Der doppelte von Rad

zeitzeichen-Serie (VII): Ein Sprint durch die Theologie der Siebziger- und Achtzigerjahre
Louvre 1989: Hängung des Gemäldes „Die Rückkehr des Tobias“ von Eustache Le Sueur. Tobias ist der Patron der Pilger und der Reisenden, aber auch der Augenleidenden. Foto: akg-images / cda / Guillemot
Louvre 1989: Hängung des Gemäldes „Die Rückkehr des Tobias“ von Eustache Le Sueur. Tobias ist der Patron der Pilger und der Reisenden, aber auch der Augenleidenden. Foto: akg-images / cda / Guillemot
Hie eine geschichtseuphorische, auf einem konsistenten Wahrheitsbegriff bestehende Theologie, dort der Entspannung verheißende Weg zu einer Theologie der unteilbaren Weisheit? Ohne sich zu diesem Dualismus zu versteigen, macht Klaas Huizing, Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg, zwei Strömungen in der Nach-68er-Theologie aus, die er auf einen Stammvater zurückführt: Gerhard von Rad.

Nachdem endlich der tausendjährige Muff unter den Talaren post ’68 gelüftet worden war und sich der olfaktorische Schauder verzogen hatte, nachdem die Theologie wissenschaftstheoretisch wieder ernst genommen wurde, nachdem sich der Protestantismus in Maßen revolutionär gab, nachdem Karl Barth in Tübingen eine Urbanisierung durchlief, blieb, nach so viel Aufbruch, die prophezeite Gegenbewegung der mentalen Entschleunigung und Verkarstung zunächst aus, weder schlug die Zeit der braven Archivare noch die Zeit der Weltflüchter und Abstinenzler. Offenbar hatte der Weltgeist keine protestantische Angestellten-Theologie vorgesehen, vielmehr prägte in den Siebzigern weiterhin das hell leuchtende Dreigestirn Pannenberg, Moltmann und Jüngel die theologische Debatte. Deren Anschubfinanzierung bestand gar nicht so sehr, wie immer wieder behauptet, in Anleihen aus der Philosophie (bei Pannenberg die philosophische Anthropologie und Wissenschaftstheorie, bei Moltmann die Philosophie Ernst Blochs, bei Jüngel die Existentialontologie Martin Heideggers), vielmehr war es die extrem wirkmächtige "Theologie des Alten Testaments" von Gerhard von Rad, von dem her das Dreigestirn das Licht bezog.

Belastbarer Wahrheitsbegriff

Es war die Geschichtseuphorie seiner Theologie, die, mit den Geschichtsbildern von Hegel (und in Diätrationen mit Marx) unterfüttert, Programme auf die Tagesordnung setzte wie "Offenbarung als Geschichte" (Pannenberg, 1961), "Theologie der Hoffnung" (Moltmann, 1964), "Gottes Sein ist im Werden" (Jüngel, 1965). Mit Schwielen an den Fingern und ein calvinistisches Arbeitsethos klaglos umsetzend, haben diese drei Meisterdenker an ihren Entwürfen weiter gebaut. Alle drei beharrten dabei auf einen belastbaren, aus heutiger Sicht übertrieben aufgeladenen Wahrheitsbegriff, der auch deshalb aufgeboten wurde, um dem vermeintlich ausufernden Atheismus des Zeitalters begegnen zu können - im Theaterhimmel saß noch immer Feuerbach oben, ohne Lust, die Diskursregie aus der Hand zu geben.

Heute, im nachmetaphysischen Zeitalter, nach der Kritik am Objektivismus durch Dekonstruktivismus, Konstruktivismus und Poststrukturalismus, wird man diesen mit Nachdruck vorgetragenen Wahrheitsbegriff noch einmal auf die hermeneutische Sonnenbank legen müssen. Für viele Theologen meiner Generation ist Feuerbach nicht mehr der theologische Erzfeind, sondern längst ein auf Konsens gestimmter Freund.

Herkules Moltmann

Vollends problematisch ist heute ein derart theologisch favorisierter Wahrheitsbegriff, wenn er ungebrochen eine Theorie geschichtlicher Selbstoffenbarung Gottes stützen soll. Ironischerweise waren es just die alttestamentlichen Wissenschaften, die, freundlich aber stetig zunehmend, von der Archäologie und der Literaturwissenschaft genötigt, die Fiktionalität vieler biblischer Geschichten, von Noah über Abraham und den übrigen Erzvätern bis hin zu König David und zahlreichen Propheten, bejahten. Auch wenn man nicht, wie der "New Criticism", umstandslos von einer intentionalen, also willentlichen Fiktionalität der biblischen Schriftsteller ausgehen muss, Projekte wie eine "Geschichte Israels" werden dabei ebenso schwierig (wenn nicht unmöglich) wie eine Theologie der Offenbarung als Geschichte. Die begrifflichen Armaturen auch der Schülergeneration Moltmanns und Pannenbergs sind nur mit großer Anstrengung in der Lage, diese seitdem klaffende argumentative Lücke provisorisch zu schließen. Biblische Texte sind eben keine Dokumente, denen eine philosophisch-historische Hermeneutik zu Leibe rücken kann. Als deutlich weniger angreifbar erwies sich das Story-Konzept des Heidelberger Systematikers Dietrich Ritschl: "Story" als Rohmaterial der Theologie (1976).

Moltmanns Theologie der Hoffnung bleibt gleichwohl bis heute ein Solitär, weil kein theologisches Opus Magnum nach dem zweiten Weltkrieg so evident demonstrieren konnte, wie ein Buch, entriegelt aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaften, Welt verändert und verbessert. Diese herkulische Kraft hat Moltmann leider Neid und Missgunst bei den Gralshütern der Wissenschaft eingetragen. Moltmanns spätere Bücher, reformiert im besten Sinne, arbeiten erfolgreich daran, in den Ruhmesraum, auch der Alma Mater, zurückzukehren. Den zu erreichen, wurde einer Wahlverwandten Moltmanns, wissenschaftsgenetisch eher Bultmann zuzurechnen, nahezu vollständig verwehrt: Dorothee Sölle. Radikal auch im Sinne der Entmythologisierung, stellte sie den als bürgerlich verketzerten Theologien ein befreiungstheologisches Denkmodell gegenüber ("Gott denken", 1990). Noch in Luthers berühmter, aus Verzweiflung gespeisten Frage, wie bekomme ich einen gnädigen Gott, entzifferte Sölle einen latenten Heilsegoismus, nur konsequent, wenn sie sich in der letzten großen Arbeit "Mystik und Widerstand" (1997) auf eine Mystik besann, die die angestrebte Ichlosigkeit mit einem Widerstand gegen die Ökonomisierung des alltäglichen Lebens verband. Eine nicht ganz einfache Synthese.

Urbaner Gott

An Jüngels Theologie, dessen hermeneutisch gewendete Arbeiten am besten für neue Diskurse anschlussfähig bleiben, imponiert mir bis heute, dass er die Theologie in einem positiv grundierten Staunen verankert, sofern es denn gelingt, Erfahrungen mit der lebensweltlichen Erfahrung zu machen. Mehr oder minder willig hat sich bei den Kollegen der Vorschlag Jüngels durchgesetzt, anhand des Begriffs der Liebe alle traditionellen Eigenschaftsprädikate Gottes, von der Allmacht bis zur Allgegenwart, zu reformulieren, auch Gott ist, trotz Jüngels Vorliebe für das Wort "Geheimnis", urbaner (und damit auch ein bisschen langweiliger) geworden.

Meine These lautet: Die Geschichtseuphoriker adaptierten nur den halben von Rad für die Systematische Theologie. Von Rad ist der Übervater der Theologie in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, aber genau deshalb, weil er im Spätwerk Weisheit in Israel (1970) eine ganz andere Theologie favorisierte, die seit den späten Achtzigern auch in der Systematischen Theologie Wegmarken setzte. Unter der voltstarken Leselampe entdeckte der greise von Rad eine ganz andere Körnung in den weisheitlichen Texten und sprach, um sich ein für alle Mal von Karl Barth zu befreien, jetzt von der "Selbstoffenbarung der Schöpfung" - so wurde er zum Retter der natürlichen Theologie, die Barth verwarf, und zum Begründer einer Weisheitsphänomenologie. Weil die Weisheit unteilbar ist, kann deshalb auch nicht ernsthaft länger von einer Aufteilung in Erfahrungswissen und Offenbarungswissen geredet werden. Von Rads Aufmerksamkeitsschulung für die verschwenderische Sprachregie der Weisheitssprüche und der Weisheitserzählung, gerahmt von der erotisch aufgeladenen Selbstvorstellung der Frau Weisheit, führte zu einer ganz anderen Wahrnehmung biblischer Textstruktur. Von Rads Lieblingsschüler Hermann Timm übersetzte diese Intuition in eine mehrbändige "Phänomenologie des Heiligen Geistes" (1985?f.), und schon sein Essayband "Zwischenfälle" (1983) zog die Konsequenzen aus der Reformulierung des Offenbarungsbegriffs.

Ästhetische Theologie

Gleichsam von außen bekam die Rede von der Selbstoffenbarung der Schöpfung zusätzlich eine beeindruckende Evidenz: Die Bilder, die die Nasa-Astronauten als Götterreisende von ihren Trips in die Wüste des Universums heimbrachten, zeigten eine sich gleichermaßen als erhaben und schön präsentierende Erde, die, so der kategorische Bildimperativ, bewahrt werden müsse. Die Synopse von Radscher Weisheitstheologie und Nasa-Bildtheologie machte aus den Achtzigern ein grün-ästhetisches Jahrzehnt. Dieser Hype, der eine lange vernachlässigte und verwahrloste Schöpfungstheologie und Umweltethik auf den Plan rief, einer ästhetischen Grundierung der Ethik vorarbeitete und eine "Ästhetische Theologie" überhaupt vorantrieb, hält bis heute an. Das jüngste Gericht auf dem Speisezettel der Systematischen Theologie heißt: "Sapientiale", also "weisheitliche Theologie".

Vielleicht hat auch die durch von Rads späte Texte erschlossene Weisheitstheologie unterschwellig den Weg geöffnet für eine "Ethische Theologie", die der Aufgabe selbstständiger Lebensführung gerecht wird. Trutz Rendtorff, der zunächst zu den Gründungsmitgliedern im Kreis "Offenbarung als Geschichte" gehörte, legte 1980 und 1981 seine in zwei Bänden konzipierte Ethik vor, die in den drei unlösbar zusammenhängenden Grundelementen von "Gegebensein des Lebens", "Geben des Lebens", "Reflexivität des Lebens" eine elementare Explikation der aufgegebenen Lebensführung präsentiert. Diese Ethik zeigt sich auch in ihren Konkretionen als sehr robust und zählt heute zu den Klassikern protestantischer Ethik.

Performanz

Selbstredend hat es auch von der von Radschen Theologie lose entflochtene Entwürfe von Rang gegeben. Dazu zählen fraglos die Arbeiten Falk Wagners, eines umgeschulten Pannenberg-Jüngers, der die Theologie durch Audienzen beim Weltgeist retten wollte. Der früh verstorbene Falk Wagner gehörte zu den besten analytischen Köpfen der Zunft, er hat die Krise der protestantischen Theologie in der Moderne, die auch immer eine Krise des Schriftprinzips war, am konsequentesten durchdacht, eine wegweisende, den Geist der Soziologie verströmende Studie "Gott oder Geld?" (1985) und eine monumentale Studie "Was ist Religion?" (1986) auf den Weg gebracht, aber seine angedachte Heirat zwischen einer Theorie des Absoluten und dem christlichen Gottesbegriff erwies sich letztlich als Mesalliance. Die frühen Theoriestücke haben sich nicht in einen einheitlichen Korpus einfügen lassen. In seinen letzten christologischen Entwürfen greift er, milde und sedentär geworden, zurück auf das Denken Paul Tillichs.

Wurde das Stichwort der "Performanz" in den Neunzigern, importiert etwa aus der Theaterwissenschaft, zu einem Schlüsselbegriff, der sowohl in den biblischen Fächern als auch in der Praktischen Theologie schnell heimisch wurde, dann darf Oswald Bayer für sich beanspruchen, die Idee, die hinter diesem Begriff steht, bereits sehr viel früher für die Theologie fruchtbar gemacht zu haben. Seine zwei Helden Martin Luther und Johann Georg Hamann - seine Monographie "Zeitgenosse im Widerspruch" (1988) erobert für Hamann einen Stammplatz in der Theologie - stehen für die Wirksamkeit, das Handeln oder eben die Performanz des Wortes (verbum efficax). Ob der von Bayer zuweilen desinfizierte und um seine herrlichen Zoten gereinigte und auf Luther-Linie getrimmte Hamann wirklich als der Prototyp des Antimodernismus und Kritiker theologischer Subjektivitätstheorie, die im Protestantismus bekanntlich viele Anhänger hat, herhalten kann, ist allerdings sehr die Frage.

Modernitätstauglich

Im Resonanzraum des amerikanischen Pragmatismus eines William James hat Eilert Herms - 1979 erschien seine Übersetzung von James’ "Die Vielfalt religiöser Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit" - die Theologie modernitätstauglich gemacht: "Theologie, eine Erfahrungswissenschaft" (1978) hieß sein Einsatz, um danach, Schleiermacher und Luther gleichermaßen hofierend, das kategoriale Wirklichkeitsverständnis christlichen Glaubens auszuloten. Symtheologisierend mit seinem Freund Winfried Härle, der ein denkstarkes Lehrbuch zur "Dogmatik" (1995) vorlegte, gelang es ihm, den oft abständigen Offenbarungs- und Gewissheitsbegriff zu erden. Eine neuere Dogmatik als Opus Magnum ist angekündigt, steht aber noch aus.

Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai lässt in seinem Roman "Sebaldus Nothanker" einen Protagonisten hübsch ironisch sagen: "‚Also‘, rief der Prediger mit einem spöttischen Lächeln aus, ‚wollen Sie erst neue Wege zur Wahrheit bahnen? Sie kommen zu spät mein lieber Herr! Der Weg ist schon gebahnt; er heißt die Bibel. (...) Ich will Ihnen unsere ältern Theologen zu lesen geben. (...) Sie werden darin, zu Ihrer Verwunderung, alle Streitfragen längst erörtert, alle Zweifel längst bestimmt, und all die neuen Meinungen längst widerlegt finden.‘ Hiermit stand er auf, das süße Lächeln der Selbstzufriedenheit auf den Lippen."

Ich hätte da schon noch die eine oder andere klitzekleine Frage.

Klaas Huizing

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"