Milchschaum in der Bücherwelt

Auch die Liebe zum Lesen geht durch den Magen: Ein kleiner Buchladen trotzt den Konzernen
Buchkultur und Kulinarisches – ein Erfolgskonzept. Fotos: Natascha Gillenberg
Buchkultur und Kulinarisches – ein Erfolgskonzept. Fotos: Natascha Gillenberg
Kleine Buchhandlungen haben es heute nicht leicht. Die Konkurrenz durch Online-Händler oder Buchkonzerne ist erdrückend und hat in den vergangenen Jahren schon viele zum Aufgeben gezwungen. Doch Frederik Herbers hat sich davon nicht abschrecken lassen. 2005 gründete er mit seiner "Buchkantine" eine lebendige Kiezbuchhandlung in Berlin-Moabit. Ein Besuch mit Natascha Gillenberg.

"Der große Gatsby" oder doch lieber "Adieu Tristesse"? Die Auswahl fällt nicht leicht. Wenn es sich um die Romane mit den fast gleichlautenden Titeln handelte, wäre die Sache ja einfach: Dann könnte man schließlich beide Bände mitnehmen und sie - je nach persönlicher Vorliebe - nacheinander oder auch parallel durchschmökern. Es handelt sich aber um Frühstücke. Anders als Literatur lassen sich Ei und Buttercroissant nur schlecht auf dem Nachttisch stapeln. Oder lieber eines der Tagesgerichte? - Und doch: Die Speisekarte ist beim Entscheidungsprozess äußerst hilfreich. Sobald man nämlich weiß, was man Leckeres bestellen möchte, hat man Zeit für den anderen Genuss: Neben Messer und Gabel liegen dann die für den Nachttisch infrage kommenden Bücher bereit, und beim Verzehr von Pasta mit Steinpilzen kann man sich schon einmal die verschiedenen Romananfänge auf der Zunge zergehen lassen. Eine perfekte Kombination, die von Buchhändler Frederik Herbers gern gesehen wird - auch dann, wenn die Bände noch gar nicht gekauft sind und möglicherweise anschließend wieder zurück ins Regal wandern.

Denn hier in der Buchkantine im Berliner Stadtteil Moabit gehört beides zusammen: Die Literatur- und die Gaumenfreuden. Wer die kleine Buchhandlung am Spreebogen nördlich von Tiergarten und Siegessäule betritt, findet sich in einem in warmen Rot- und Brauntönen gehaltenen Bistro wieder, bevor er die hohen Bücherregale in der rückwärtigen Hälfte der Räume erreicht.

Die Kombination von Kaffee und Buch war Frederik Herbers von Anfang an wichtig. Neu sei die Idee zwar nicht, gibt er zu, auch Barnes & Noble oder Hugendubel versuchen Ähnliches. Aber er wollte "mehr als eine Kaffeemaschine, die nur Alibi ist und die nur der atmosphärischen Wirkung dient". In kleinen Buchhandlungen fühle man sich immer so schnell beobachtet, hat er festgestellt - er aber will, dass sich die Kunden hier wohlfühlen und ungezwungen in den Büchern stöbern können. Deshalb das Café, und deshalb die Speisekarte mit Frühstück und wechselnden, feinen Tagesgerichten.

Vor allem aber: Sein Buchladen sollte "Kiezmittelpunkt" im Westfälischen Viertel werden. "Mir liegt es, Leute zusammenzubringen, und dieser Laden ist dafür ein schönes Vehikel", findet er. Frederik Herbers kennt die Nachbarschaft gut: Er wohnt selbst nur eine Straße weiter und trifft beim Einkaufen im Supermarkt die gleichen Leute, die ihn in der Buchkantine um Leseempfehlungen bitten.

Ein Geheimtipp war dieser Stadtteil lange Zeit - Moabit ist ein alter Arbeiterkiez, ein Industrieviertel, früher ganz im Westen gelegen, quasi im "toten Winkel" direkt an der Mauer, mit einer Mischung aus Mietskasernen und Gründerzeithäusern, nicht weit vom Kanzleramt und vom Innenministerium entfernt, aber sozusagen auf der falschen Seite der Spree. Der Ruf Moabits war kein guter: Viele ließen sich abschrecken von einem hohen Migrantenanteil, von zu großer Arbeitslosigkeit, den vielen Schnellimbissen, der Justizvollzugsanstalt. Die Häuser hier direkt am Flussufer waren zwar schon immer etwas begehrter. Aber erst jetzt - im Zuge der großen Gentrifizierungswellen, die die Stadt ergriffen haben, mit Sanierungen und Preissteigerungen, die derzeit die Mieterstrukturen ganzer Stadtteile aufbrechen - erst jetzt gewinnt der Kiez für neue Mieter und auch nach außen hin an Attraktivität.

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Frederik Herbers beobachtet diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. In seine Buchhandlung kommen nicht mehr nur die Leute aus der Nachbarschaft, sondern auch mehr und mehr Touristen. Und: Die Ansprüche der Kunden steigen. Die Buchkantine hatte zwar von Beginn an ein bürgerliches Publikum, erzählt er - "das brauchte es ja auch: Es muss ja Leute geben, die Lust haben, mal ein Buch zu kaufen" -, doch es ist nicht mehr ausschließlich der Familienkiez, für den er den Laden einst konzipiert hatte.

Der Name ist bewusst gewählt: Eine Buchkantine - das ist etwas anderes als ein Literaturcafé. Frederik Herbers wollte kein Bild von "einer Türglocke, die romantisch vor sich hin bimmelt", wollte dem Ganzen das Gediegene, das Elitäre nehmen: "eine gemütliche Buchhandlung, aber ohne eine zu heimelige Atmosphäre". Statt dessen: Einen Laden, der zum Treffpunkt werden kann und in dem man Zeit verbringt, in dem kleine Kinder in der Spielecke herumklettern können, es auch kein Drama ist, wenn mal eine Kugel Eis auf dem Fußboden landet, und wo sich Nachbarn gern auf ein Glas Wein miteinander verabreden.

Deshalb hat die Buchkantine übrigens auch am Sonntag geöffnet. Wenn die Sonne scheint, sind die Tische auf der Terrasse unter dem großgewachsenen Silberahorn schnell besetzt. Und so mancher der Gäste kommt dann am Abend wieder - zum "Tatort" gucken, denn auch das hat in der Buchkantine mittlerweile Tradition. Rund achtzig Leute trudeln jedes Wochenende ein, wenn die Leinwand im Café heruntergezogen wird und die neuesten Krimis aus Münster oder Leipzig gezeigt werden.

Buchtipps am Tresen

Aber heute ist Mittwoch, es regnet Bindfäden. Dennoch brummt der Laden. Die Sozialarbeiterin vom Mädchenkulturprojekt um die Ecke schaut, wie fast jeden Tag, in ihrer Pause auf Zeitung und Kaffee vorbei; ein junger Mann aus der Nachbarschaft kauft sich einen Roman von Forster Wallace. Und vor dem Beginn des nächsten Wolkenbruchs schwirrt noch eine fröhliche Gruppe junger Freunde herein, die sich hier zum Mittagessen treffen. Die Bedienung hat alle Hände voll zu tun, ihre Bestellung aufzunehmen.

Also poliert die Buchhändlerin Britta Beecken jetzt erst einmal Gläser und bereitet Milchschaum an der Espressomaschine zu. Denn sie kennt sich nicht nur mit den Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus, sondern beherrscht auch jeden Handgriff, der hinter der Bar nötig ist. Und wer weiß, ob ein Tresen nicht ohnehin der beste Ort ist, um ein Gespräch über gute Bücher zu beginnen und sich den einen oder anderen Tipp abzuholen.

Immerhin ist es das, was kleine Buchläden vor Großhändlern und auch dem Online-Geschäft auszeichnet: Die Nähe zu ihren Kunden. Wenn also - wie ein paar Tage zuvor geschehen - das Nachbarsmädchen nach der Schule vorbeikommt und ein Buch abholen will, aber den Titel vergessen hat - dann kann Frederik Herbers eben ihre Mutter anrufen und kurz nachfragen. Einfach, weil man einander irgendwann gut genug kennt.

Und auch sein Kollege, der Buchhändler Peter Farber, hat seine Stammkunden, die regelmäßig in der Buchkantine vorbeikommen, weil sie wissen, dass er ihre Vorlieben im Kopf hat. Da ist zum Beispiel die Dame, die sich vor allem für Schwarzweißfotografie interessiert. Peter Farber kann ihr jedes Mal berichten, welcher Verlag gerade eine ansprechende Neuerscheinung herausgebracht hat. Aber auch auf den geradezu klassischen Wunsch nach "einem Buch für einen Mann, der eigentlich nicht viel liest", findet er nach einigen zielgerichteten Fragen meist schnell die richtige Empfehlung.

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Die Kunst - darin sind sich Peter Farber und sein Chef Frederik Herbers einig - ist schließlich nicht, ein riesiges Sortiment vorrätig zu haben, sondern aus dem schier unübersichtlichen Buchmarkt die passenden Perlen für ihre Kunden zu wählen. "Das ist ja das Entscheidende", sagt Peter Farber, "dass das richtige Buch an den richtigen Menschen kommt." Und das, so hoffen beide, wird sein, was Läden wie den ihrigen auch in Zukunft am Markt bestehen lässt.

Und so ist Peter Farber schon allein aus Berufsgründen eine Leseratte. Zwei bis drei Bücher schafft er neben der Arbeit pro Woche - und muss es auch, denn über die Neuerscheinungen muss er Bescheid wissen, dazu kommt die regelmäßige Lektüre der Rezensionen der großen Tages- und Wochenzeitungen. Irgendwann einmal hat er ausgerechnet, dass man in seinem Leben doch nicht mehr als dreitausend Bücher lesen kann. Das bekümmert ihn ein wenig. Vielleicht ist das aber auch ein zusätzlicher Antrieb für einen Buchhändler wie ihn, den Lesern dann wenigstens zur individuell passenden Lektüre zu verhelfen.

Während Thalia, Hugendubel und Dussmann mit gewaltigen Verkaufsflächen aufwarten können, müssen sich kleine Betriebe wie die Buchkantine ein klares Profil schaffen, sich auf bestimmte Kernsegmente konzentrieren, die den Bedürfnissen und Lesegewohnheiten ihrer Kundinnen und Kunden entsprechen. Krimis sind in diesem Kiez sehr gefragt; dementsprechend gibt es hier einige große Regale, auch die Belletristik geht sehr gut, und dann gibt es noch die große Auswahl an Kinder- und Jugendbüchern und eine etwas kleinere Sachbuchecke. Neu ist das Segment "Das besondere Buch", in dem Kunstbände oder andere besondere Formate ausliegen.

Wer dennoch in keinem der Regale auf Anhieb sein Lieblingsbuch findet, kann es bestellen - direkt in der Buchkantine, oder aber über die Webseite, auf der die Kollegen regelmäßig auch eigene Buchtipps veröffentlichen. Und hier sieht Frederik Herbers sich sogar überraschend im Vorteil gegenüber Onlinehändlern: Denn in Läden wie der Buchkantine kann man kostenlos von einem Tag auf den anderen bestellen. "Das ist weltweit einzigartig", sagt er, "nur Apotheken sind schneller."

Dass dennoch nicht jeder, der in die Buchkantine kommt, tatsächlich ein Buch kaufen will und muss, ist hier auch aus wirtschaftlichen Gründen beabsichtigt. Früher hat sich der Umsatz zwischen Buchhandel und Gastronomie aus gleichen Teilen zusammengesetzt. Seit dem Umzug im November nur zwei Straßenecken weiter hat sich dann der Umsatz der Gastronomie unerwartet verfünffacht. Das bietet finanzielle Planungssicherheit für den Laden - hat Frederik Herbers aber seitdem ziemlich auf Trab gehalten. Mehr als Krimis, sagt der Buchhändler etwas erschöpft, schafft er zurzeit deshalb leider selbst nicht mehr.

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Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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