Ethik konkret

Wie viel Gerechtigkeit ist nötig?
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Die Ablehnung der üblichen Arbeitsteilung zwischen Gerechtigkeitstheorie und anwendungsorientierter Ethik eröffnet viele neue und unerwartete Zu- und Übergänge.

Das Konzept der Befähigungsgerechtigkeit des Erlanger Theologen und Ethikers Peter Dabrock lässt sich auch als Beitrag zum Motto des diesjährigen Deutschen Evangelischen Kirchentages lesen: "So viel es braucht". Das Buch geht auf umfangreiche Vorarbeiten des Autors zurück, die ihn als profunden Kenner der Sache und innovativen Teilnehmer an den einschlägigen gesellschaftspolitischen und institutionalisierten Debatten ausweisen.

Die Publikation ist in fünf Teile gegliedert: Nach einem Eingangskapitel zu den theoretischen, philosophischen, theologischen und ethischen Grundlagen schließen sich die beiden zentralen Theoriekapitel zum biblisch-theologischen Gerechtigkeitsverständnis und zum Konzept der Befähigungsgerechtigkeit an.

Proben aufs Exempel bieten die beiden letzten Kapitel zur Ethik des Gesundheitswesens im Blick auf Fragen einer gerechten Gesundheitsversorgung und zur aktuellen Herausforderung der Generationensolidarität angesichts des demographischen Wandels.

Bereits der Untertitel verweist auf das komplexe und anspruchsvolle Anliegen des Autors: Eine ihre theologischen und sozialethischen "Hintergrundtheorien" reflektierende und auf die konkrete gesellschaftliche Praxis bezogene Gerechtigkeitsethik. Die Ablehnung der üblichen Arbeitsteilung zwischen Gerechtigkeitstheorie und anwendungsorientierter Ethik eröffnet viele neue und unerwartete Zu- und Übergänge.

Der altbekannte Streit um den Vorrang des Gerechten oder Guten führt nach Dabrock ebenso in eine Sackgasse, wie die Versuche, Gerechtigkeit als zeitunabhängiges Prinzip festzuschreiben oder als Pauschallösung für soziale Ordnungs- und Beziehungskonflikte jeder Art zu etablieren. Gerechtigkeit meint aus biblisch-theologischer Sicht die umfassende, auf soziale Inklusion zielende Gemeinschaftstreue Gottes und ist weit mehr als eine institutionelle Tugend: ein Set rechtlich garantierter Ansprüche oder eine gesellschaftlich ausgehandelte Umverteilungsarithmetik. Ein an den biblischen Traditionen orientiertes Gerechtigkeitsverständnis enthält konstitutiv Aspekte von Solidarität, Barmherzigkeit, Fürsorge- und Nächstenliebe.

Offen für einen solchen weiten Gerechtigkeitsfokus einerseits und die Bedingungen moderner Gesellschaften andererseits zeigt sich der ursprünglich aus der Entwicklungsdiskussion stammende "Capability Approach" von Amartya Sen und Martha Nussbaum. Dabrock führt diesen Ansatz in entscheidender Hinsicht weiter und macht ihn für die systemfunktionalen Herausforderungen moderner Gesellschaften anschlussfähig. Die gewohnte gerechtigkeitsethische Frage, wer in welcher Hinsicht benachteiligt sei, bleibt so lange ohne Adressat, wie sie nicht um die Frage ergänzt wird, wo jemand benachteiligt ist. Capabilities sind die Ermöglichungsbedingungen zur Realisierung kommunikativer Freiheit. Freiheit und Befähigung zur konkreten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bilden die beiden Seiten der einen Medaille eines menschenwürdigen Lebens und den Maßstab für soziale Gerechtigkeit.

Für ein gutes Leben in funktional differenzierten Gesellschaften "braucht" es grundsätzlich die Befähigung zu gesellschaftlicher Inklusion und die Verhinderung von Exklusion. Die Bestimmung des "Soviel" betrifft die Gerechtigkeit selbst, die angesichts jeder Wahrnehmung von Ungerechtigkeit mit ihren eigenen Gerechtigkeitslücken konfrontiert wird. Der Erlanger Theologe Dabrock zeigt auch die häufig übersehenen Grenzen von Gerechtigkeit auf. Wo gemeinschaftliche Solidarität nötig ist, hilft Gerechtigkeit nicht weiter.

Peter Dabrock: Befähigungsgerechtigkeit. Eine Grundkonzeption konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2012, 384 Seiten, Euro 39,99.

Frank Mathwig

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