Fieberträume

Wire: "Change Becomes Us"
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Die englische Band Wire kehrt mit "Change Becomes Us" zur eigenen Jugend zurück, indem sie nun Song- und Soundideen aus jener Zeit ausarbeitet. Dreizehn souveräne Stücke zwischen wüst hereinbrechender Punkzerstörung, elegischer Meditation und postapokalyptischer Rundreise.

Fieberträume gehören mitunter zu den intensivsten Kindheitserinnerungen. Mit der Musik, die uns begleitet hat, als wir jünger waren und uns erwuchsen, ist’s ähnlich: Erinnerungsspeicher zwischen Vorbewusstem und Parallelwelt, tief abgelagert und prägend, die wir, wenn sie mit schwerem Lavendelduft wiederkehrt, getrost weiter im Unerklärten belassen können. Doch können wir auch versuchen sie ins Beleuchtete zu holen, ähnlich wie es die Psychoanalyse tut.

Die englische Band Wire kehrt mit "Change Becomes Us" zur eigenen Jugend zurück, indem sie nun Song- und Soundideen aus jener Zeit ausarbeitet. Wir erinnern uns: Als der Punkrock 1976 London erobert, gründen dort Colin Newman, Graham Lewis, Robert Grey und Bruce Gilbert (für ihn nun Matthew Simms) Wire, die man heute zu den einflussreichsten Bands der 70er und 80er zählt. Gleich mit zwei Stücken waren sie auf dem legendären Live-Punkrock-Sampler "The Roxy London WC2" dabei, dem rüden "12XU" und dem für das Umfeld seltsam in die Breite verschleppten "Lowdown", was zeigte, wohin die Reise ging: Wire waren bereits Post-Punk, als der noch nicht mal richtig bei sich war. Schwere, oft dramatisierende Gitarrenklänge, die teils punkmäßig preschen konnten, der unerbittliche Bass und der insistierende Gesang, oft voll schmerzhafter Beobachtung, doch nie melancholisch, in flächigen Soundstrukturen machten sie aus. Die ersten Alben "Pink Flag", "Missing Chairs" und "154" waren monolithische Manifestation dieser Eigenständigkeit. Schonungslos, oft rauh, dabei ohne Scheu vor sphärischer Dichte bis ins Lyrische - wir staunten und vergaßen nie. Dort knüpfen die nun (bis auf Simms) alle um die 60-Jährigen mit "Change Becomes Us" an.

Dreizehn souveräne Stücke zwischen wüst hereinbrechender Punkzerstörung ("Adore Your Island"), elegischer Meditation ("B/W Silence") und postapokalyptischer Rundreise ("Time Lock Frog"): schlicht metallisches Schlagwerk und hypnotischer Basslauf, über die sich sanft lockender Gesang und Synthie- und Gitarrensounds wölben. Simpel die Einzelteile, im Ganzen pfiffig, eine intensive Erfahrung. Modern, selbstbewusst, urban, ohne Lamento, dringend und drängend zwar, auch deutlich, doch dabei nie existentiell, vielmehr abgeklärt, trotzdem nicht kühl. Ein Herz, das spürbar schlägt und doch schwer zu lokalisieren ist. So wie erinnerte Fieberträume der Kindheit nicht selten einen alten, sehr jungen und darum kräftigen Schrecken von Sturz und Haltlosigkeit enthalten, von Ängstigung, die zu bannen wiederkehrende Mühe ist.

Doch wo Schrecken Gestalt gewinnt, bannt ihn jene nicht nur, sondern gibt noch etwas über Klarsicht, Trost und Erleichterung hinaus. Vielleicht Genuss - was ja schon dicht an Größe ist. Change becomes us? So oder so.

Wire - Change Becomes Us. Pink Flag/Cargo 2013.

Udo Feist

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