"Ich heule nur manchmal"

Helga Bartels-Kruse wählte den Freitod mithilfe einer Sterbehilfeorganisation
Rudolf Wacker: „Puppe mit Streichholzschachtel", 1930. Foto: akg-images
Rudolf Wacker: „Puppe mit Streichholzschachtel", 1930. Foto: akg-images
Eine 86-Jährige, noch mitten im Leben stehend, von einer tückischen Krebserkrankung heimgesucht, stand vor der traurigen Wahl, das drohende Siechtum zu akzeptieren oder freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Michael Hollenbach, freier Journalist in Hannover, schildert den Fall.

Helga Bartels-Kruse will sterben. Würdevoll sitzt die alte Dame auf dem Sofa in ihrer Wohnung in Hannover und erzählt von ihrem Krebs. Vor zwei Jahren erkrankte sie an Brustkrebs und wurde operiert. Die Krankheit schien unter Kontrolle. Vor zwei Monaten bekam die 86-Jährige dann heftige Rückenschmerzen. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte Metastasen in der Wirbelsäule, der Leber, den Knochen. Die Mediziner schlugen ihr eine Chemotherapie und Bestrahlungen vor. "Das wollte ich aber nicht, weil das die Sache nur weiter hinauszögert. Das kann die Krankheit ja nicht beseitigen." Allen ist klar: Es gibt keine Heilungschancen.

Die Schmerzen werden heftiger; Helga Bartels-Kruse erhält Morphium. Und sie ruft bei dem Sterbehilfeverein DIGNITAS an, bei dem sie schon seit einigen Jahren Mitglied ist. Sie will in der Schweiz sterben. "Einem Leben in Schmerzen und Siechtum ziehe ich das vor. Und deswegen möchte ich in die Schweiz, damit man mir das Siechtum ersparen kann." Sie schickt ihre medizinischen Unterlagen zu DIGNITAS. Der Verein prüft, ob schwerwiegende Gründe vorliegen für einen "begleiteten Freitod", wie DIGNITAS die Hilfe beim Sterben nennt. Wenige Wochen später kommt die Antwort. Helga Bartels-Kruse hat die Zusage. Aufgrund ihrer ausweglosen gesundheitlichen Situation dürfe sie kommen.

Die eigene Trauerfeier

Die 86-Jährige steht noch mitten im Leben. Sie engagiert sich in ihrem Viertel in der hannoverschen Altstadt, in einer Bürgerinitiative. "Ich habe mit meiner Freundin noch so einiges vor. Wir kämpfen noch um einen Freizeithof hier gegenüber. Man hat das Gefühl, dass man noch zu was nütze ist."

Auf dem alten Schulhof auf der anderen Straßenseite will die Stadt neue Häuser hochziehen; doch Helga Bartels-Kruse und ihre Mitstreiter setzen sich für einen Treffpunkt ein, für ein Begegnungszentrum für Jung und Alt. Ob die Bürgerinitiative ihr Ziel erreichen wird, das wird sie nun nicht mehr miterleben. Von ihren Freundinnen hat sie sich bereits verabschiedet. Mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken. "Die anderen hatten das Gefühl, das müsste nun furchtbar traurig werden. Das war es aber nicht. Wir haben uns so unterhalten wie immer, wir haben uns von unseren Reisen erzählt. Das soll auch nicht traurig sein, das will ich nicht."

Nur wenigen hat sie konkret erzählt, wann sie in die Schweiz fahren wird, um dort ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die eigene Trauerfeier hat sie schon geplant. Sie werde noch eine Rede schreiben, die dann eine Freundin vorlese. "Und dann sollen die nicht: ‚Harre meiner Seele‘ singen, die sollen lieber ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘ oder was anderes singen. Fröhlich sein."

Helga Bartels-Kruse wirkt wesentlich jünger als sie ist. Sie trägt große Ohrringe, ist elegant gekleidet. Ihr letzter Wunsch lautet: Sie möchte in Würde sterben. Zum Sterben in ein Hospiz gehen, das sei für sie keine Option. Sie wisse ja nicht, wie lange das Sterben dauern werde. Ihre Befürchtung: "Im Hospiz nehmen die einen ja auch nicht ein halbes Jahr auf, sondern da wird man nur kurzfristig aufgenommen und wieder nach Haus geschickt." Und sie wisse auch nicht, wie sie mit den starken Medikamenten weiter zurechtkomme. Ihr werde oft übel von den Tabletten. "Ich habe versucht, die Tablettendosis etwas zu reduzieren, dann hatte ich wieder Schmerzen. Ich hätte Angst davor, dass die Beschwerden schlimmer werden, und dass man mir trotz Morphium nicht alles ersparen kann."

Ein Abgang mit Würde

Helga Bartels-Kruse wünscht sich Hilfe beim Sterben. Doch was juristisch und ethisch an Hilfe erlaubt ist, wenn ein Mensch unheilbar erkrankt ist und dem Tod entgegenblickt, das ist umstritten. Ist es nur die ärztliche Begleitung mit Schmerzmitteln, die Palliativmedizin? Ist Hilfe beim Sterben die Versorgung im Hospiz? Oder ist es auch - wenn ein Mensch nicht mehr leben will - die Begleitung und Unterstützung beim Suizid?

Die Frau aus Hannover hat diese Frage für sich längst entschieden. Sie wird in die Schweiz fahren und hat nun ihr eigenes Todesdatum erfahren: Es soll der 8. November sein. "Es wäre natürlich schöner, wenn man das hier machen könnte, aber leider geht das in Deutschland nicht." Nun kommen der alten Dame, die so bemüht ist, Haltung zu bewahren, die Tränen. Sie kann nicht weitersprechen. Die sonst so gefasste Frau, die sich von ihrer Wohnung, ihren Freundinnen, ihrem Leben verabschiedet hat, muss erst einmal weinen. "Ich heule nur manchmal. Ich kann eigentlich gut darüber reden." Sie hat sich ganz bewusst von ihrem Leben, von vielen Dingen, die ihr wichtig waren, verabschiedet. Eine alte Standuhr, an der viele Erinnerungen hingen, hat sie einer Freundin geschenkt. Das Zeitungs-Abo hat sie zum 8. November gekündigt; ebenso ihr Konto bei der Bank. Sie möchte alles geregelt haben, bevor sie geht. Kein Abgang aus Panik, aus Verzweiflung, sondern mit Würde - das ist ihr Credo.

Fahrt ins Ungewisse

Die 86-Jährige war früher Sekretärin eines Chefarztes, später hat sie ein Referat im Sozialamt geleitet. Ihr früherer Ehemann, von dem sie sich vor vielen Jahren scheiden ließ, ist schon länger tot. Sie lebt allein. Zu ihren Neffen, die weiter weg wohnen, hat sie keinen Kontakt. Aber sie hat viele Freundinnen. "Wenn ich Familie hätte, dann würde ich doch vielleicht erst mal versuchen, noch zu Hause zu bleiben und gepflegt zu werden." Aber diese Pflege möchte sie weder ihren Freundinnen noch einem Pflegedienst zumuten.

Sie weiß, dass ihre, die evangelische, Kirche sich gegen den assistierten Suizid wendet und stattdessen auf die Hospizdienste verweist. Diese Haltung könne sie nicht nachvollziehen, sagt sie. "Die Kirche kann einem ja bei den Schmerzen dann auch nicht helfen. Die wollen die Menschen zwingen, bis zum letzten Moment in Schmerzen auszuharren. Das ist doch unmenschlich."

Es ist der 7. November. Helga Bartels-Kruse ist in der Schweiz angekommen. Sie sitzt in einem Café am Zürichsee - zusammen mit einem Sterbebegleiter von DIGNITAS und ihrer Freundin. Das Wetter ist für einen Novembertag angenehm: kühl, aber die Sonne glitzert auf dem See. Helga Bartels-Kruse bestellt sich eine Suppe. Äußerlich wirkt sie sehr gelassen, sie erzählt sogar noch einen Witz. Am Tag zuvor ist sie gemeinsam mit ihrer Freundin und dem DIGNITAS-Begleiter Hans von Möhlmann aus Hannover gekommen. "Bis gestern Morgen war es mir noch wie eine Fahrt ins Ungewisse. Das fand ich sehr unangenehm", sagt ihre Freundin, die anonym bleiben möchte. "Aber jetzt kommt es mir so vor, als hätten wir noch mal eine Reise zusammen gemacht." Eine Reise in den Tod, zum assistierten Suizid. Das sei aber nichts Illegales, betont der Sterbehelfer Hans von Möhlmann. Dennoch hat ihre Freundin ein etwas mulmiges Gefühl; als wenn sie sich beim assistierten Suizid in einer rechtlichen Grauzone bewege. Aber sie sagt auch: "Ich würde es trotzdem machen, auch wenn es nicht erlaubt wäre."

Das schreckliche Leiden abkürzen

Am Vorabend hatte Helga Bartels-Kruse noch einen Arzttermin in der Nähe von Zürich. Das ist in der Schweiz gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings kein Besuch beim Amtsarzt, sondern bei einem Mediziner, der mit dem Sterbehilfeverein DIGNITAS zusammenarbeitet. Der Arzt habe ihr gut gefallen. Er habe sie noch einmal in aller Deutlichkeit über ihren Krebs aufgeklärt. "Er hat mich bestätigt in meinem Empfinden, dass die Krankheit unabänderlich ist, dass ich schrecklichen Leiden entgegengehen würde, wenn ich das jetzt nicht mit Hilfe von DIGNITAS abkürzen könnte." Der Arzt habe ihr erklärt, dass die Metastasen in der Wirbelsäule zu schweren Lähmungen führen könnten. "Jetzt sind meine Zweifel völlig ausgeräumt." Doch das heißt auch: Ganz ohne Zweifel ist sie nicht in die Schweiz gereist. "Sagen wir mal so: Man kämpft ja um sein Leben. Man sagt sich: ‚Die Natur ist so schön, die Freunde sind so lieb‘, man geht ja nicht mit großer Freude von dannen. Ich wäre ja noch gern zehn Jahre geblieben."

Immer wieder kommt das Gespräch auf den nächsten, ihren letzten Tag. Wie wird sie sterben? Sie werde einen Medikamentenmix trinken und dann recht schnell bewusstlos sein, haben die Leute von DIGNITAS ihr versichert. "Man schläft ein und der Tod tritt dann ohne weitere Krampfanfälle oder Schmerzen ein." Viele Menschen, die unheilbar erkrankt sind, hoffen bis zum Schluss, dass sie vielleicht doch noch überleben. Sie vermeiden es, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Das ist bei Helga Bartels-Kruse anders. Sie sei fünfzehn Jahre lang Chefarztsekretärin gewesen und vielfach mit dem Tod in Berührung gekommen. "Ich habe mir da gar keine Illusionen gemacht."

Am Nachmittag setzen die drei mit der Fähre ans andere Ufer nach Küsnacht über. "Meine letzte Reise", sagt die alte Frau mit einem Lachen. "Jetzt trete ich ab." Sie steht an der Reling und genießt noch einmal den Fahrtwind in ihrem Gesicht. "Schön ist es hier. Die frische Luft." Ein tiefes Durchatmen. "Man wird abgelenkt von dem, was einem morgen bevorsteht. Das ist ja keine angenehme Sache." Sie möchte das, was sie heute noch erleben kann, genießen. "Man weiß ja nicht, wo man hinkommt morgen. Vielleicht ist die Erinnerung an den letzten Tag dann etwas sehr Schönes. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse." Eine Reise ins Ungewisse, die sie gern noch etwas aufgeschoben hätte: zumindest bis nach Weihnachten. "Ich hätte jetzt langsam meine Weihnachtssachen aus dem Keller geholt. Ich habe da eine Pyramide, ein Engel mit einem Lichterkranz und Sterne." Sie freue sich immer auf Weihnachten, aber sie habe sich nicht getraut, den Zeitpunkt zu verschieben. DIGNITAS hätte ihr das freigestellt; sie hätte auch bis zum nächsten Jahr warten können. "Als es mir jetzt so schlecht gegangen ist, habe ich nicht gewagt, das rauszuschieben." Schwergefallen sei ihr die Entscheidung aber schon. Gerade weil der Oktober in diesem Jahr noch einmal so schön gewesen sei. "Der Abschied wird auch deswegen so schwer, weil man in letzter Minute erkennt, was man verliert. Man erkennt, dass das, was man alles für selbstverständlich gehalten hat, nicht selbstverständlich ist: Die schöne Natur, der Wechsel der Jahreszeiten, die lieben Menschen. Ich würde das gerne fortsetzen, aber die Erkenntnis ist da: Irgendwann ist jedes Leben einmal zu Ende."

Wie bei einer Narkose

Helga Bartels-Kruse ist evangelische Christin. Was erwartet sie, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzt? Ein Leben nach dem Tod? Sie sei sich da nicht so sicher. "Man wünscht es sich ja, dass man Eltern und Freunde, die schon gegangen sind, wiedersieht, aber niemand ist zurückgekommen, bis jetzt, um das einem zu bestätigen."

8. November. Heute ist ihr Todestag. Helga Bartels-Kruse und ihre Freundin warten vor dem Hotel auf die Abfahrt zu DIGNITAS. Sie habe gut geschlafen, sagt sie. Ihre Freundin habe ihr noch den Rücken gewaschen. Und sie hat sich elegant gekleidet. "Damit ich auch schön fein bin, wenn ich nachher in das gerichtsmedizinische Institut komme. Damit die sich nicht vor mir ekeln müssen", sagt sie lächelnd.

Wenig später begrüßen die DIGNITAS-Mitarbeiter Beatrix und Ernesto Buche Helga Bartels-Kruse vor dem "Sterbehaus". Noch immer wirkt die alte Dame sehr ruhig und gelassen, obwohl sie weiß, dass sie hier in diesem blau-grauen Bungalow in den nächsten zwei Stunden ihr Leben beenden wird. Zunächst geht es um die Formalitäten. Ernesto Buche legt ihr eine so genannte Freitoderklärung vor. Sechs Formulare muss Helga Bartels-Kruse unterzeichnen, um zu erklären, dass sie freiwillig aus dem Leben scheiden wird. Nach den Unterschriften klärt sie noch einmal ab, was mit ihren sterblichen Überresten geschehen soll. Da sie in ihrer Heimatstadt, in Hannover, keine Angehörigen hat, soll ihr Leichnam in der Schweiz eingeäschert werden. "Ich möchte im Gebirge verstreut werden. Das hatte ich mir gewünscht. Nicht im Wasser versenkt. Ich bin immer gern in den Bergen gewesen." Später - wenn sie das tödliche Medikament getrunken hat - wird Ernesto Buche die Staatsanwaltschaft und die Polizei benachrichtigen, da es sich ja um einen unnatürlichen Tod handelt, der untersucht werden muss. Als Beweis für den Staatsanwalt zeichnet Ernesto Buche eine kurze Videosequenz auf. Er fragt sie: "Frau Bartels, sind Sie sich bewusst, wenn Sie jetzt das Medikament einnehmen, dass Sie dann sterben werden?" Und die alte Dame antwortet mit einem deutlichen "Ja".

Helga Bartels-Kruse trinkt zunächst ein Medikament, um ihren Magen zu beruhigen. Sie geht mit ihrer Freundin noch einmal in den Garten, dann - nach zwanzig Minuten - kehrt sie ins Sterbezimmer zurück und lässt sich auf dem Bett nieder. Ihre Freundin setzt sich daneben.

Im Raum bleiben nur die Freundin und die Sterbebegleiter von DIGNITAS. Ernesto Buche erzählt danach, dass die Freundin den Arm um Helga Bartels-Kruse gelegt hat, als diese das Medikament getrunken hat. Kurz darauf sei sie weggedämmert, wie bei einer Narkose. Wenige Minuten später war sie tot. Ihre Freundin hält sie auch eine halbe Stunde später noch in dem Arm. Mit verweintem Gesicht blickt sie auf die Tote und sagt: "Ist sie nicht schön? Immer noch."

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Michael Hollenbach

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