Ende der Kreidezeit

Ein Punktum
Die Tage der Tafeln sind gezählt, keine Kreide wird mehr quietschen und kein Feinstaub wirbeln. Die Wandtafel mit ihrer grünen Leere weicht dem interaktiven Whiteboard.

Die Gedanken kreisen um den Topf mit Tafelkreide, der noch bei mir im Schrank steht. Mein kleiner Neffe soll einmal damit nach Herzenslust malen, schreiben oder einfach nur kritzeln. Kurz vor seinem ersten Geburtstag kommen mir Zweifel, ob es nicht vielleicht zu früh ist für den Einsatz der schönen, bunten Kalkstücke. Also halte ich sie erst einmal zurück. Ganz sicher wäre die Übergabe zum zweiten Geburtstag, er kann ja nicht früh genug anfangen, mit Kreide zu werkeln. Also ein Akt der Kunstpädagogik, dafür bieten die Wände im Kinderzimmer genug Raum. Dann könnte ich ihm zum dritten Geburtstag seine erste Maltafel schenken, schöpferisch wertvoll auf dem Weg in Richtung Schule.

Doch Schwamm drüber, eine Zeitungsmeldung hat meine Pläne durchkreuzt. Denn die Tage der Tafeln sind gezählt, keine Kreide wird mehr quietschen und kein Feinstaub wirbeln. Die Wandtafeln mit ihrer grünen Leere, vor der ich oft genug verloren stand, sie weicht dem interaktiven Whiteboard. Das ist eine computergesteuerte Projektionsfläche im Klassenzimmer, viel größer noch als jeder Flachbildschirm. Auf ihr kann man schreiben, malen, googeln, Bilder und Filme gucken, downloaden statt abschreiben und die Segnungen des Informationszeitalters mit einem Finger hin- und herschieben.

Die schulische Lücke im Netzwerk von iPhone, iPad, Netbook und SmartTV schließt sich damit unaufhaltsam, beschleunigt von wohlmeinenden Fördervereinen und Sponsoren. Jedenfalls scheint die gute alte Schulkreide vor dem endgültigen Aus zu stehen.

Ein schwacher Trost: Wenigstens muss niemand mehr in der Pause zur Strafe die Tafel putzen, keine Lehrkraft vor herumfliegenden Schwämmen in Deckung gehen und die Feinstaubkommission ist angehalten, sich neue Problemzonen zu suchen.

Wenn schon das 21. Jahrhundert das Ende der Kreidezeit bedeutet, so steht doch die iGesellschaft bei mir mit einer Antwort in der Kreide. Was ist, wenn zum Beispiel in der Schule mal der Strom ausfällt, das Whiteboard einfach schwarz bleibt? Sitzen wir dann wieder in einer dunklen Höhle bei flackerndem Licht wie vor Jahrtausenden jene Menschen in der Nähe des spanischen Santander? Sie haben sich Kalksteine, Kohle und bunte Asche genommen und, was ihnen vom Leben draußen in der Welt wichtig erschien, an die Wand gemalt: das Wild und die Jäger mit ihren Speeren. In Altamira bestaunt heute die versammelte Menschheit mit großen Augen ihr kulturelles Erbe: geschaffen aus dem Nichts.

Ich denke, mein Neffe sollte erst mal erwachsen werden. Solange kann ich den Topf mit Kreide ja noch für ihn aufheben.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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