Nehmt die Zigeuner ernst!

Sprachkosmetik hilft der Emanzipation eines Volkes nicht
Wir nennen sie "Sinti" und "Roma" und lassen alles beim Alten.

Seit Mitte Mai lebe ich in einem rumänisch-siebenbürgischen Dorf, das von Rumänen, Ungarn und Zigeunern bewohnt wird. Das erste, wirklich das erste, was ich hier lernte, war, dass die Zigeuner dieses Dorfes "Zigeuner" genannt werden wollen, und zwar in der hier üblichen Bezeichnung "Tzigan". Sie empfinden es nicht als Schimpfwort, sondern bezeichnen sich selbst so. Den Teil des Dorfes, in dem ihre meist ärmlichen Häuser stehen, nennen sie Tziganie, Zigeunerdorf, ihre Sprache Tziganeschte.

Je länger ich hier lebe, desto mehr beschäftigt mich das Schicksal dieses Volkes, wobei ich seine Bezeichnung für das geringste Problem halte.

In einem Nachbarort sagte mir eine alte Frau (da sie Deutsch sprach, bin ich keinem Missverständnis aufgesessen): "Roma, ganz egal, wie sie sich nennen, Hauptsache, sie benehmen sich anständig." Sie benutzte den Begriff "Roma" eindeutig negativ. Mit einer bloßen Wortkosmetik ist überhaupt nichts gebessert. Ich habe den Verdacht, dass wir Deutschen, in unserem Bemühen politisch überkorrekt zu sein, nicht gerade neues Unrecht begehen, wohl aber der Nazi-Ideologie zu einem späten Triumph verhelfen.

Weil im Deutschland der Nazizeit das Wort "Zigeuner" nicht nur verächtlich gebraucht wurde, sondern für viele der so Bezeichneten das Todesurteil bedeutete, meinen wir, es nicht mehr benutzen zu dürfen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir damit lediglich unser schlechtes Gewissen beruhigen und in gewohnter Kolonialherrenmanier zu wissen glauben, was für die anderen gut sei, nämlich, sie "Sinti" und "Roma" zu nennen.

Steigender Philoziganismus

Die Emanzipation der Zigeuner nimmt nicht mit einem anderen Namen ihren Anfang, sondern mit ihrer Wertschätzung und mit dem Wahrnehmen dessen, was tatsächlich ist. Seit einiger Zeit nehme ich einen steigenden Philoziganismus wahr, der jede Kritik verbietet: Die armen Zigeuner seien ein edles Volk; was ihnen an Schlechtem nachgesagt werde und was sie tatsächlich Schlechtes täten, sei das Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung. Warum trauen wir uns nicht zu sagen: Sie sind ein Volk wie andere, mit Schwächen und Stärken. Ich werde doch nicht ihr Feind, wenn ich zum Beispiel feststelle, dass in dem Dorf, in dem ich jetzt lebe, der Schulbesuch der Zigeunerkinder mangelhaft ist. Es gibt andere Dörfer, in denen es nicht so ist. Erst wenn ich klar hinschaue, kann ich nach den Ursachen fragen.

Mir fällt auf, dass es kaum eine "Zigeuner-Identität" gibt, also gibt es auch wenig Solidarität.

In Bukarest wurde ein Deutscher, der das Vertrauen einer Zigeunerfamilie besitzt, von dieser Familie vor "den Zigeunern" gewarnt. Das sind dann die Anderen, das ist der andere Familienclan, mit dem man nichts zu tun haben will. Das Denken in Familienstrukturen scheint mir stärker als eine Solidarisierung innerhalb der gesamten Zigeuner-Community.

Mir selbst hat hier im Dorf eine Zigeunerfrau gesagt, die mit ihrer Familie allerdings nicht in der Tziganie lebt, "die Zigeuner" würden stehlen, und bettelnde sollte ich gar nicht beachten.

Ausdruck von Verachtung

Es gibt ein bekanntes Foto des Wiener Roma-Musikers Harri Stojka, er bezeichnet sich selbst als "Roma", auf dem er ein Plakat mit folgendem Satz in Händen hält: Ich bin gegen das Wort "Zigeuner". Das ist sein gutes Recht, und ich mache mich auch nicht lustig darüber. Viel wichtiger ist für mich, und so sollte es nach meiner Meinung für uns Nichtzigeuner sein, gegen das herabsetzende Reden, gegen die schlechte Behandlung der Zigeuner zu sein. Darin scheint mir das echte Problem zu bestehen. Wir nennen die Angehörigen dieses Volkes "Sinti" und "Roma" und lassen alles beim Alten. Wir reden weiter schlecht über sie. Wir entlassen sie als erste, wenn ein Betrieb Angestellte entlassen muss. Wir bringen sie als Saisonarbeiter in jämmerlichen Unterkünften unter, die wir uns gut bezahlen lassen. Und wenn etwas gestohlen wird, sind sie es natürlich gewesen. Aber wir nennen sie nicht mehr "Zigeuner", weil das ihre Würde verletzt.

Andererseits wagen wir nicht, die oft anzutreffende Macho-Unkultur zu kritisieren, den Missbrauch der Kinder beim Betteln. Beschönigen und Wegsehen sind kein Ausdruck von Wertschätzung, sondern Ausdruck von Verachtung: Sie sind es nicht wert, dass ich genau hinsehe, dass ich sie als Personen wahrnehme.

Für mich beginnen Wertschätzung und Wahrhaftigkeit mit dem vorurteilslosen Wahrnehmen des Gegenüber. Dazu gehört auch das Wahrnehmen von Fremdheit und Andersartigkeit. Der Streit um die Bezeichnungen "Zigeuner", "Sinti" oder "Roma" ist für mich völlig nebensächlich. Er darf eine tatsächliche Änderung unseres Denkens und Verhaltens nicht ersetzen.

Jürgen Israel ist Publizist und lebt zurzeit als Dorfschreiber im rumänischen Katzendorf/Catza.

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