Oh Wunder

Nebenbemerkungen zum Hamburger Kirchentag
Foto: privat
Die Welt ist verbesserungswürdig, und Kirchentagsbesucher wollen zur Verbesserung beitragen. Das ist gut christlich und gut protestantisch. Die Politik ist unser Schicksal, daher ist es nur richtig, wenn der Kirchentag sich als ein politischer verstand.

Angesichts der Kirchentagsbesucherströme fielen zunächst einmal angewandte Sekundärtugenden ins Auge: Während man sonst die Bewegung von Menschenmengen noch am Tag danach leicht an der zurückgelassenen Müllspur verfolgen kann, wäre der Versuch auf dem Kirchentag aussichtslos.

Und dann der Umgang der Menschen miteinander. Kein Gedränge, keine Gereiztheit, kein Stress. Unaufhörlich wanderte das Gottesvolk von einem Ort zum andern, überall freiwillige Helfer, alles blieb entspannt, alles friedlich. Folgerung: Wären die Deutschen ein Volk von Kirchentagsbesuchern, brauchten wir uns um das soziale Zusammenleben in Deutschland keine Sorgen machen. Aber das ist wohl eine unzulässige Sehnsucht nach idyllischen Zuständen.

Die raue Wirklichkeit ist die Vielfalt der Lebensformen, Werte, Interessen, Begehrlichkeiten. Und das ist gut so. Überhaupt und weil wir evangelischen Christen sonst nichts hätten, um dass wir uns kümmern könnten. Denn, und damit bewegen wir uns über die einst so denkwürdig von Oskar Lafontaine geschmähten Sekundärtugenden hinaus, auf den Kern der Dinge zu: Die Welt ist verbesserungswürdig, und Kirchentagsbesucher wollen zur Verbesserung etwas beitragen. Das ist gut christlich und gut protestantisch. Die Politik ist unser Schicksal, daher ist es nur richtig, wenn der Kirchentag sich als ein politischer verstand: Aller Orten wurden die großen Themen unserer Zeit bedacht, erläutert, kommentiert und diskutiert. Etwa die Frage nach der Inklusion - womit beileibe nicht nur die Forderung nach gemeinsamem Unterricht von sogenannten Behinderten und Nichtbehinderten gemeint war. Es ging vielmehr um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle. Selbstverständlich ist sie nicht, allzu viele werden in unserer Gesellschaft diskret exkludiert, gewissermaßen ohne dass ein Hahn danach kräht, etwa weil sie einer Minderheit angehören, weil sie materiell zu den Armen zählen oder gesundheitlich benachteiligt sind.

Kommentatoren in der Tagespresse tadelten, die politischen Veranstaltungen auf dem Kirchentag seien einseitig gewesen, allzu häufig hätten zu den Kirchentags-Mainstream-Meinungen die Kontrahenten gefehlt. Das habe eine seltsame Atmosphäre von widerspruchsfreiem Wir-unter-uns-Gefühl erzeugt. Dass sie so ganz unrecht gehabt hätten, lässt sich nicht sagen. Und das ist bedenklich. Protestanten dürfen dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen. Das sind sie schon diesem ihrem Ehrentitel schuldig.

Doch Kirchentage haben nicht nur die Aufgabe, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Vielmehr dienen sie auch der Selbstvergewisserung und Identitätsstärkung der evangelischen Christen. Diese Funktion kann in einer Zeit, in der dies längst nicht mehr für alle und nicht ausschließlich der Gottesdienst leistet, gar nicht überschätzt werden.

In Hamburg konnten wohl selbst Skeptiker an eigenem Leib erfahren, was Inklusion bedeutet: Wer sich bereitwillig ins Treiben stürzte, den überkamen irgendwann, sei's auch überraschenderweise, Gemeinschaftsgefühle - gar solche, die, oh Wunder, nicht auf Abgrenzung und Aggression beruhten, die sich nicht als "Aufgehen in der Masse" beschreiben lassen. Lässt sich Besseres von der Veranstaltung namens Kirchentag sagen?

Helmut Kremers

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