Mollsucht

Eine Kindheit in der Altmark
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Mittels seiner bildhaften und ausdrucksstarken Sprache baut Holger Böwing in seinem zweiten Roman ein Haus, das dem Protagonisten Fabler - und dem Leser! - so viel Schutz gibt, dass er nicht verzweifelt.

Johannes Fabler wächst in den Sechziger- und Siebzigerjahren in einer Kleinstadt in der Altmark auf. Sein Vater, ein Lehrer, zieht sich bei einer Kampfgruppenübung eine Verletzung zu, die zu dessen frühen Tode führt. Die Mutter, ebenfalls Lehrerin, ist fortan hauptsächlich Witwe. Ihre schwere "Moll-Sucht" bestimmt auch Johannes' Alltag in einer DDR-Neubausiedlung. Seine Neugier auf das Leben, ja, seine Lebens-Sucht, erhält er sich trotz alledem. Holprig findet er seinen Weg, an dem er seine Leser als Ich-Erzähler teilhaben lässt. Gewiss erzählt der vorliegende Roman eine ostdeutsche Lebensgeschichte. Doch die familiäre und institutionelle Erziehung der Sechzigerjahre war deutschlandweit am Untertanengeist orientiert und auf Anpassung ausgerichtet. Bildung war weniger eine Anleitung zum selbstständigen Denken und Handeln, als vielmehr die Vermittlung von Wissen und Kulturtechniken - erlernt durch Drill. Geradezu beklemmend gibt Fabler darüber Auskunft. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich dabei um gesellschaftliche Normen der DDR oder religiöse Normen der Herrnhuter handelt. Mutter Fabler versucht, beide gründlich zu erfüllen und mutet sich und ihrem Sohn dabei ein konfliktreiches Leben in Parallelwelten zu: Jugendweihe am Wohnort und Konfirmation in "Gnädig", christliche "Rüstzeit" in "Herrlich" und sozialistischer Erholungsaufenthalt im FDGB-Heim.

Mittels seiner bildhaften und ausdrucksstarken Sprache baut Holger Böwing, Jahrgang 1958, in seinem zweiten Roman ein Haus, das dem Protagonisten Fabler - und dem Leser! - so viel Schutz gibt, dass er nicht verzweifelt. Hintergründiger Humor nimmt der Geschichte die Schwere und lässt die Lektüre auf kunstvolle Weise belletristisch sein. Leser in Ost und West werden sie mit Gewinn und hoher innerer Beteiligung lesen - und nicht selten Erfahrungen der eigenen Biografie wiederentdecken.

Holger Böwing ist kein Deutschlehrer. Gott sei Dank. Vielmehr steht ihm eine vitale, reife Sprache zur Verfügung, der man die Sprachliebe des Autors sowie das gründliche Lektorat abspürt. Das vorliegende Buch spricht Leserinnen und Leser an, die anspruchsvolle zeitgenössische Literatur zu schätzen wissen, die Freude an der Entwicklung von Menschen haben und wissen, dass Brüche, Gefährdungen und Umwege einem Leben Tiefe, Reife und Einmaligkeit sowie innere Unabhängigkeit geben können. Es ist ein lebenskluges und deshalb weises Buch, das vor allem psychologisch, pädagogisch und theologisch Interessierte mit Spannung und emotionaler Beteiligung lesen. So ist es auch ein Roman zur Geschichte der Pädagogik in Deutschland.

Böwing, der, ausgelöst durch die Veröffentlichung eines "politisch indifferenten" Gedichtes, unter besonderer Beobachtung des DDR-Staatssicherheitsdienstes stand, ist auch ein hoffnungsvoller und menschenfreundlicher Roman gelungen.

Holger Böwing: Fabler. Edition M, Lambrechtshagen 2012, 504 Seiten, Euro 28,80.

Volker Krolzik

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