4. Person Singular

Gottesdefinitionen
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Litanei?, mag man erst fragen, bis einem aufgeht, dass pure Poesie am Werke ist. Novarina kombiniert aus dem Vollen der Gottesdefinitionen-Historie, wobei das Geheimnis der beträchtlichen Wirkung darin liegt, wie er sie mit "Zeitwörtern" orchestriert.

"Warum fragst du nach meinem Namen, der doch geheimnisvoll ist?" - "Deswegen ja", hätte Simsons Vater antworten können, als ihn der Engel des Herrn abblitzen ließ (Richter 13). Hat er aber nicht, weil zu verbrennen droht, wer dem Heiligen zu nahe kommt. So halten sich Anziehung und respektvolle Distanz in den alten Zeiten stets die Waage. Vielleicht ist es ja ein Zeichen dafür, dass es für uns seit Friedrich Nietzsches tollem Menschen ums Göttliche tatsächlich kälter geworden ist, wenn Valère Novarina gleich 311 Gottesdefinitionen in leicht moderierter Liste auffährt, um dem Rätsel näherzutreten. Doch vielleicht ist es nur die längst überfällige Rückkehr von Heiterkeit an einer Stelle, die wir uns angewöhnt haben, ausschließlich mit Ernst und Schwere zu betreten.

Wärmend ist auf alle Fälle, was der bei uns recht unbekannte, in Frankreich aber umso berühmtere Regisseur, Schriftsteller, Maler, Fotograf und Dramatiker, der 1947 geboren wurde, an Fundstücken von der Antike bis in die Gegenwart aufbietet, um Annäherung an Gott mal auf ungewohnte und dabei doch klassische Weise zu wagen. Denn im Kern handelt es sich bei der Reihung, die keinem der vorgebrachten Vorschläge Recht gibt, um die gute alte Via negationis, den Anmarschweg darüber, was Gott eben alles nicht ist. Und um ein musikalisches Phänomen, denn auf den Chor, den Gesamtklangkörper kommt es Novarina an.

Da überrascht es wenig, dass seine "311 Gottesdefinitionen" auf gerade mal 26 Seiten eine Szene aus dem ungleich umfangreicheren Theaterstück "La Chair de l'homme" (Das Fleisch des Menschen) sind, bei deren Aufführung, so wird es kolportiert, gelacht wurde. Zu Recht. Immerhin landen so beispielsweise antiker Philosoph, lateinischer Kirchenvater und zwei Surrealisten plötzlich unversehens nebeneinander. Was dann so klingt: "... ARISTOTELES versichert, dass 'Gott so vollkommen ist, dass er nichts anderes denkt als sich selbst'; AMBROSIUS VON MAILAND erwähnt, dass 'Gott kreiselnd, rund und lodernd ist'; ELUARD und PÉRET murmeln: 'Gott besänftigt die Koralle' ..." und so weiter, moderiertes Material: von Mystik und Koran bis zu gestandenen Agnostikern.

Litanei?, mag man erst fragen, bis einem aufgeht, dass pure Poesie am Werke ist. Novarina kombiniert aus dem Vollen der Gottesdefinitionen-Historie, wobei das Geheimnis der beträchtlichen Wirkung darin liegt, wie er sie mit "Zeitwörtern" orchestriert. Die virtuose Verbenliste reicht vom banalen "feststellen, versichern, aufwerfen" über "seufzen" und "einfließen lassen" bis "herausschreien", "-trompeten" und "wiederkäuen". Die Worte beginnen zu tanzen, sie bezeichnen nicht mehr bloß, sind Aussage und Behauptung, sondern schillernde Bewegung. Ein theatralischer Effekt, der der "Sache" spürbar näher kommt, als eine pfiffige Dogmatik oder deren Kernsatzbündelung das je könnten.

Besorgt und mit Effet übersetzt hat die Ausgabe der Schauspieler Leopold von Verschuer, der auch das spannende Register erstellte, in dem man die erstöbern kann, von denen das verwendete Material stammt. John Lennon begegnen wir, Nietzsche, James Joyce, natürlich Paulus und sogar "Je t'aime"-Sänger Serge Gainsbourg ("der ergänzt, dass 'Gott Havanna-Raucher ist';"). Fundgrube sondergleichen, anregende Bereicherung, spannendes Erlebnis und großes Vergnügen sind Novarinas "311 Gottesdefinitionen" in einem. Ihm sei darum auch hier das (vorerst) letzte Wort gegönnt: "VALÈRE NOVARINA bringt vor; dass 'Gott die vierte Person Singular ist'".

Valère Novarina: 311 Gottesdefinitionen. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012, 90 Seiten, Euro 10,-.

Udo Feist

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