdamer Autor und Theaterdramaturgen John von Düffel aufgeschrieben hat, beleuchten diese Unterschiedlichkeit auf eindrucksvolle Weise.

Da ist Herr Helling, der so viel Lebensfreude und Freundlichkeit ausstrahlt. Und der noch einmal für eine Woche an die Ostsee fährt. Oder Mehmet Bozkurt, der Jahrzehnte in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und hier mit seinen Kindern und Enkelkindern lebt. Er konfrontiert seine Familie damit, zu Hause sterben zu wollen, also in der Türkei. Und die 34-jährige Claudia, Mutter einer dreizehnjährigen Tochter. Heilung aussichtslos, der Krebs hatte sich schon zu weit in ihrem Körper ausgebreitet. Sie findet Unterstützung und Hilfe in der Familie ihres Bruders. So unterschiedlich die porträtierten Leben, so unterschiedlich auch zum Lebensende hin ihre Wege in den Tod. Und natürlich ergreifen sie den Lesenden, lassen ihn traurig werden, schließlich geht es immer um den Abschied geliebter Menschen. Doch Anwar und Düffel gelingt es, ihre Geschichten menschlich ergreifend, berührend, nie effekthascherisch oder kitschig zu erzählen. Die Medizinerin will aufklären, nicht verharmlosen. Klar und mit einfachen Worten formuliert sie auch ihre Selbstzweifel und beschreibt Situationen, in denen sie an ihre Grenzen kommt. Schließlich muss sie als Ärztin auf manchem schmalen Grat balancieren. Wie soll sie reagieren, wenn verzweifelte Patienten um Sterbehilfe bitten? Diese immer wieder zu verweigern, gehört zu ihrem Berufsethos. Sie plädiert dafür, die Lebensqualität der Patienten in der letzten Lebenszeit zu fördern und ihnen die Möglichkeit zu einem würdigen Tod zu geben. Diese Geschichten in ihrer schonungslosen Offenheit strahlen die Zuversicht aus, dass man auch aussichtslose Situationen meistern kann: Nicht wegsehen, sondern sich dem Unvorstellbaren stellen.

Petra Anwar/John von Düffel: Geschichten vom Sterben. Piper Verlag, München 2013, 238 Seiten, Euro 19,99.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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