Schrecklichster der Schrecken?

Die konfessionelle Pluralisierung war ein kultureller und politischer Gewinn
Augsburger Taufbecken von Jeremias Sibenbürger, 1630: Im Mittelpunkt die Taufe Christi.Foto: Katalog "Als Frieden möglich war", Schnell & Steiner, Regensburg 2005, Seite 444
Augsburger Taufbecken von Jeremias Sibenbürger, 1630: Im Mittelpunkt die Taufe Christi.Foto: Katalog "Als Frieden möglich war", Schnell & Steiner, Regensburg 2005, Seite 444
Anlässlich des Themenjahres "Reformation und Politik" erinnert Friedrich Wilhelm Graf, Professor für Systematische Theologie in München, an eine seltsame Dichotomie: Hie Luther als aufklärerische Lichtgestalt, dort das Luthertum als Inbegriff von Reaktion und Rückständigkeit.

Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein." In seinen "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" hat der Philosoph G. W. F. Hegel 1822/23 Martin Luthers Reformation zur Geburtsstunde der Neuzeit stilisiert. Die Wittenberger Reformation sei aus dem tiefen "Verderben" der mittelalterlichen Kirche hervorgegangen, als kritische Reaktion auf jenen "Wunderglauben der ungereimtesten und läppischsten Art", wie er in Heiligenkult, Wallfahrten und Ablasshandel verbreitet worden sei.

Hegels Sicht wurde um 1800 von vielen anderen protestantischen Meisterdenkern in Deutschland geteilt. Sie feierten Luther, den einsam um Gottes Gnade ringenden Mönch und Theologieprofessor, als nationalen Freiheitshelden, der den von der Papstkirche unterjochten Deutschen das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit erstritten habe. Der Reformator galt ihnen als erster moderner Mensch, der das finstere Mittelalter hinter sich gelassen und das helle Glaubenslicht der Freiheit angezündet habe.

Römisch-katholische Geschichtsdeuter machten sich diese Deutung negativ zu eigen. Sie verteufelten Luther als den Urrevolutionär der Moderne, der in seinem sündhaften Aufstand gegen die päpstliche Autorität ein anarchisches Prinzip, die Unmittelbarkeit jedes frommen Einzelnen zu Gott, in die Welt gebracht und so alle Ordnungsstrukturen unterminiert habe.

Hier wie dort war Reformationsdeutung stark geprägt von den politischen Zielen und Hoffnungen der jeweils Deutenden. Und niemals ging es nur um Religion und Kirche. Vielmehr wurde immer auch die Frage verhandelt, was der reformatorische Protest für die politischen Verhältnisse in Deutschland und Europa bedeutet habe. Vor allem unter dem Eindruck der Französischen Revolution mit ihrer Forderung nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" wurde die Reformationsdeutung stark politisiert.

Besonders gut ließe sich dies am harten Grundlagenstreit um die wahre politische Ordnung zeigen, den im deutschen Vormärz politisch wie religiös Frühliberale einerseits und theologisch wie politisch frühkonservative Lutheraner und katholische Restaurationstheoretiker andererseits führten. Auf allen Seiten wurden hier die Debatten, wie nach der revolutionären Zerstörung der alten feudalständischen Gemeinwesen eine neue verbindliche Ordnung gestaltet werden solle, mit Bezug auf die Reformation des 16. Jahrhunderts geführt.

Liberale und Frühkonservative

Die Liberalen nahmen Luther für sich in Anspruch, weil er für die Freiheit gekämpft, das städtische Bürgertum gestärkt, alles klerikale Machtstreben verworfen und in seiner Lehre vom weltlichen Beruf des Christen sowie mit seiner Regimentenlehre, also der Unterscheidung zweier Regierweisen Gottes, die souveräne "Eigenständigkeit der Welt" gelehrt, also die politische Ordnung vom Kirchlichen und Religiösen emanzipiert habe.

Umgekehrt sahen die deutschen frühkonservativen Lutheraner in ihren Staatstheorien und politischen Ethiken Luther als den Garanten einer starken Ordnung, der im Wissen um die konstitutive Sündhaftigkeit des Menschen die Freiheit des einzelnen immer durch einen starken Sitten- und Kulturstaat begrenzt habe.

Und die katholischen Theoretiker von Restauration und Gegenrevolution wie -allen voran - Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald und Joseph de Maistre stimmten zwar den aufgeklärt Liberalen darin zu, dass Luther primär ein Glaubensrevolutionär gewesen sei, der dem einzelnen radikale Freiheit habe geben wollen. Aber sie zogen daraus eine ganz andere Folgerung als die Liberalen. Indem Luther das Priestertum aller Gläubigen gelehrt und den geistlichen Vorrang der geweihten Kleriker von den Laien, den einfachen Gläubigen, abgelehnt habe, habe er nicht bloß das wahre Wesen der kraft göttlicher Stiftung nun einmal hierarchisch geordneten, vom unbedingten Gehorsam gegen den Papst und seine Bischöfen bestimmten Kirche verkannt. Seine Absage an jede geistliche Autorität habe notwendig auch zur Vergötzung der weltlichen Autorität geführt. Hier wurde Luther als ein "Fürstenknecht" gedeutet, der infolge seiner religiösen Revolution, der Auflösung aller geistlichen Ordnung, nur noch durch affirmative Staatsfrömmigkeit und servilen Untertanengehorsam politische Ordnung habe sicherstellen können.

Europaweite Debatten

Debatten über die politischen Folgewirkungen wurden im frühen 19. Jahrhundert, speziell in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, keineswegs nur im deutschen Sprachraum geführt. Sie waren, dies ist wichtig zu sehen, europaweit geführte Debatten, auch wenn natürlich die Fragen nach Konfession und Politik die gemischt-konfessionellen Gesellschaften wie Deutschland, England, die Niederlande und die Schweiz stärker betrafen und beschäftigten als die konfessionell weithin homogenen, entweder vom Katholizismus oder aber vom Luthertum geprägten Länder des lateinischen Europas im Süden und des protestantischen Europas in Skandinavien.

In diesen vormärzlichen Debatten über die politische Ethik des Katholizismus einerseits und die politische Ethik des Protestantismus andererseits führten deutsche protestantische Theologen seit dem dreihundertjährigen Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses 1830 eine ebenso wichtige wie folgenreiche Unterscheidung ein. Der reformierte Neutestamentler und Kirchenhistoriker Karl Bernhard Hundeshagen, der seit 1834 in Bern lehrte und 1847 nach Heidelberg ging, und der aus dem Tübinger Stift ebenfalls 1834 nach Bern kommende Systematische Theologe Matthias Schneckenburger, ein Lutheraner, hatten mit ihrem Wechsel in die Schweiz die tiefen Differenzen zwischen deutscher lutherischer Religionskultur und den ganz anderen Glaubensverhältnissen in der reformierten, von Johannes Calvin und Ulrich Zwingli geprägten Eidgenossenschaft erfahren. Deshalb beschäftigten sie sich intensiv mit den innerprotestantischen Konfessionsgegensätzen und hier speziell den so anders gearteten politischen Ethiken der Reformierten und der Lutheraner. Ihre Namen sind heute nur noch Experten für die theologische Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts bekannt. Doch gewannen die beiden Gelehrten mit ihren großen komparatistischen Studien über den reformierten und lutherischen "Lehrbegriff" bei protestantischen Juristen, Historikern und Theologen ihrer Zeit großes Ansehen und vielfältigen Einfluss.

Quietismus oder Aktivismus

Beide betonten, dass lutherische Frömmigkeit eher passiv bestimmt sei und zu Quietismus führe. Reformierter Religiosität erkannten sie demgegenüber ein aktivistisches Moment und starken Gestaltungswillen zu. Auch wiesen Hundeshagen wie Schneckenburger immer wieder auf die politischen Implikationen theologischer Lehren und die elementar differenten Kirchentheorien der Reformierten und Lutheraner hin. Die starke Stellung der sich selbst ordnenden Einzelgemeinde, die Kirchenzucht durch die gemeinsam beratenden und entscheidenden Gemeindeältesten und das Synodalprinzip hätten bei den Reformierten starke Strukturen lokaler Selbstverwaltung mit hoher Partizipationsbereitschaft der Gemeindeglieder entstehen lassen.

Das deutsche Luthertum habe hingegen mit dem landesherrlichen Kirchenregiment und der Drei-Stände-Ethik die Kirche sehr eng mit der politischen Obrigkeit verknüpft und so deren Autorität gestärkt. Das Luthertum habe in seinen stark von Melanchthons Aristotelismus geprägten Ethiken ein Gemeinwohlethos entfaltet, das die Aufgabe des Bürgers primär auf seinen Beitrag zum Gelingen des Gemeinwohls bezog. Durch Hundeshagen und Schneckenburger wurden erstmals jene Grundunterscheidungen zum Thema "Protestantismus und Politik" formuliert, die noch die gegenwärtigen europapolitischen Debatten prägt: die Vorstellung von einer spezifischen Demokratienähe des westeuropäischen, reformierten Protestantismus einerseits und die hohe Sozialstaatsnähe des lutherischen Protestantismus andererseits.

Drei Klassiker

Zum Thema sind drei weitere Klassiker zu erwähnen, alle drei viel gelesene Meisterdenker aus dem liberalen Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900. 1895 veröffentlicht der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek, Sohn eines berühmten liberalen Rabbiners aus Wien, die kleine, aber wirklich feine Studie "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte". Die Menschenrechte seien, so die These des später zur evangelischen Kirche konvertierenden Juristen, nicht in der Französischen Revolution, sondern früher schon in den amerikanischen Kolonien entdeckt und formuliert worden, vor allem im Zusammenhang juristischer wie theologischer Debatten über das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit. Jellinek leitet die entscheidenden Verfassungsprinzipien moderner Demokratien und freiheitlicher Rechtsstaaten, die Menschenrechte, aus dem Geist eines genuin reformierten, puritanischen Freiheitsethos her.

Damit sensibilisiert er zwei jüngere Heidelberger Freunde dafür, nun ihrerseits nach den möglichen Wirkungen calvinistischer Frömmigkeit in nichtreligiösen Lebenssphären zu fragen. 1904/05 veröffentlicht der kulturprotestantisch sozialisierte Jurist und Ökonom Max Weber, durch seine Mutter und Tanten bestens mit hugenottischen Überlieferungen und der liberalprotestantischen Sozialreligion des Unitariers William Ellery Channing bekannt, einen später weltberühmten Aufsatz "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus". Ernst Troeltsch folgt 1905 mit einer großen Monographie "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" und 1906 mit einem ebenfalls schnell berühmten, schon 1912 ins Englische übersetzten großen Vortrag "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt".

Die beiden zunächst engen, seit 1915 zerstrittenen Freunde Troeltsch und Weber dramatisieren erneut die politische Entgegensetzung von Calvinismus und Luthertum: Der Calvinismus stehe für Menschenrechte, westliche Demokratie, Bürgerfreiheit, kapitalistisches Erfolgsstreben und das tätige politische Engagement eines selbstbewussten Bürgertums. Das Luthertum, gerade in Deutschland, habe hingegen politische Passivität, Rückzug in die Innerlichkeit, Untertanengehorsam, Autoritätskult und Staatsfrömmigkeit befördert, sei also für den Mangel an freiem Bürgerstolz in der nur scheinkonstitutionellen politischen Kultur des Kaiserreichs verantwortlich. Troeltsch bezeichnet das Luthertum als "eine preußische Herrenreligion", und Max Weber klagt 1906 nach der Rückkehr aus den USA in einem Brief an Adolf von Harnack: "So turmhoch Luther über allen Anderen steht, - das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte." Das Luthertum sei dafür verantwortlich, "daß unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form durchgemacht hat" - genau dies, harte innerweltliche Askese und dadurch erzeugte Energie, sei die große Leistung des Calvinismus.

Antidemokratische Affekte

Urteile über historische Einflüsse, mentale Prägekraft und politische Wirkungen religiösen Glaubens sind immer stark abhängig vom kontingenten Sehepunkt des Urteilens. Wer wertet, bringt seine Maßstäbe ins diskursive Spiel. Gewiss, die Geschichte lutherischer Universitätstheologie in Deutschland zeigt bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein starke antidemokratische Affekte. In den Jahren der Weimarer Republik waren die führenden lutherischen Theologen, mit wenigen Ausnahmen einzelner liberalprotestantischer Lutheraner wie Otto Baumgarten, Martin Rade und Rudolf Otto, an vorderster Front daran beteiligt, die Republik durch Kampf gegen alles "westliche Denken" sturmreif zu schießen. Dennoch muss eine Bilanz, jedenfalls meine individuelle Bilanz, differenziert ausfallen und neben den Übeln, den lutherischer Quietismus in der deutschen politischen Kultur erzeugt hat, auch Gewinne in den Blick nehmen.

Zunächst: Der wohl größte Gewinn ist die zwar gegen Luthers ursprüngliche Intention, aber angesichts der schnellen Wirkung seines Protests doch mit innerer Notwendigkeit erfolgte konfessionelle Pluralisierung des Christlichen seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Seitdem ist fortwährend umstritten, was denn das wahrhaft Christliche ist. Und dies ist nicht etwa, wie manche Ökumene-Ideologen suggerieren, zu bedauern, sondern als religionskulturell wie allgemeinhistorisch produktiv zu beurteilen.

Denn allein durch die neue christliche Glaubensvielfalt und das damit glücklich bewirkte Ende eines christlichen Großreiches mit Dauerrivalität zwischen Papst und Kaiser konnten sich indirekt jene modernisierenden Wirkungen entwickeln, die sich ohne Absicht eines der religiös Beteiligten ergaben: die allmähliche Säkularisierung des positiven, staatlichen Rechts, die Pazifizierung von Religionskonflikten über komplexe rechtliche Stillhaltearrangements und Toleranzprinzipien, die Stärkung der politischen Obrigkeit gegenüber kirchlichen Machtansprüchen. Zudem: Aller Dreiständeorientierung zum Trotz stärkt die Reformation die Freiheit eines Christenmenschen, der nun, unmittelbar zu Gott, aus der Vormundschaft der Kirche entlassen ist. Das konnte immer wieder auch für politische Freiheitsansprüche fruchtbar gemacht werden. Drittens: Die Lehre vom weltlichen Beruf des Christen verändert fundamental die Selbstdeutung des Menschen und erlaubt es ihm, das Weltliche positiv und tätig zu würdigen. Goethe hat von protestantischer "Weltfrömmigkeit" gesprochen. Das kann, im gelingenden Fall, in politischer Nüchternheit, Arbeit am Detail, Bemühen um Sachlichkeit und Skepsis gegenüber allen großen ideologischen Heilsversprechen Gestalt gewinnen.

Friedrich Wilhelm Graf

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Foto: dpa/Horst Galuschka

Friedrich Wilhelm Graf

Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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