Nicht die tiefste Realität

Über Trauerrituale,Tod und Sterben in den Weltreligionen
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Die Versicherung, dass der Tod nicht die tiefste Realität, dass er ein Durchgangsstadium zu einem anderen Leben sei, gehört zu jener Art von Trost, die Religionen für Trauernde bereithalten. Die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt über die Trauer und Trauerrituale in den Weltreligionen.

"Meine Arbeit ist getan", sagt der alte Lama, "jetzt kann ich ausruhen." Er geht in den Seitentempel des Klosters, wo er vor einer Statue des Avalokiteshvara, der Gottheit des Mitgefühls, seinen Meditationsplatz hat, setzt sich nieder, legt die Hände ineinander und versenkt sich in die Meditation. Bewegungslos verharrt er Stunde um Stunde, die Nacht hindurch bis zum nächsten Tag, zieht sich mehr und mehr aus dem Leben zurück. Die Mönche des bhutanesischen Klosters sind im Haupttempel zu einer feierlichen Gebetszeremonie versammelt, begleitet von Trommeln und tibetischen Trompeten, als sie die Todesnachricht erhalten. Die Musik und die Stimmen verstummen, der Abt hebt die Hand an die Stirn, einen Augenblick ist es ganz still. Dann stimmt mit tiefem Bass der Vorsänger das Herzsutra an: "Oh, Shariputra, die Form ist Leerheit und die Leerheit ist Form... Deshalb, Shariputra, ist in der Leerheit kein Körper, keine Empfindung, kein Bewusstsein, ... kein Auge, kein Ohr, keine Nase, ... kein Alter, kein Tod, kein Leiden..." Die Mönche sitzen und rezitieren, und über ihren Gesang legt sich, in der Stimme des verstorbenen Lama, die englische Fassung des rezitierten Textes. Dies ist eine der Schlusssequenzen aus dem Film "Little Buddha" von Bernardo Bertolucci (1993), der von der Suche eines alten tibetischen Lama nach der Wiedergeburt seines Lehrers handelt und auf unterhaltsame Art westliche Zuschauer mit Grundideen des Buddhismus vertraut macht. Vielleicht ist die geschilderte Sequenz nicht zuletzt deshalb so bewegend, weil sie, dem Klischee der "asiatischen Gelassenheit" folgend, fast völlig ohne äußere Bekundungen der Trauer bei den Mönchen auskommt und dadurch den Zuschauern ermöglicht, ihre eigene Trauer über den Tod einer liebgewordenen Filmfigur zu spüren und zugleich in der Rezitation Trost zu finden, da diese einen Existenzzustand beschreibt, in dem es keinen Tod und folglich keine Furcht gibt.

Der Tod ist das zentrale Sinnproblem des Menschen. Wir kennen keine Religion, die das Todesproblem nicht zu lösen suchte, und vielleicht gäbe es ohne den Tod überhaupt keine Religion. Und die vielen verschiedenen Antworten der Religionen auf das Todesproblem haben eine Gemeinsamkeit: Sie stellen eine Beziehung her zu einer transzendenten Realität, die den Tod relativiert, ihm die beherrschende Stellung zu nehmen sucht, die er als einzige sichere Tatsache unseres Lebens hat. Die Versicherung, dass der Tod nicht die tiefste Realität sei, dass er nicht wirklich existiere, von einer Gottheit besiegt worden sei, dass er ein Durchgangsstadium zu einem anderen Leben oder auch, dass er etwas Dazugehöriges, Notwendiges oder sogar Wünschenswertes, in jedem Fall aber kein endgültiges Ende sei, gehört zu jeder Art von Trost, die Religionen für Trauernde bereithalten.

Vom Schrecken sprechen

Doch auch, wenn dieser Trost angenommen wird, ist der Tod eines Mitmenschen immer ein Einschnitt, der heftige Gefühle verursacht und emotional verarbeitet sein will. Theologische oder sonstwie im Verbalen verbleibende Hinweise auf die Transzendenz reichen hierzu nicht aus. Für so gut wie alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben, sogar für solche, die eher areligiös sind, ist der Tod ein Anlass für Rituale. Der Heidelberger Theologe Theo Sundermeier, der lange in Afrika lebte und die dortigen Rituale studierte, schrieb 1977: "Es gehört zu den Grundverhaltensweisen des Menschen, Emotionen zu externalisieren und in Bewegung umzusetzen. Der Mensch will das, was ihn in seinem Innersten bewegt, anderen mitteilen und sie an den Krisen seines Lebens teilnehmen lassen; er weiß, dass er von dem Schrecken seiner Seele sprechen muss, damit das Unheil neutralisiert, die heilenden Kräfte aber gestärkt werden. Der Ritus ist die elementarste Form solcher Kommunikation. Er setzt in symbolische Sprache um, was sich oft der Sprachmitteilung entzieht."

Während, wie Sundermeier zu Recht anmerkt, der rituelle Umgang mit dem Tod im evangelischen Christentum sich heutzutage häufig auf ein Begräbnisritual beschränkt, aber keine eigentlichen Trauerrituale enthält, ist die rituelle Begleitung von Tod und Trauer in traditionellen Gesellschaften viel umfangreicher und beginnt lange vor dem Tod selbst. Es ist keine Frage, dass die rituelle Einbindung des gesamten Sterbe- und Trauerprozesses nicht nur die Todesangst reduziert, sondern auch den direkten Umgang mit Tod und Trauer heilsam beeinflusst.

Mit dem Tod vertraut

Rituale vor dem Eintritt des Todes sind dazu geeignet, Lebende und auch Sterbende mit dem Ablauf des Sterbens und der religiösen Bedeutung des Todes vertraut zu machen. Im traditionellen Tibet fing diese Art religiöser Erziehung sehr früh an: Ein tibetischer Lehrer, der später im Westen lebte, erinnert sich, dass er bereits als relativ junges Kind in Häuser geschickt wurde, wo Sterbende lagen, um zu lernen, wie ein buddhistisch begleiteter Tod abläuft und worauf es dabei religiös ankommt. In Tibet ist es auch üblich, als Vorbereitung auf den eigenen Tod das so genannte Tibetische Totenbuch zu lesen, eine Art Führer durch den "Zwischenzustand" zwischen Tod und neuer Wiedergeburt, der es ermöglichen soll, entweder die Erlösung zu erlangen, ohne wiedergeboren werden zu müssen, oder aber wenigstens die bevorstehende Wiedergeburt günstig zu beeinflussen.

Bei den Azteken, die den Tod eines Mannes auf dem Opferstein oder im Kampf als ehrenhaft ansahen, wurden männliche Kinder bereits bei der Geburt mit einem Spruch begrüßt, der diese Todesarten als Möglichkeiten andeutete und die Bereitschaft dafür wecken sollte. Ein christliches Vorbereitungsritual auf den Tod ist zum Beispiel im katholischen Wallfahrtsort Altötting vorgesehen, wo Kreuze an der Kirche stehen, die von den Gläubigen ergriffen und um die Kirche geschleppt werden, so wie auch Jesus sein Kreuz an den Ort seines Todes geschleppt hat.

Wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, kommen andere Arten des Rituals ins Spiel. Hindus wollen zum Beispiel möglichst am heiligen Fluss, der Göttin Ganga, sterben und verbrannt werden, was dazu führt, dass Familien zur Sterbebegleitung an den Ganges oder einen rituell mit diesem identifizierten Fluss ziehen. Meditativ geschulten tibetisch-buddhistischen Ordensleuten wird die Fähigkeit zugeschrieben, ihren Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen, für den sie sich dann, wie in unserem Filmbeispiel, in tiefe Versenkung versetzen und von dieser in den Tod hinübergleiten. Von großen Lehrern ist überliefert, dass sie nach Eintreten des Todes noch tagelang unbeweglich in der Meditationshaltung sitzen bleiben oder sogar, dass sich ihr Körper insgesamt in Licht auflöst.

Heilsame Totenwache

Ein in unserer eigenen Kultur lange dominantes Ritual, das leider heute fast nicht mehr ausgeübt wird, ist die Totenwache: Über einen Tag und eine Nacht hinweg wird der oder die Tote aufgebahrt, und Angehörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn kommen für längere oder kürzere Zeit dazu, wachen, beten, tauschen Erinnerungen aus und nehmen Abschied. Die Totenwache ist eine ausgesprochen heilsame Form, sich in Ruhe und religiöser Einkehr mit der neuen Seinsweise des Verstorbenen vertraut zu machen, anstatt, wie es heute üblich ist, den Leichnam so schnell wie möglich aus dem eigenen Umfeld zu verbannen.

Die intentionale Bestattung ist aus religionswissenschaftlicher Sicht einer der ältesten Hinweise auf die Anwesenheit von Religion beim Frühmenschen, da sie von einer über den Tod hinausgehenden Fürsorge für den Toten zeugen, zum Beispiel den Schutz vor Raubtieren. Es gibt jedoch andererseits zwei Religionen, die die Toten bewusst Raubtieren überlassen: Die Parsen, die in Indien ansässigen letzten Anhänger des persischen Religionsstifters Zarathustra, glauben, dass man die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft nicht durch eine Leiche verunreinigen dürfe und legen die Toten daher in bestimmten Gebäuden ab, in denen Geier sie fressen. In Tibet dagegen hat die so genannte Luftbestattung den Grund, dass es weder genug Erde zum Begraben noch Holz zum Verbrennen von Toten gibt. Zerhackte Leichen und zermahlenes, mit Gehirnmasse vermischtes Knochenpulver wird den Geiern vorgeworfen, so dass nichts vom Toten übrigbleibt. Tibetische Buddhisten sehen dies als eine letzte Liebesgabe des Verstorbenen an seine Mitgeschöpfe, Reinheitsvorstellungen wie bei den Parsen spielen also keine Rolle.

Auch die spirituelle Totenfürsorge der Tibeter ist außergewöhnlich: Bis zu 49 Tage lang liest man den Toten das erwähnte Tibetische Totenbuch vor, um in ihnen das bei ihrer eigenen Lektüre erworbene Wissen zu reaktivieren, das sie benötigen, um im Zwischenzustand ihr spirituelles Ziel, die Erlösung oder zumindest eine günstige Wiedergeburt, zu erreichen.

Furcht vor Wiedergängern

In christlichen Trauergottesdiensten betet man zwar um Gottes Frieden für die Toten, glaubt aber nicht, dass das Heil der Verstorbenen von den Gebeten abhängig ist. Das ist im Hinduismus anders. Hier hängt es von der rituellen Fürsorge insbesondere des ältesten Sohnes ab, ob ein verstorbener Hindu den Weg zu den Ahnen und schließlich zu einer guten Wiedergeburt findet. Die daraus resultierende Notwendigkeit, mindestens einen Sohn zu haben, ist einer der zentralen Gründe für die Überbevölkerung in Indien.

In vielen Religionen glaubt man, dass Verstorbene weiter am irdischen Leben ihrer Hinterbliebenen teilnehmen. Eine institutionalisierte Form dieses Glaubens ist der Ahnenkult in vielen Volksreligionen, zum Beispiel in China. Bei einigen Ureinwohnervölkern in Indien werden Ahnen in Trance angerufen und um Rat gebeten. Bei den Inkas in den Anden Südamerikas wurden den verstorbenen Inka-Herrschern in Gestalt ihrer Mumien weiterhin ihr Palast, Hofstaat und sogar Steuern zugestanden; an Feiertagen wurden sie in Prozessionen umhergetragen. Kindern wird auch bei uns oft zum Trost gesagt, dass ihre verstorbenen Eltern vom Himmel her auf sie schauen, ihnen helfen und sie beschützen.

Die Kehrseite des Ahnenglaubens ist die Wiedergängerfurcht, die Angst vor der Rückkehr eines Toten als Geist. Rituale sollen dieses verhindern. Im Hinduismus wird zum Beispiel auf dem Weg zur Verbrennungsstätte hinter der Leichenprozession der Weg gefegt, damit der Tote den Weg zurück nicht findet. Die rituelle Ablösung der engen Bindung zu einem Verstorbenen ist Teil jedes Trauer- und Bestattungsrituals.

Zur Paradoxie religiöser Sachverhalte gehört es, dass das, was als schlimmstes Unglück der Menschheit gilt, umgekehrt auch zu ihrem größten Heil werden kann. Tier- und Menschenopfer sind in vielen traditionellen Gesellschaften als heilsbringende, rettende und sogar Unsterblichkeit stiftende Rituale durchgeführt worden; durch die Tötung eines Anderen meinte man, ein besonders wertvolles Leben retten, einen Krieg gewinnen oder einen Acker fruchtbar machen, also insgesamt Leben fördern zu können. Bedarf es nicht des Todes des Alten, um das Leben zu erneuern? Im Christentum ist es der Tod Jesu Christi, der als entscheidender Schritt im Heilsprozess, zur Rettung der Menschen vor dem Tode, geglaubt wird; es kommt darauf an, den Tod Jesu "mitzusterben", um dann auch mit ihm auferstehen zu können. Hier ist es paradoxerweise der Tod selber, der Trauernden bleibenden Trost vermittelt.

Literatur

Christoph Elsas (Hg.): Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt. eb-Verlag, Berlin 2007/ 2011, Euro 19,80.

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Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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