Rätsel in aller Klarheit

Hans Aichinger, Maler der Leipziger Schule, stimuliert die Phantasie der Betrachter
Hans Aichinger in seinem Atelier. Fotos: maerzgalerie
Hans Aichinger in seinem Atelier. Fotos: maerzgalerie
Eine Galerie in Leipzig zeigte im Sommer 2013 unter dem Titel "Die Familie. Eine Aufstellung" Bilder des Malers Hans Aichinger, der wie Neo Rauch und Michael Triegel zum Kreis der Neuen Leipziger Schule gehört. Beate Bahnert besuchte ihn in seinem Atelier in der Leipziger Bauwollspinnerei.

Wie kann das sein? - Je näher ich an eines der Bilder trete, je deutlicher ich jedes Haar, jeden Faden, jeden Schimmer erkenne, desto weiter scheint es sich innerlich von mir zu entfernen. Was nichts daran ändert, dass mich jedes von Aichingers Bildern in den Bann zieht: merkwürdig isolierte Szenen, wenige Protagonisten, sparsame Requisiten. Die Betrachterin ertappt sich dabei, zu ihnen ein Vor- oder Nachspiel zu konstruieren. Aber alles bleibt ein Rätsel.

Pünktlich zur kürzlich beendeten Ausstellung in der Leipziger "maerzgalerie" erschien eine Monographie über den Künstler (Hans Aichinger. Wahrheit oder Pflicht, Hirmer Verlag GmbH, München 2013). Darin stehen Sätze wie: Das Anfertigen der Bilder sei in den letzten Jahren für Aichinger eine Auseinandersetzung mit dem Sein gewesen, "das beharrliche Herantasten an in Farbe geronnene Gedankengebilde, in denen sich gleichermaßen Gründe wie Abgründe des Lebens auftun. Das ist der Versuch, sich in Bereichen an Gewissheiten heranzumalen, in denen es diese nicht geben kann". Ihm sei nach Ende der 1990er-Jahre eine befreiende "Absenz von Sinn" gelungen, die inzwischen wieder einer metaphorischen Form der Sinnsetzung gewichen sei, bemerkt Joachim Penzel.

Solche geschwollen klingende Deutung lässt einen introvertierten Grübler erwarten. Stattdessen wird die Besucherin von einem agilen, leichtfüßigen und beredsamen Menschen im Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei abgeholt, weil sich normalerweise jeder anfangs hier verläuft. Über eiserne Treppen, durch abenteuerliche Gänge und hallende Hallen, vorbei an mancherlei künstlerischen Artefakten gelangen wir ins Atelier von Hans Aichinger - in einer der Produktionshallen, in denen bis zum Jahr 1989 viertausend Menschen im Drei-Schicht-Betrieb die Maschinen am Laufen gehalten haben, erzählt Aichinger unterwegs. Die 1884 gegründete Firma war einst die größte ihrer Branche in ganz Europa.

Frauen in Kitteln

Er selbst, Jahrgang 1959, erinnert sich an den "Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion", UTP, an extreme Hitze und extremen Krach und die gespenstergleichen Frauen in ihren grauen Kitteln. Wegen der Fusseln wurden die Hallen künstlich befeuchtet. Als Abiturient machte Hans Aichinger hier Lärm- und Staubmessungen, die allerdings keine Konsequenzen nach sich zogen. Immerhin bot die "Spinne" den Menschen Lohn und Brot, es gab Wohnungen und Kinderbetreuung bis zur Wiedervereinigung. Jetzt ist die Spinnerei in Plagwitz ein spannender Teil der Leipziger "Westkultur" mit Galerien (darunter die maerzgalerie, www.maerzgalerie.com), Werkstätten, Ateliers, Designerstudios, Druckereien, Kino, Theater, einem internationalen Tanz- und Choreografie-Zentrum, kurz, eine der buntesten Produktions- und Ausstellungsstätten für zeitgenössische Kunst und Kultur in Europa. "Das wird immer ein Paradies bleiben", ist sich Hans Aichinger sicher. Er bezog als einer der ersten hier ein Atelier. "Damals lief die Produktion zum Teil noch, aber es wurde bereits demontiert. Die Maschinen wurden in die Türkei verkauft und stellen jetzt noch Waren her, die wir importieren."

"Clash of Civilizations", 2013. Foto: maerzgalerie
"Clash of Civilizations", 2013. Foto: maerzgalerie
"Der innere Sinn", 2013. Foto: maerzgalerie
"Der innere Sinn", 2013. Foto: maerzgalerie

Bis heute zog er mehrmals auf dem Gelände um. Das Atelier wirkt momentan etwas leer, die Ausstellung in der Galerie nebenan ist zu Ende, ein großer Teil der Bilder verkauft. Es ist die Zeit vor dem schöpferischen Neubeginn. In der Mitte des hohen Raumes steht ein großer knallroter Dreh-Ohrensessel für Besucher. Der Künstler setzt sich entspannt auf seinen Stuhl und zündet sich eine Gauloise an - Picasso, Sartre, Camus rauchten sie, und eben Aichinger. Hektik ist ihm ein Fremdwort, er genießt Ruhe und Freiheit, verbunden mit der Möglichkeit, sich aus manchen Bereichen der Gesellschaft herauszuziehen. Hoch über den Dächern der Stadt bestätigt sich das Selbstverständnis des Malers: Unten findet das Leben statt, oben ist es einsam. Ein Künstler braucht den distanzierten Blick, um den Preis der selbst gewählten Isolation.

Vom Maurer zum Maler

Sein eigenes Leben hat ihn das gelehrt: Die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) nahm ihn, im Gegensatz zu den meisten anderen, sofort an, obwohl er in der Schulzeit eher unambitioniert gemalt hatte und "auch was ganz anderes hätte studieren können". Vorausgegangen waren der Dienst in der Nationalen Volksarmee und die Lehre als Baufacharbeiter. Er war Schüler von Bernhard Heisig, der mit Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer zu den Gründern der Leipziger Schule zählt. 1988 erlangte er sein Diplom. Nach dem Studium wurden die jungen Maler, die allesamt ihr Handwerkszeug und die Techniken der Alten Meister exzellent beherrschten, in die Nachwendezeit entlassen. Ihr Können war nicht gefragt, sie jobbten sich durch. Aichinger war von 1992 bis 1997 Assistent an der HGB und unterrichtete Studenten. Obwohl im öffentlichen Dienst sicher bezahlt, lähmte ihn die Anstellung geistig und schöpferisch, so dass er wieder als Maurer und, wie es sich ergab, als Maler arbeitete. Diese "randständige Position war die Voraussetzung, um Künstler zu werden". Eine Reihe internationaler Ausstellungen auch in dieser Zeit zeugen davon. 2001 hatte er, wie er sagt, das große Glück, den Galeristen Torsten Reiter kennenzulernen, der ihm in der "maerzgalerie" eine Beheimatung und Verkaufsbasis aufgebaut hat. Die "Leipziger Schule" war plötzlich international wieder gefragt, so dass auch Hans Aichinger endlich finanziell unabhängig werden konnte.

"Der Tanz", 2013. Foto: maerzgalerie
"Der Tanz", 2013. Foto: maerzgalerie
"Der Anarchist", 2013. Foto: maerzgalerie
"Der Anarchist", 2013. Foto: maerzgalerie

"Die Familie. Eine Aufstellung", war der Titel der kürzlich beendeten Ausstellung. Frauen und Kinder, Geschwister, Mutter und Tochter, der alte Vater, alles wirkliche Familienmitglieder, werden in Szenen festgehalten und stehen erstarrt, den Blick ins Innere oder in eine transzendente Ferne gerichtet. Selbst im Dialog (z. B. "Die Sprache") ist es ihnen unmöglich, irgendetwas zu lösen. Sie scheinen die Objekte aus Papier, Stoff oder Holz, die ihnen beigegeben sind, zu hinterfragen. Das Geheimnisvolle wird verstärkt durch die bestechende Klarheit der Darstellung. Karg nuancierte Farben; in der Mitte leuchtet ein Kleidungsstück rot oder blau: Einer der Hauptakteure auf den Bildern scheint das Licht zu sein.

Wenn Hans Aichinger in der Manier der Alten Meister malt, so hat er von ihnen auch die Kunst der Ausleuchtung gelernt. Tatsächlich sind alle diese Bilder der letzten Jahre - nachdem Hans Aichinger in unterschiedlichen Werkphasen vieles ausprobiert hatte - zunächst in sorgsamer Regie inszeniert und dann fotografiert worden. Nach den Fotos entstanden die Gemälde. Sie wirken wie eingefrorenes Leben, beklemmend, aber nicht trostlos. Gut, die dargestellten Menschen lebendig zu wissen. Ich stelle mir vor, dass alle nach ihrem Rollenspiel aufstehen, die Glieder schütteln, reden und lachen.

"Was hat ihm seine Familie nur angetan, dass er so kühl auf sie schaut?", fragte eine Leipziger Zeitung. Nichts, lautet die Antwort. Es handelt sich nicht um Seelen-Striptease, wie der Titel vermuten lassen könnte. Die Familienmitglieder spielen einfach mit und übernehmen die ihnen zugewiesenen Rollen. Die Tochter des Künstlers lässt auf dem Kopf ihres Großvaters, der weise vor einem Bücherstapel sitzt, marionettenhaft ein kleines Gerippe tanzen. "Der Tanz" kann bedeuten, dass alles vergänglich ist, dass in einem Kreislauf alles wiederkehrt. Das alles ist erträglich als Kunst, die eben "spielt" und die umso ehrlicher ist, je deutlicher sie sich dazu bekennt. Aichingers Affinität zur Oper ist folgerichtig: Die Tränen der Rührung, die dort fließen, sind andere Tränen als die der Betroffenheit.

Doch sein eigenes Leben nimmt Aichinger nicht als Spiel. Er ist seit fünfzehn Jahren mit seiner Frau zusammen, sie haben zwei Töchter von neun und dreizehn Jahren. Die lebhaften Mädchen schauen während unseres Gesprächs herein, denn es ist praktisch, den Vater in der Nähe zu haben, etwa, wenn man ihn beispielsweise als Chauffeur braucht.

Während einem dieser väterlichen Dienste schaue ich mich im Raum genauer um. Auf einem Schemel in der Mitte liegt das Neue Testament. Über der Eingangstür hängt ein kleines Kruzifix, an der Pinnwand darunter unter anderem Paul Gerhardts Verse "Ich hab in Gottes Herz und Sinn mein Herz und Sinn ergeben", in einem Programm der Bach-Kantate BWV 92. "Das ist ein schöner Text", erklärt der Künstler auf meine Frage, "der inspiriert mich. Und aus der Bibel beziehe ich die meisten Anregungen."

Doch die ikonographischen Bezüge seiner Bilder entschlüsseln sich nicht auf den ersten Blick und oft auch nicht auf den zweiten oder dritten. In "Simulation" beispielsweise öffnet eine Frau beinahe lechzend den Mund, während ihr eine andere, die ihr ähnlich sieht, etwas Rundes entgegenführt, eine Hostie möglicherweise, und das Motiv ist damit klar. Oder nicht? Sie könnte die Hostie auch ebenso gleich wieder zurückziehen. Eucharistie wie ein Dressurvorgang? - Oft steht der Bildtitel in Spannung zum Dargestellten. Darüber lächelt der Künstler: "Mich interessiert, was die Leute in meinen Bildern für Geschichten sehen. Ich habe manchmal selber keine - oder ich habe mehrere. Ein Bild gelingt erst mit dem Betrachter."

Ein Abendmahl oder eine Kreuzigung wird sich in Aichingers Werk nicht vordergründig finden lassen. "Ich habe zu viel Respekt davor", sagt er, und der Respekt sei umso größer, je größer das Symbol. Die Bilderwelt der heutigen Zeitgenossen bestehe aus lauter Oberflächlichkeit und Zeichenhaftigkeit, wodurch keine eigene Interpretation mehr möglich sei. Deshalb gibt er einen weisen und sorgenvollen Rat an alle, die mit Bildern umgehen: Je perfekter das Bild, desto schneller geht der Sinn für den Inhalt und das Wesentliche verloren. So erschließe sich auch der tiefe Sinn des Bilderverbots in der Bibel.

Immer wieder die Bibel - als wäre sie dem Hans Aichinger schon in die Wiege gelegt worden. Aber mitnichten - er stammt aus einem "gepflegten atheistischen Leipziger Haushalt", die Eltern waren Arbeiter, philosophisch interessiert, der Junge wuchs "zwischen Büchern eingeklemmt" auf, das Buch der Bücher war auch dabei. In die Junge Gemeinde kam er wegen der vielen Kontakte, die es sonst im DDR-Alltag nicht gab. Der Glaube kam erst später, für ihn geht er durch das Denken, und der Zweifel ist sein wesentlicher Bestandteil. Das Rätselhafte am Leben, das er versucht, mit seinen Bildern anzufragen. "Ich bin Protestant, ich bemühe mich, aber die letzte Entscheidung liegt nicht bei mir. Wenn mir etwas misslingt, ist es nicht immer meine Schuld. Manche Dinge muss man einfach in Demut annehmen." Da ist sie wieder, diese besondere Distanz, wie auf den Bildern. Auch Ironie setzt ja Distanz voraus. Wer so malt, hat auch subtilen Humor. "Wir haben hier in Leipzig Paul Gerhardt, Luther und Bach - was soll uns noch passieren?"

Beate Bahnert

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