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Die Kirche des 21. Jahrhunderts braucht viele unterschiedliche Gemeindeformen
Schulanfängergottesdienst in der evangelischen Kirche von Bennigsen bei Hannover. Foto: epd-bild / Jens Schulze
Schulanfängergottesdienst in der evangelischen Kirche von Bennigsen bei Hannover. Foto: epd-bild / Jens Schulze
Aus finanziellen und theologischen Gründen müssen Alternativen zur klassischen Ortsgemeinde verstärkt gefördert werden, meint Uta Pohl-Patalong. Die Kieler Professorin für Praktische Theologie plädiert dafür, Gemeinden nicht mehr nach ihrer Mitgliederzahl zu finanzieren, sondern nach der geleisteten Arbeit.

Die Frage nach der künftigen Gestalt der evangelischen Kirche wird seit einigen Jahren immer wieder gestellt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Diagnosen, worin genau die Krise der Kirche besteht und wer oder was dafür verantwortlich ist, dürfte unstrittig sein: Es geht um ein Nachdenken über die Aufgaben der Kirche im 21. Jahrhundert und wie sich diese bestmöglich erfüllen lassen. Dass dabei die Frage nach der Gemeinde und ihrer Form gestellt wird, ist da nur konsequent. Theologisch sind ganz unterschiedliche Formen von Gemeinde möglich und legitim.

Die bis heute dominante Form der Ortsgemeinde, die "Parochie", ist eine historisch gewachsene. Ihre Elemente lösten in den Epochen ihrer Entstehung bestimmte Probleme. Aber theologisch kommt ihr kein Vorrang vor anderen Gemeindeformen zu. Biblisch gibt es kein eindeutiges Bild von Gemeinde. Die biblischen Bücher haben vielmehr unterschiedliche Sozialformen der frühen Christinnen und Christen vor Augen. Theologisch wird eine Gemeinde nicht durch räumliche Grenzen definiert, sondern bezeichnet eine Gemeinschaft, die sich regelmäßig oder zu bestimmten Gelegenheiten unter dem Dach der Kirche versammelt und bestimmte Merkmale erfüllt: den Bezug auf Christus als Grund der Gemeinde, die Zugehörigkeit zur Kirche, ihre Bereitschaft zur Vergemeinschaftung der Verschiedenen und ein Bezug zur Welt. Eine regelmäßige Feier des Gottesdienstes und weitere Aspekte des kirchlichen Auftrags in der Welt sind erkennbar. Gemeinde eröffnet Raum zum Glauben, fördert und begleitet diesen. Sie wird durch Amt und allgemeines Priestertum geleitet und eröffnet die Teilhabe der Mitglieder. Sie hat eine eigenständige Leitungsstruktur und versteht sich in wechselseitiger Steuerung mit der Gesamtkirche.

In Deutschland dominiert die Ortsgemeinde bislang sowohl zahlenmäßig als auch kirchenrechtlich. Die meisten Kirchenordnungen verstehen sie als Grundform. So dient sie als Grundlage der Erhebung von Kirchensteuern, indem jedes Mitglied der evangelischen Kirche automatisch qua Wohnort als Mitglied einer bestimmten Gemeinde geführt wird, sofern es sich nicht umgemeinden lässt.

90 Prozent nicht erreicht

Hier wird ein Erbe weitergeführt, das auf das vierte Jahrhundert zurückgeht, als die Kirche zur Reichskirche wurde. Das territoriale Denken hat seinen Ursprung darin, dass das christlich definierte Gebiet flächendeckend aufgeteilt wurde, um die Bevölkerung vollständig zu erfassen. Endgültig wurde diese parochiale Gliederung der Kirche in den folgenden Jahrhunderten mit dem Pfarrzwang und der Pflicht zur Abgabe des Zehnten durchgesetzt.

Die heutige Ortsgemeinde ist aber nicht nur ein religiöser Verwaltungsbezirk. Zum territorialen Element aus dem Mittelalter trat vor rund 120 Jahren ein zweites Element hinzu: Als sich im Zuge der Industrialisierung und der beginnenden Moderne vor allem die Arbeiter, aber auch die gebildeten Bürger zunehmend von der Kirche entfernten, wurde die Gemeinde als ein "Hort christlicher Liebe" neu entworfen, der soziale Kontakte, moralische Orientierung und Freizeitgestaltung anbot. So konnte die Kirche Menschen mit dem Evangelium erreichen. Eine wichtige Grundlage bildete die damalige Einheit von Wohn-, Arbeits- und Freizeitwelt sowie einigermaßen identische Interessen der Gemeindeglieder. Seitdem haben Kirchengemeinden über ihre Funktion als religiöser Verwaltungsbezirk hinaus den Anspruch, Menschen mit bestimmten religiösen Angeboten zu erreichen und eine christliche Gemeinschaft zu bilden.

Das gelingt gegenwärtig bei rund 10 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder, während 90 Prozent nicht erreicht werden. Seit einigen Jahren ist mit den so genannten Milieustudien noch deutlicher geworden, dass dies nicht nur - vermutlich nicht einmal primär - eine Frage der Frömmigkeit ist, sondern in nicht unerheblichem Maße auch eine des Milieus, dem man angehört. Die traditionellen Ortsgemeinden erreichen bestimmte Bevölkerungsgruppen deutlich besser als andere. Das hängt damit zusammen, dass die Milieus sich nicht nur durch Alter, Bildung, Einkommen und Musikgeschmack unterscheiden, sondern auch durch ihre Orientierung am Nahbereich oder an größeren Regionen, an bestimmten Formen von Gemeinschaft und Veranstaltungen, bei der Mobilität und beim kulturellen Geschmack

Traditionell und wenig mobil

Die Ortsgemeinde, die Parochie, erreicht vor allem Menschen, die wenig mobil und eher traditionell orientiert sind, die sich am Nahbereich orientieren, hier Gemeinschaft suchen und regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen besuchen. Dem entsprechen vorrangig zwei von insgesamt sechs Milieus evangelischer Kirchenmitglieder. Es ist nicht nur eine Minderheit der Evangelischen, sondern es sind ausgerechnet die beiden ältesten Milieus, die die Ortsgemeinde gut erreicht. Mit den mittleren und den jüngeren Milieus gibt es dagegen größere Kommunikationsschwierigkeiten: Ihnen passt die Form der Ortsgemeinde eher wenig.

Wenn sich die Kirche einseitig auf eine bestimmte Organisationsform konzentriert und damit bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zum Evangelium erschwert, ist dies theologisch problematisch. Denn der Auftrag der Kirche lautet nach Matthäus 28, das Evangelium aller Welt zu kommunizieren und nicht nur bestimmten Gruppen. Und wenn man sich dann auch noch auf die älteren Bevölkerungsgruppen konzentriert, ist dies für die Zukunft der Kirche problematisch.

Die Erkenntnis, dass die Ortsgemeinde nicht alle Kirchenmitglieder erreicht, ist nun nicht ganz neu. Bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde in den westdeutschen Landeskirchen über Ergänzungen zur Ortsgemeinde nachgedacht, weil diese in der spätmodernen Gesellschaft offensichtlich nur unzureichend ihre Aufgabe erfüllte, Menschen mit der "Missio Dei", der Mission Gottes zu erreichen, die allen gilt und in die Kirche hineingenommen wird.

In den Achtzigerjahren wurden dagegen - wohl nicht zuletzt aufgrund einer gewissen Experimentiermüdigkeit - die Ortsgemeinde und die Symbolkraft des Pfarramts neu entdeckt und wieder wertgeschätzt. Das leitete eine Phase der beinahe unhinterfragten Dominanz der Parochie ein.

Zeichen des Rückbaus

Die Neunzigerjahre setzten das Thema der kirchlichen Strukturen erneut auf die Tagesordnung, dieses Mal jedoch weniger inhaltlich motiviert als finanziell. Insofern stand das Nachdenken über die kirchlichen Organisationsformen häufig im Zeichen des Rückbaus. Die Gelder für übergemeindliche Einrichtungen wurden meist überproportional gekürzt, so dass häufig eine relative Stärkung der Ortsgemeinden erfolgte.

Mittlerweile wird jedoch immer deutlicher: Das Modell Ortsgemeinde stößt finanziell und inhaltlich an seine Grenzen. Denn es ist eines der teuersten aller denkbaren Modelle, Kirche zu organisieren: Einerseits beruht es wesentlich auf Flächendeckung, so dass sich eine Gemeinde räumlich an die nächste anschließen muss, ohne dass sich zwischen ihnen weiße Flecke auftun. Sonst würde das aus dem Mittelalter stammende Zuweisungsprinzip, das alle Kirchenmitglieder qua Wohnort einer Gemeinde zuordnet, nicht funktionieren. Andererseits lebt die Ortsgemeinde seit ihrem Neuentwurf Ende des 19. Jahrhunderts von Überschaubarkeit und persönlichen Kontakten vor allem zur Pfarrperson. Daher darf die Gemeinde auch nicht zu groß werden. Wenn Gemeinden aber zusammengelegt werden, ohne dass grundlegend überlegt wird, was dies für die Kommunikation des Evangeliums bedeutet und wie Menschen in den neuen Strukturen bestmöglich erreicht werden können, dürften die Chancen der Ortsgemeinde signifikant zurückgehen, die wesentlich auf persönlichen, informellen Kontakten und Kompetenzen für den Nahbereich beruhen.

Insofern ist es sinnvoll, dass über Alternativen zur Ortsgemeinde nachgedacht wird. Dabei erleben wir gegenwärtig, dass das vorsichtige praktisch-theologische und kirchenleitende Nachdenken von der Entstehung neuer Formen von Gemeinde überholt wird, die ebenso lebendig wie erfolgreich sind. Solche Gemeinden bilden sich um Citykirchen, Jugendkirchen und Kirchen der Stille. Oder Menschen organisieren sich als Gemeinschaft in einer Ortsgemeinde, indem sie sich zu bestimmten Themen und Projekten zusammenfinden und für eine bestimmte Zeit in einer bestimmten Konstellation Gemeinde leben.

Kaum Alternativen

Viele der neuen Gemeindeformen sprechen gerade Menschen an, die die Ortsgemeinde kaum erreicht. Jugendliche, Menschen in schwierigen sozialen Verhältnissen, beruflich eingespannte Menschen, aber auch spirituell Suchende finden in diesen Gemeindeformen eher eine Heimat als in der Ortsgemeinde. Wenn die Kirche sich nicht darauf beschränken möchte, ihr Handeln vorrangig auf 10 Prozent überwiegend ältere Kirchenmitglieder auszurichten, dürfte es kaum eine Alternative zur Entwicklung und Förderung unterschiedlicher Gemeindeformen geben.

Dies ist für die Kirche - mit einer langen Geschichte als Institution mit klaren Verwaltungseinheiten - ungewohnt und führt nicht selten zu Irritationen. Es stellen sich Fragen wie: Sind die neuen Formen christlicher Gemeinschaft als "Gemeinden" zu bezeichnen? Haben sie den gleichen Status und die gleichen Rechte wie Ortsgemeinden? Wie werden sie finanziert? Dürfen sie Taufen, Trauungen und Beerdigungen vornehmen?

Für die Ortsgemeinden bedeutet dies, dass sie Menschen an andere Gemeinden "verlieren", die sie als ihre Kirchenmitglieder empfinden und die ihnen rechtlich zugeordnet sind. Das ist nicht einfach zu akzeptieren, zumal es sich zumeist um besonders engagierte Kirchenmitglieder handelt. Die Entwicklung erfordert insofern eine Veränderung kirchlicher Kultur und Mentalität, als dass weniger für die eigene Gemeinde und mehr für die Gesamtkirche gedacht werden muss.

Die Ortsgemeinden müssen ihren Charakter verändern. Sie müssen sich stärker als bisher als ein Weg neben anderen verstehen, das Evangelium zu kommunizieren. Sie erwarten dann nicht, dass der Kontakt zum Evangelium vorrangig in ihnen und nur ausnahmsweise über andere kirchliche Formen stattfindet. Sie verstehen sich dann stärker als Teil der Gesamtkirche. Ziel einer Ortsgemeinde ist dann nicht, dass Menschen zu ihr Kontakt haben, sondern dass sie vom Evangelium erreicht werden - gleich wo und auf welchen Wegen. Gleichzeitig kann die Ortsgemeinde dann ihre spezifischen Stärken und Chancen nützen: Nähe zum Wohnort, kurze Wege, lokale Kompetenz, persönlicher Kontakt und Verbindung von Religion und Geselligkeit. Sie fühlt sich dann nicht mehr für alle religiösen Bedürfnisse der Kirchenmitglieder in ihrem Bezirk zuständig, sondern nur für bestimmte.

"Form follows function"

Kirchenrechtlich ist es dann nicht mehr sinnvoll, Kirchenmitgliedschaft als Mitgliedschaft in der Ortsgemeinde zu fassen. Die Bezugsgröße müsste vielmehr die Landeskirche oder der Kirchenkreis sein. Der Grundsatz, dass Taufen, Trauungen und Bestattungen von der Gemeinde am Wohnort vorgenommen werden, wäre dann gegenstandlos, sie könnten unabhängig von der Gemeindeform gewünscht werden. Und ein neues System der Verteilung finanzieller Mittel muss gefunden werden, das stärker die in einer Gemeinde geleistete Arbeit als die Bevölkerungszahl in einem Gebiet berücksichtigt.

Dies erfordert ein Umdenken und in mancherlei Hinsicht einen Abschied von gewohnten Strukturen. Und der wird nicht ohne Trauer und Protest erfolgen. Denn ein nicht unerheblicher Teil derjenigen, die als Haupt- und Ehrenamtliche in der Kirche aktiv sind, in kirchlichen Gremien sitzen und sich artikulieren, haben verständlicherweise eine gewisse Nähe zu den traditionellen Strukturen. Allerdings gibt es auch hauptamtlich und ehrenamtlich Tätige, die nach neuen Gemeindeformen suchen und diese als Chance sehen, auf anderen Wegen an der Kommunikation des Evangeliums teilzuhaben und Kirche mit mehr und unterschiedlicheren Menschen als bisher gemeinsam zu gestalten.

Für die Kirchenleitungen ergibt sich die Aufgabe, die Entstehung neuer Gemeindeformen ebenso zu fördern und zu begleiten wie die Veränderungen, die für die Ortsgemeinden nötig werden. Wichtig dürfte dabei sein, dass es keine prinzipiellen Bevorzugungen einer bestimmten Gemeindeform gibt, weder eine der Ortsgemeinde noch die einer anderen. Vielmehr muss jede Gemeindeform mit ihren Chancen und Grenzen gesehen werden. Zentrales Kriterium für die Existenz und Unterstützung von Gemeinden, auch finanzieller Art, sollte die Kommunikation des Evangeliums sein, also die Frage, ob die jeweilige Sozialform bestmöglich geeignet ist, das Evangelium zu kommunizieren. Dieser Frage müssen sich alle Gemeinden immer wieder stellen. "Form follows function" - nicht umgekehrt.

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Uta Pohl-Patalong

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