Alternativen zu Tafeln gesucht

Von der "Lebensmittelrettung" zur ernsthaften Armutsbekämpfung
Foto: privat
Das Ziel sollte eine Gesellschaft sein, die Tafeln nicht weiterhin bedingungslos voraussetzt. Gesucht werden politische Alternativen, die grundlegend ansetzen, und zu einer Neujustierung des Sozialen führen. Dazu braucht es eine positiv besetzte Ikone für soziale Gerechtigkeit.

Seit Einführung der Agenda 2010 boomen die Tafeln, die sich sogar als Marke schützen ließen. Sie setzen Machtansprüche um, indem sie juristisch gegen ebenso hilfsbereite Konkurrenten vorgehen. Gestützt auf Exklusivverträge mit Sponsoren dominieren sie das Feld des privatisierten Armutsmanagements. Um ihren Markenwert zu steigern, inszenieren sie Pseudoereignisse (zum Beispiel Lebensmittelwetten mit prominenten Politikern). Sie operieren nach marktförmigen Expansionslogiken und erstellen "Wirkungsbilanzen" wie gewinnorientierte Unternehmen.

Das Bild des Planeten Erde, aufgenommen von der Apollo-17-Besatzung, wurde zur positiv besetzten Ikone der Umweltbewegung. Das Bild von Menschen, die vor Tafeln Schlange stehen, wurde in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer negativ besetzen Ikone einer Gesellschaft, die ein vormodernes Almosensystem institutionalisiert. Tafeln sind zum System geworden, das nach den Kriterien Eigeninteresse, Eigendynamik und Eigenlob funktioniert. Wer sagt, dass Tafeln notwendig sind, der meint: Wir haben uns als sozial gerechte Gesellschaft aufgegeben.

Die Debatte über Tafeln hat eine Schieflage, denn es gibt zwei sich widersprechende Perspektiven: Die dominante Sichtweise der Tafelbefürworter stellt das ad-hoc-Helfen in den Mittelpunkt. Nicht selten erkennen Politiker (wie Katrin Göring-Eckart) in Tafeln "soziale Utopien". Schirmherrinnen (wie Kristina Schröder) sehen darin die Bestätigung von "Engagementpolitik" und neuem "Freiwilligenmanagement".

Leider besitzen Tafeln die ihnen zugeschriebene Problemlösungskompetenz nicht wirklich. "Lebensmittelrettung" verändert nichts an den Ursachen von Armut. Es ist heute lediglich einfacher, öffentliche Sympathie für Armutslinderung zu erhalten, als politische Legitimation für nachhaltige Armutsbekämpfung.

Ganz anders die Sichtweise der Tafelnutzer, die euphemistisch als "Kunden" oder "Gäste" bezeichnet werden. In ihren Selbstbeschreibungen tauchen Begriffe auf, die verdeutlichen, dass das bei Tafeln Erhaltene das dort Erfahrene nicht aufwiegt. "Beim Weg zur Tafel geht der aufrechte Gang verloren. Es fühlt sich an, als ob wir das Letzte wären. ... Wir fühlen uns als minderwertiger Mensch" (Zitat aus "Schamland"). Tafeln sind nicht nur soziale Platzanweiser, sie sind inzwischen zur Metapher kollektiver Abstiegsängste geworden.

Rund die Hälfte der Tafeln befindet sich in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände. Deren Positionspapiere zu Tafeln zeugen von Ambivalenz. "Zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit" - das sind Titel, die vom Bemühen künden, es allen Recht zu machen. Aber "zwischen" Barmherzigkeit und Gerechtigkeit befindet sich nur das Unbestimmte, nicht jedoch die Abschaffung von Armut mitten im Reichtum.

Wir haben uns angewöhnt, das Soziale als Kostenfaktor zu sehen. Wir übersehen, dass gelungene soziale Sicherung auch motivierte, loyale und engagierte Bürger hervorbringt. Fremdbestimmte Abhängigkeit hingegen erzeugt Demotivation, Resignation und Demokratieferne. Wenn die Kirchen ein Alleinstellungsmerkmal im Umgang mit Tafeln suchen, dann könnten sie es in der Weigerung finden, das Ökonomische zum Leitbild von Sozialpolitik zu machen. Dafür gibt es ein zentrales Argument: Der Markt ist immer noch in der Welt. Damit lässt er sich nach unseren Kriterien verändern. Wer aber akzeptiert, dass die Welt im Markt ist, der nimmt Sachzwänge hin, die veränderbar sind.

In der gegenwärtigen Debatte gibt es eine Bandbreite an Alternativvorschlägen. Sie reichen von Mini-Reformen bis zu Systemkritik. Am liebsten wird jedoch über alternative Tafeln nachgedacht. Dabei geht es primär um die Ausweitung des Angebots, die Erschließung neuer Zielgruppen sowie um Qualitätssteigerung. Jede Suche nach Alternativen aber, die dabei ansetzt, Tafeln zu optimieren, normalisiert das System ein Stück mehr und reduziert den Handlungsdruck, sich ernsthaft mit Armutsbekämpfung zu befassen.

Es geht nicht darum, Tafeln abzuschaffen, sondern Tafeln als institutionalisiertem System die Legitimation zu entziehen. Das Ziel sollte eine Gesellschaft sein, die Tafeln nicht weiterhin bedingungslos voraussetzt. Gesucht werden politische Alternativen, die grundlegend ansetzen, und zu einer Neujustierung des Sozialen führen. Dazu braucht es eine positiv besetzte Ikone für soziale Gerechtigkeit. Denn der Gedanke an eine gerechte Welt wird umso wichtiger, je mehr die Tatsachen dagegen sprechen.

Prof. Dr. Stefan Selke ist Soziologe an der Hochschule Furtwangen. Er ist Mitbegründer des "Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln".

Literatur

Stefan Selke: Schamland. Die Armut mitten unter uns. econ-Verlag, Berlin 2013, 288 Seiten, Euro 13,-.

Stefan Selke

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