Exodus und Wiederkehr

zeitzeichen-Serie (VI): Die Achtundsechziger-Zeit und die Theologie
Giorgio de Chirico: "Estasi" (Ekstase), 1968. Foto: akg-images
Giorgio de Chirico: "Estasi" (Ekstase), 1968. Foto: akg-images
Die mit den Sechzigerjahren verbundenen Aufbrüche der Theologie führten über futurisch-eschatologische Gipfelaufschwünge zu Sturmläufen gegen ein autoritäres Gottesbild und schließlich zur Entdeckung der Bescheidenheit als Selbstgenügsamkeit der Theologie: Walter Sparn, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Erlangen, erinnert daran, ohne die autobiografische Grundierung zu verhehlen.

Das Jahr 1968 - ambivalente Erinnerung an den Höhepunkt eines Jahrzehnts kultureller Dynamik (ja, auch die Beatles), aber zugleich bitterer gesellschaftlicher Konflikte mit desaströsen Folgen, in Deutschland, aber auch in Frankreich und in den USA, wo der studentische Protest gegen den Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings zum Massenprotest anschwoll. Die Bilder von spektakulären, Gewalt gegen Sachen nicht scheuenden Aktionen der "Außerparlamentarischen Opposition" und von Polizisten, die auf langhaarige "Chaoten" einschlugen, füllten die Nachrichten.

Ich begann das Theologiestudium unter der politischen Parole "Keine Experimente!" Als ich es 1968 beendete, regierte eine große Koalition, deren Notstandsgesetzgebung zwar Anlass zu Demonstrationen gab, die aber recht klug auf die erste Rezession im Wirtschaftswunderland reagierte und eine liberale Strafrechtsreform zuwege brachte. Der neue Bundeskanzler Willy Brandt gab 1969 sogar die Parole aus: "Mehr Demokratie wagen!" Sehr gut fand ich, selber Bildungsaufsteiger, auch die Anstrengungen, die nun für die Öffnung der Gymnasien und Universitäten unternommen wurden. Bislang hatten kaum 5 Prozent eines Jahrgangs studiert, der Religionsphilosoph Georg Picht rief 1963 die "deutsche Bildungskatastrophe" aus. Quantitativ erfolgreich: Die Zahl der Studenten und noch mehr die der Studentinnen stieg enorm, auch in der Theologie.

Die neuen Wege, die sich der evangelischen Theologie in den Sechzigerjahren öffneten, wurden von braven Theologiestudierenden in ihrem innovatorischen Potenzial eher unterschätzt. So etwa die Chancen, die im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) lagen: Wir Tübinger Stiftler sahen es als innerkatholisches Aggiornamento und beließen es beim kontroverstheologischen Geplänkel mit den Kommilitonen aus dem Wilhelmsstift (noch lange blieb die Ökumene das Thema kirchlicher Werke, auch die Leuenberger Konkordie von 1973 war Kirchenpolitik).

Viele empfanden die Dominanz der Exegese als erdrückend, ein zunächst nur schüchternes Interesse galt der Ethik. Freilich, wo (selten genug) "Sozialethik" betrieben wurde, verfügte sie noch kaum über analytische Kompetenz in der Beschreibung der Orte christlicher Praxis. Technologisch und ökonomisch ging es vorwärts, man ging auf die Mondlandung zu; aber wo blieb der soziale und politische Fortschritt?

Für eine bessere Zukunft

Die der Flakhelfer-Generation angehörigen Universitätslehrer verpflichteten nun unbedingt auf die Arbeit für eine bessere Zukunft. Jürgen Moltmanns "Theologie der Hoffnung" (1964) war sofort ein riesiger Erfolg - fünfzehn Auflagen bis 1985. Sie gab dem sozialen Anliegen endlich eine Begründung: eine eschatologische. Sie rekurrierte auf die "apokalyptische" Zukunftshoffnung der Bibel und verstand den christlichen Glauben als ein tätiges Sich-Ausstrecken nach dem "Reich Gottes", nach der vom auferstandenen Gekreuzigten verheißenen "universalen Zukunft".

Die Theologie der Hoffnung verabschiedete entschlossen die seit der Dialektischen Theologie gängige "präsentische Eschatologie", die am äußeren Geschichtsverlauf nicht interessiert war, sondern ausschließlich an zeitlos-existenzieller "Geschichtlichkeit", an der Jederzeitigkeit des Anrufs zum Glauben. Die neue Eschatologie überzeugte vor allem darin, dass sie zur Kritik am schlechten Jetzt ermutigte und Impulse freisetzte zur Befreiung aus "Knechtschaft", zum Kampf um Freiheit, Recht, Humanität - das "Prinzip Hoffnung" und den "Geist der Utopie" hatte der Marxist Ernst Bloch kurz zuvor rehabilitiert. Hoffnung und Religion sind, so meinte dieser Atheist, eng verschwistert, und er konnte das Christentum als "Religion des Exodus und des Reichs" (1968) würdigen.

Eine Theologie der Befreiung

Spätestens 1967/68 trat zu Tage, dass die Theologie der Hoffnung tatsächlich eine politische Theologie war, deren Engagement für die soziale und politische Befreiung verbunden war mit der Kritik der Privatisierung des Glaubens und der Sakralisierung irdischer Einrichtungen und Zustände; neben Moltmann meldeten sich Dorothee Sölle und der Katholik Johann Baptist Metz weithin gehört zu Wort. Diese politische Ethik bedeutete auch die Ablehnung des alten Verfallsmodells der Neuzeit als eines bloß destruktiven "Säkularismus" (gegen Friedrich Gogarten schrieb überlegen Hans Blumenberg 1966 "Die Legitimität der Neuzeit"). Aus den späten Notizen Dietrich Bonhoeffers entnahm man nun die Einschätzung der Moderne als christlich legitime Säkularität, als "Mündigkeit".

Der Name Metz steht für eine weitere Veränderung: Zukunftsträchtige Formen christlicher Ethik resultierten nun aus der Korrektur der eurozentrischen Sicht im Erfahrungskontext der Dritten Welt, u.a. der Armut und Unterdrückung in Lateinamerika. Die "Theologie der Befreiung" (Medellin 1968; Gustavo Gutiérrez 1972; Leonardo Boff) erfuhr erstaunliche Akzeptanz, auch wenn deutlich wurde, dass ihr marxistisches Instrumentarium der ökonomisch-politischen Analyse unzureichend war - einer der Gründe, warum Josef Ratzinger sie später disziplinieren konnte. Es blieb aber dabei, dass die europäische Theologie ihre Zentralstellung verlor und dass sie ihren eigenen politischen Auftrag nicht mehr verleugnen durfte. Letzterer wurde auch hierzulande angepackt - in Korrektur einer falschen Zwei-Regimente-Lehre (noch 1959/60 gab es einen "Obrigkeitsstreit"!). Man denke an die Rede Egon Bahrs in Tutzing 1963 und an die Denkschrift der EKD von 1965, mit der die neue Ostpolitik in Gang kam, die schon im Prager Frühling 1968 belohnt zu werden schien (merkwürdig, dass uns die DDR diakonisch, aber nicht wirklich theologisch etwas anging). Das Zeitalter des Kolonialismus neigte sich auch in Übersee dem Ende zu.

Die futurisch-eschatologische Wende der Theologie war nicht zuletzt eine Antwort auf die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts drängende Frage nach dem Zusammenhang von Glaube und geschichtlicher Relativität der Glaubenstradition. Die gängigen Versuche, diese Frage dogmatisch zu eskamotieren, verloren in den 1950er Jahren durch die erneuerte Frage nach dem historischen Jesus an Plausibilität; das meist bloß überspielte Missverhältnis zwischen historisch-kritischer Exegese und systematischer Theologie (gleichviel ob barthianisch oder bultmannianisch orientiert) verhinderte eine Lösung des Problems (exotische Ausnahme: Eberhard Jüngel 1962). Mit dem Programm "Offenbarung als Geschichte" (1961) wollte Wolfgang Pannenberg in Kooperation mit Exegeten (Rolf Rendtorff, Ulrich Wilckens) und Systematikern (Trutz Rendtorff) das ändern: eine weitere große Innovation.

Abschied vom "Offenbarungspositivismus"

Das Programm erfuhr (auch in der christologischen Version, 1964) heftige theologische, auch geschichtswissenschaftliche Ablehnung. Der steile Versuch, die christliche Heilsgeschichte universalgeschichtlich zu verifizieren, erforderte die Annahme, dass ein einzelnes Ereignis der Geschichte deren Ende "vorwegereignet"(!) und so den Sinn der Geschichte absolut(!) gültig offenbart habe und dass der Auferweckung Jesu historische Tatsächlichkeit eigne. Dem wurde auf Dauer wirksam widersprochen; aber die Figur "spätjüdische Apokalyptik", auch von Moltmann beschworen, hielt sich noch bis zur postmodernen Kritik des chiliastischen Konzepts einer zielstrebigen Gesamtgeschichte. Durchgesetzt hat sich Pannenbergs Abschied vom "Offenbarungspositivismus", der seit Albrecht Ritschl und Karl Barth zur Gewohnheit geworden war und der die Theologie von ihrer Umwelt nicht bloß unterschieden, sondern getrennt hatte. Pannenberg führte sein Anliegen, für viele überzeugender, bald auch wissenschaftstheoretisch (1973) und anthropologisch (1962, 1983) durch.

Er war auch einer der ersten, die ihre Theologie ernsthaft der Ökumene verpflichteten. Doch optierte er schon 1970 und dann in einem einflussreichen ökumenischen Gesprächskreis für die Konvergenz des reformatorischen und des römisch-katholischen Kirchenverständnisses, auch des Papstamtes; es fanden sich evangelische Bischöfe, die ihm folgten. Evangelische Relativierungen des Christentumsmonopols der Kirche und deren neues Verständnis als "Institution der Freiheit" (T. Rendtorff; Dietrich Rössler) erreichten immerhin die Wirksamkeit von Denkschriften. Hierfür tat sich auch Unterstützung von außen auf: Die Kirchensoziologie erweiterte sich, auf dem Umweg über die USA, zur Religionssoziologie (F. Fürstenberg 1964; Th. Luckmann 1967; Peter L. Berger 1967, 1980). Die - tiefgreifend modifizierte, aber eben doch - liberale Theologie obsiegte schließlich.

Tod Gottes?

Die dritte wichtige, bis heute virulente Innovation der 1968er-Zeit dürfte der Ausbruch aus einem autoritär fixierten Gottesbild gewesen sein. Auch den Zeitgenossen war klar, dass die Verschiebung der Rechtfertigungslehre von der Schuldfrage auf die Sinnfrage, wie das der Lutherische Weltbund in Helsinki 1963 vorschlug, das traditionelle Gottesbild affizieren würde. Die erst jetzt breite Rezeption der Soteriologie Paul Tillichs ("Der Mut zum Sein") und seiner Kritik des theistischen Gottesbegriffs ("Gott über Gott", "Sein-Selbst") bestärkte viele. Dies umso mehr, als Tillichs "Systematische Theologie", abgeschlossen 1966, mit der Korrelation von kulturell konkreter Existenzanalyse und christlicher Botschaft das steril gewordene "Barth oder Bultmann" hinter sich ließ, ohne doch dem existenziellen Pathos etwas zu nehmen, das uns die Lektüre Luthers (in der Version Gerhard Ebelings, 1964), Kierkegaards und Heideggers nach wie vor einflößte.

Solche Harmonisierungen wurden angefochten durch mehrere, auch dem Austausch zwischen deutschem und amerikanischem Protestantismus verdankten Initiativen zur Orientierung in der Situation der Gottesungewissheit: Die von Martin Heidegger angestoßene Diskussion der These Nietzsches "Gott ist tot"; die amerikanische "Death-of-God-theology" (Gabriel Vahanian 1961, Thomas J.J. Altizer 1966); die christologische Begründung der Theologie nach dem 'Tode', d.h. nach dem Ende der unmittelbaren (metaphysischen oder doch kulturellen) Gewissheit Gottes (Dorothea Sölle: Stellvertretung, 1965). Bultmanns Programm der Entmythologisierung und Bonhoeffers Forderung einer "nicht-religiösen" Interpretation des Christentums wurden zugespitzt in dem Bestseller von John A.T. Robinson: Honest to God (1963; Gott ist anders, 1963). Für deutsche Theologen wurde es noch ernster, weil das Schweigen der Väter durch den immer schmerzlicheren Blick auf den Holocaust überlagert wurde (Eichmann-Prozess 1961; Auschwitz-Prozesse 1963/65; Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, 1967). Die "Banalität des Bösen" (Hannah Arendt) schützte nicht davor, sich mit der "Abwesenheit Gottes" konfrontiert zu sehen und über "Gott nach Auschwitz" schweigen zu müssen (Hans Jonas, Theodor W. Adorno).

So verwundert es nicht, dass die Arbeit an der Revision des christlichen Gottesbildes zunächst von außen, aus der amerikanischen Frauenbefreiungsbewegung kam (M. Daly 1968), die das Gottesbild der patriarchalischen, "nekrophilen" Kultur inklusive des Christentums zunehmend radikal kritisierte; die feministische Theologie bildete sich dann seit den ausgehenden Siebzigerjahren aus (D. Sölle, E. Moltmann-Wendel). Die Tatsache, dass sie sich zum neomythischen Synkretismus fortbilden konnte, d.h., aus dem Christentum auswanderte, dass sie sich aber auch in die Tradition der christlichen (Frauen-)Mystik einschreiben konnte und zur Revision des protestantischen Intellektualismus beitrug, hat mancherorts die Meinung befördert, dass es mit einigen Lehrstühlen für Feministische Theologie getan sei. Tatsächlich hat die feministische Kritik am christlichen Gottesbild in der jetzigen ökumenischen Kommunikation und im Kontext des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus nichts von ihrer Virulenz verloren.

Intoleranz - die große Schwäche der Achtundsechziger

Die Innovationen der 1968-Generation wurden um 1980 erheblich modifiziert; systematisch-theologisch markieren das Eberhard Jüngel (Gott als Geheimnis der Welt, 1977), andererseits Trutz Rendtorff (Ethik, 1980). Aber von ihrem wichtigsten Impuls zehren wir heute noch: von der Rekontextualisierung einer selbstgenügsam gewordenen Theologie. Jene Generation hat die Theologie wieder in ihrem sozialen, politischen und neuzeithistorischen Kontext platziert, auch in ihrem biografischen (siehe diesen Bericht); sie hat begonnen, sie ökumenisch und international zu vernetzen.

Soll man beklagen, dass die Achtundsechziger die Korrelation von Glaube und Geschichte nicht wirklich erneuern konnten? Nun, heute ist die Diskrepanz z.B. von Jesusbildern und Christologie noch schärfer. Oder dass sie die Triangulation von individueller Frömmigkeit, öffentlicher Religion und Institutionalität der christlichen Kirche nicht bewältigt haben? Nun, noch heute überspielt man gerne die Diskrepanz zwischen dem Pathos der "kleinen Schar" und der bürokratischen Großorganisation.

Die große Leistung der theologischen Kontextualisierung hat, langfristig, die große Schwäche jener Generation hinter sich gelassen, ihre Intoleranz. Jene Generation hat in der Regel die binäre Logik von wahr und falsch theologisch totalisiert und hat dies mit abenteuerlichen Theorien und mit appellativer "Betroffenheit" durchzusetzen versucht - ihre Eltern noch sehr ähnlich. Theologische Differenz oder religiöse Pluralität zu schätzen und nicht gegen den eigenen Glauben, sondern aus diesem Glauben tolerant zu sein, das war nicht ihre Sache. Sie blieb, mit wenigen Ausnahmen, blind für religiös-kulturelle Vielfalt, sie erklärte religiöse Fremdheit einfach weg. Fast tragisch wirkte sich das nach innen aus: Sie benutzten weiterhin eine auf Deutungsherrschaft setzende, substantivisch gestiefelte Sprache. Gegen die extrem unsensible Revision der Lutherbibel von 1975 sind, Gott sei Dank, wenigstens Germanisten eingeschritten.

Im Zuge einiger wissenschaftlicher turns, linguistischer, phänomenologischer, ästhetischer, sind manche Beteiligte bescheidener geworden und werden deshalb als "große Alte" geführt. Aber ohne die mentale Zäsur von 1968, die tiefer reicht als die von 1918, stünden wir noch immer am "Ende der Geschichte".

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Walter Sparn

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