Visionär und Hebamme

Der weltweit bekannte Tübinger Theologieprofessor Hans Küng wird 85 Jahre alt
Vor acht Jahren warb Hans Küng (Mitte) vor dem Kölner Dom für das Kirchenvolksbegehren. Foto: dpa / Roland Scheidemann
Vor acht Jahren warb Hans Küng (Mitte) vor dem Kölner Dom für das Kirchenvolksbegehren. Foto: dpa / Roland Scheidemann
Hans Küng, am 19. März 1928 in Sursee im Schweizer Kanton Luzern geboren, wurde einer breiteren Öffentlichkeit 1979 bekannt, als ihm der Vatikan die kirchliche Lehrerlaubnis entziehen ließ. Der zehn Jahre jüngere Hermann Häring, langjähriger Mitarbeiter Küngs und bis zu seiner Emeritierung Professor im niederländischen Nimwegen, stellt Küng und sein weltweit beachtetes Werk vor.

Auf dem Reichstag zu Worms 1521 sagte der schwäbische Haudegen Georg von Frundsberg mitleidsvoll zu Martin Luther: "Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang." Und als Hans Küng in den Siebzigerjahren mit der römischen Kurie über die Unfehlbarkeit stritt, kam ein besorgter Kollege auf dieses Wort zurück. Küng nahm solche Warnungen ernst, aber von seinen Zielen brachten sie ihn nie ab. Vielmehr minimierte der Tübinger Theologe die Risiken, soweit es ging, mit einem breiten Wissen und sorgfältiger Argumentation, einer geschickten Öffentlichkeitsarbeit und in einem von der Kirche unabhängigen Verlag. Seine Projekte, getragen von präziser Bibelkenntnis und einer breiten philosophischen, später religionswissenschaftlichen Bildung, wurden von einer enormen Buchproduktion vorangetrieben. Darunter sind viele Best- und Longseller, die über Jahrzehnte auf dem Markt geblieben sind.

Rom ließ sich in all den Jahren nur zu einer Anerkennung hinreißen: "Ihr Sekretariat ist phantastisch!" Kritiker verharmlosten Küng zum Teenagertheologen und Shootingstar, der mit 32 Jahren viel zu früh Professor geworden sei. Und nachdem Küng 1979 auf Betreiben Roms die Lehrerlaubnis entzogen worden war, legte sein Freiburger Professorenkollege Karl Lehmann, der heutige Kardinal, noch mit einem vergifteten Pfeil nach: Küng habe nicht mehr "vermocht, die öffentliche Meinung durch gezielte 'Informationen' für sich einzunehmen".

War der Tübinger Theologe also der David im Kampf gegen einen Riesen, der berufsmäßige Kirchenkritiker und ewige Streithammel, der nicht Papst werden wollte, weil er dann - seiner Theologie folgend - nicht mehr unfehlbar gewesen wäre? Dieses Klischee animiert zwar zum Schmunzeln, bleibt aber an der Oberfläche eines Lebens, das sich nie in Taktik erschöpft hat. Würde man Küng nach seinen wichtigsten Motiven fragen, würde er - wie in seinen Memoiren - von einem Kampf um Freiheit und Wahrheit sprechen und auf sein Engagement für eine versöhnte Menschheit verweisen. Seine Gegner haben sich getäuscht. In den Auseinandersetzungen mit Rom trug Küng zwar Narben davon, aber unterlegen ist er nicht. Nicht David mit der Steinschleuder ist sein Ideal, auch nicht der Schweizer Nationalheld Winkelried, der in Küngs Heimat die Habsburger Speere abfing, sondern der aufrechte und im Glauben unerschütterte Thomas Morus, der sich bis zum Schafott seine Würde, ja selbst seinen Humor bewahrte.

Universale Neugier

Mit hoher Sensibilität griff Küng die großen Umschichtungen auf, die sich in den vergangenen sechzig Jahren ereignet haben: Verlust und Umgestaltung der Traditionen, Entdeckung und Durchdringung einer weltweiten Vielfalt und Suche nach einer globalen Orientierung.

Wichtig ist es deshalb, von Küngs weltoffener, geradezu universaler Neugier zu sprechen. So zog er in seine Theologie umfassende Wissensgebiete mit ein, Philosophie und Naturwissenschaften, Geschichte und aktuelle Weltpolitik, Wirtschaft und Religionswissenschaften, Musik und Literatur. Atemberaubend war das Tempo, mit dem er stetig seinen Horizont erweiterte. Und hellwach spürte er kulturelle Umbrüche, den Verfall alter Selbstverständlichkeiten und die Dauerverspätung der christlichen Kirchen, allen voran seiner eigenen Kirche. Der Begriff "Paradigmenwechsel" wurde zu einem Schlüsselwort. War und ist Küng seiner Zeit voraus?

Jedenfalls hat er wiederholt Grenzmarken überschritten, und viele hat seine Zunft noch nicht eingeholt. So sind trotz der katholischen "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre", die der Vatikan und der Lutherische Weltbund 1999 in Augsburg unterzeichneten, die ökumenischen Standards noch nicht eingelöst, die Küngs Rechtfertigungsbuch von 1957 vorgibt. Und trotz epochaler Fortschritte wurde sein Erneuerungsprogramm "Konzil und Wiedervereinigung" von 1960 nur bedingt verwirklicht. Deshalb buchstabierte er 1967 in "Die Kirche" auch noch einmal durch, wie eine zeit- und schriftoffene Kirche aussehen könnte, und was er damals schrieb, ist aktueller denn je. Ungewollt verhalf das Land Baden-Württemberg Küng zu einem Durchbruch, als es seinen theologischen Lehrstuhl und sein ökumenisches Forschungsinstitut 1980, nachdem ihm die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden war, von konfessionellen Bindungen befreite. So wurde Küng zum überkonfessionellen, später zum faktisch interreligiösen Theologen.

Im Jahre 1970 hatte der Intimkenner Roms - wohl wissend, was er da tat - mit dem Buch "Unfehlbar? Eine Anfrage" an den gefährlichsten der römischen Sprengstoffe eine Lunte gelegt. Für Küngs erste Schaffensphase bleibt diese Intervention der kühnste Schritt. Rom wusste damals um die eigene prekäre Situation und erarbeitete nach zähen Verhandlungen ein Agreement, das dem Kritiker einen vorläufigen Aufschub gewährte. Doch erneut vertagte es den anstehenden Aufbruch und erschrak bald über die Folgen.

Seine Unfehlbarkeitskritik gibt Küng die innere Freiheit, 1974 in "Christ sein" die Sache Jesu von Nazareth in historisch-biblischer Verantwortung neu durchzuformulieren. Das Buch zeigt einen bewussten Abschied von hellenistischen Denkvorgaben und einen engen Anschluss an die wissenschaftlich erschlossenen Evangelien. Das überwältigende internationale Echo schrieb Küng dem epochalen kulturellen Paradigmenwechsel zu, der sich inzwischen vollzogen hatte und dem auch der Glaube nicht ausweichen konnte. Der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens traf ins Zentrum, als er einmal vom Sermo humilis, der "demütigen Rede" sprach, die vom Insiderjargon der Theologie endlich Abstand nehme und von der eine glaubwürdige Glaubensvermittlung beseelt sein müsse.

Und dies gilt noch heute. Erst im vergangenen Jahr sind die Kernkapitel von 1974 neu und praktisch unverändert unter den Titel "Jesus" erschienen und erneut auf die Bestsellerlisten gelangt.

Rom hatte das alles nicht mehr ertragen können - und tut es bis heute nicht. Zum Jahresende 1979 zerschnitt der für Tübingen zuständige Rottenburger Bischof das Tischtuch, und schließlich wurden die westdeutschen Bischöfe nach Würzburg zitiert, um dort gegen den ungeliebten Theologen ein Dokument zu unterzeichnen. Klarer hätten sie ihre Romhörigkeit und Ängste nicht zum Ausdruck bringen können. Doch so verhalfen sie Küngs Werk - "Existiert Gott?" (1978) und "Ewiges Leben" (1982) eingeschlossen - zu bleibender Bekanntheit.

Mit seinem wachsenden Interesse für die großen Religionen der Welt brach der Tübinger Theologe zu neuen Ufern auf. Jetzt hatte er reichlich Zeit für faszinierende Einzelwelten, endlos neues Anschauungsmaterial für die großen Fragen der Menschheit, wer oder was Menschsein und Heil, Gott und Göttliches im weltweiten Vergleich bedeuteten.

Ab 1980 kann man an Küngs Werdegang ablesen, wie ein solcher Erkenntnisprozess konkret verlaufen kann. Zunächst nimmt er die einzelnen Religionen in ihrer jeweiligen Vielfalt wahr. In öffentlichen Dialogen gräbt er sich mit Spezialisten durch Islam, Hinduismus, Buddhismus und die chinesischen Religionen, um sie in zentralen Punkten - Gottes- und Menschenbild, Weltzuwendung und Mystik, Frömmigkeit und Ethik - mit dem Christentum zu vergleichen. Als Christ bleibt Küng zwar bei seinen Grundoptionen, stellt sie aber differenzierend zur Diskussion, indem er die anderen Religionen prinzipiell - aber ebenfalls kritisch - akzeptiert. Theologisch gesehen ist das ein pluralistischer, methodisch gesehen ein komparatistischer Ansatz. Dass dieser Prozess kein Ende findet, ist selbstverständlich. Bei Küng dauerte er - grob gesprochen - zehn Jahre lang.

Dann versuchte er, einzelne Religionen im universalen Horizont, aber doch in sich und im Blick auf unsere Gegenwart zu begreifen. Unter dem Titel "Die religiöse Situation der Zeit" setzte er ein Forschungsprojekt zu Judentum, Christentum und Islam in Gang. Er beschloss es mit drei umfassenden Monographien, 1991 "Das Christentum", 1994 "Das Judentum" und 2004 "Der Islam". Die Bücher sind nach demselben Prinzip gegliedert und kommen so zu vergleichbaren Resultaten.

Wie der Kirchenkenner sich in der ersten Phase intensiv für die Kirchenreform engagierte, was er immer noch tut, wirbt er jetzt für interreligiöse Kontakte, reist mit einem Fernsehteam durch die Welt und bezieht dabei die fernöstlichen Religionen mit ein. Wie immer erwirbt Küng seine Einsichten intuitiv in der Begegnung mit maßgeblichen Männern und Frauen anderer Religionen. So vertieft und erweitert sich sein eigenes Gottes-, Menschen- und Weltbild. In wachsendem Maße tauchen allgemeine Überlegungen zur Gottes-, Mensch- und Heilsfrage auf, die den Bereich von Christentum und Judentum überschreiten.

Dem Gespür für neue Umschichtungen folgend wuchs Küng schrittweise in sein letztes großes Lebensthema hinein, bis es 1990 im Titel einer kleinen Aufsatzsammlung seine programmatische Formulierung fand: "Projekt Weltethos".

Fünf Konsense

Woher rühren die Standards für eine friedensfähige Weltgestaltung? Wie ist die Zukunft einer gerechten und geeinten Menschheit zu gestalten? Küng durchleuchtet die Weltreligionen nach ihren für die Welt bedeutsamen ethischen Ansätzen und entdeckt fünf erstaunliche Konsense: Respekt vor dem Leben, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue und die Goldene Regel als oberstes Prinzip und Grundregel aller Humanität. Dieses einfache Ergebnis darf jedoch nicht täuschen. Denn mit einfachen Repetitionen, "steht ja schon im Dekalog", ist es nicht getan. Im Gegenteil! Zum einen sind die genannten Grundsätze im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern und in der Pädagogik neu durchzuformulieren. Zum andern verlangt ihre konkrete, extrem differenzierte Ausgestaltung eine Sachkenntnis auf so komplexen Feldern wie Weltpolitik: "Brücken in die Zukunft" (2001), Weltwirtschaft: "Anständig wirtschaften" (2010), und Finanzpolitik: "Handbuch Weltethos" (2012), in einem weltweiten Horizont.

Als Küng 1948 in Rom sein Studium an der Gregoriana-Universität begann, hatte er, der aus einer geschlossenen katholischen Welt kam, wohl andere Zukunftspläne. Zwar hatte ihn die Weltpolitik schon als Schüler interessiert. Doch ahnte er nicht, dass ihn seine kritisch-katholische, bald ökumenische, schließlich interreligiöse Theologie einmal mitten in die Herausforderungen der Globalisierung und ihrer ethischen Justierung führen würde.

Aber betreibt Hans Küng heute überhaupt noch Theologie? Denn nach seinem eigenen Urteil ist "Weltethos" kein religiöses Projekt. Es handelt von Menschen, setzt sich für menschliche Verhaltensregeln ein und hat eine in sich versöhnte Menschheit zum Ziel. Doch atheologisch, gar religionsfern ist dieses Projekt keineswegs. Denn Menschlichkeit und Gerechtigkeit gehören zu den unverzichtbaren Zielen einer jeden Religion. Schließlich leben diese ganz und gar irdischen Visionen aus zutiefst spirituellen Motiven, von denen sich Küng schon immer getragen wusste: "Was ich glaube" (2009).

Religionen sind eben nicht - so seine hochaktuelle Entdeckung - in erster Linie Brutstätten eines Fundamentalismus oder glühender Jenseitsliebe, sondern die moralischen Weltagenturen schlechthin, und in einer hoffnungslos pluralisierten Welt können sie neue Klammern der Einheit schmieden. Schon jetzt bieten sie gemeinsam eine tragfähige, kulturell wirksame Orientierung an. Man muss sich nur auf das Weltvertrauen einlassen, das sie in ihren großen Zeugnissen und Zeugen verkörpern. Zu Recht sind die Religionen seit 1993, dem Zweiten Parlament der Weltreligionen, mit ihrer aufsehenerregenden Erklärung zum Weltethos, auf die Weltbühne zurückgekehrt. Hans Küng leistete dabei Hebammendienste, wie er das bei seinen älteren Sorgenkindern Ökumene, Kirchenreform und zeitgemäße Glaubenssprache noch immer tut. Man kann dem 85-Jährigen nur wünschen, dass uns seine Stimme noch lange erhalten bleibt und seine Stiftung sein innovatives Erbe weitertragen wird.

Hermann Häring

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