Es gibt keine christliche Politik

Gespräch mit dem Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf über politische Äußerungen evangelischer Bischöfe und Synoden sowie über Parteien, die sich christlich nennen
Friedrich Wilhelm Graf
Foto: dpa/Horst Galuschka
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Friedrich Wilhelm Graf hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder kritisch, mitunter auch polemisch, mit politischen Äußerungen evangelischer Bischöfinnen und Bischöfe auseinandergesetzt. Aber er hat das nicht getan, weil er - wie konservative Protestanten - meint, die Kirche solle sich aus der Politik raushalten. Wichtig ist ihm vielmehr, dass Kirchenvertreter wissen und sich bewusst machen, dass theologische Begriffe und die Lebenswirklichkeit ambivalent sind und sich daher einfache Antworten auf politische Fragen verbieten.

zeitzeichen: Herr Professor Graf, dürfen oder sollen sich Vertreter der evangelischen Kirche, Synoden und Bischöfe, in die Politik einmischen?

Friedrich Wilhelm Graf: Das Wort "einmischen" finde ich nicht angemessen. "Wir mischen uns ein", das ist kirchlicher Jargon. Die Kirchen sind in einer pluralistischen, demokratisch verfassten Gesellschaft nichts anderes als große Verbände. Wie viele andere Verbände können auch sie sich zu politischen Fragen äußern. Allerdings haben Bischöfe und Synoden kein allgemeinpolitisches Mandat. Für Politik sind in unserer Gesellschaft in erster Linie die politischen Parteien zuständig, und das klügste politische Engagement von Christen besteht darin, in eine Partei einzutreten und in ihr aktiv zu sein. Bevor sich Kirchenvertreter am politischen Diskurs beteiligen, sollten sie sich überlegen, zu welchen Themen sie sich äußern. Auch hier gilt: Weniger ist oft mehr. Alles andere führt nur zu Verschleißerscheinungen.

Aber grundsätzlich gibt es schon politische Fragen, zu denen sich Synoden und Bischöfe äußern und zu deren Lösung sie Vorschläge machen dürfen, oder?

Friedrich Wilhelm Graf: Es kommt auf die Themen an. So erwartet die Gesellschaft, dass sich die Kirchen zu Fragen der Biopolitik äußern. Hier wie bei anderen politischen und ethischen Fragen kommt es aber auf das Wie an. Macht ein evangelischer Bischof deutlich, dass es in seiner Kirche höchst unterschiedliche Positionen gibt, oder suggeriert er, dass es im Protestantismus eine bischöfliche Autorität wie in der römisch-katholischen Kirche gibt? Ich fände es albern, wenn die Kirchen sich zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen äußern würden, denn gerade bei einer solchen Frage kann man als Christ und Staatsbürger sehr unterschiedlicher Meinung sein.

Zurzeit wird in Deutschland stark über Flüchtlinge, Asylrecht und Einwanderung diskutiert. Sind auch das Fragen, bei denen erwartet wird, dass sich die Kirche äußert?

Friedrich Wilhelm Graf: Die Themen Asyl, Aufnahme von Flüchtlingen und Solidarität mit Marginalisierten sind genuine Themen religiöser Überlieferung, nicht nur der christlichen. Aber auch dabei kommt es darauf an, wie man sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligt. Die Kirchen sollten nicht einfach steile moralische Forderungen erheben, sondern mit für ein gesellschaftliches Klima sorgen, in dem solche Fragen sachlich diskutiert werden können. Und noch besser ist es, wenn die Kirchen für die eigenen Positionen praktisch einstehen, indem sie zum Beispiel Angebote zur Unterbringung von Asylbewerbern machen. Dass die Asylverfahren in Deutschland zum Teil erschreckend lange dauern, halte ich für einen Skandal. Aber das ist meine private Ansicht, dafür beanspruche ich nicht die Autorität eines Professors für Systematische Theologie und Ethik.

Sie haben gesagt, evangelische Bischöfe, die sich zu politischen Fragen äußern, sollten bei ihren Äußerungen deutlich machen, dass es in ihrer Kirche viele unterschiedliche Meinungen gibt. Das kann doch am Ende zu einem Wischi-Waschi führen, das die Öffentlichkeit allenfalls mit einem Achselzucken zur Kenntnis nimmt. Muss ein Bischof nicht auch den Mut aufbringen, gegebenenfalls klar und deutlich, ja einseitig zu reden und dabei das Risiko eingehen, dass sich das Gesagte im Nachhinein als falsch herausstellt?

Friedrich Wilhelm Graf: Natürlich darf sich ein evangelischer Bischof zu politischen Fragen äußern. Aber die Frage ist: Mit welchem Autoritätsanspruch tut er das? In einer demokratisch verfassten Gesellschaft hat ein Bischof das Recht seine politische Meinung zu äußern, wie jeder andere Bürger auch. Er soll nur nicht sagen, er tue das als Bischof für seine Landeskirche.

Na ja, wenn sich ein Bischof öffentlich äußert, lassen sich Privat- und Amtsperson doch nicht so einfach trennen, oder?

Friedrich Wilhelm Graf: Aber evangelische Bischöfe tun gut daran, wenn sie immer wieder bedenken und gelegentlich darauf hinweisen, dass zum Wesen des Protestantismus die Vielfalt gehört und es nur auf wenige politische Fragen ethisch eindeutige Antworten gibt.

Während des Zweiten Weltkrieges hat George Bell, Bischof der südenglischen Diözese Chichester, zunächst in Leserbriefen, dann im Oberhaus die Flächenbombardierung deutscher Städte durch die britische Luftwaffe scharf kritisiert. Diese Ansicht dürfte in der Kirche von England und erst recht in der britischen Gesellschaft nur eine winzige Minderheit geteilt haben.

Friedrich Wilhelm Graf: Der Bischof von Chichester hat sich als Mitglied des Oberhauses geäußert, dem er neben anderen Bischöfen der Kirche von England als "Lord Spiritual" angehörte. In dieser Rolle, als Parlamentsmitglied, war es sein gutes Recht, sich zu Fragen der Kriegsführung zu äußern. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn er sich von der Kanzel herab zur Kriegsführung geäußert und gesagt hätte, ein Christ könne sich nur so entscheiden und nicht anders. Wir müssen auch bei Äußerungen eines Bischofs unterscheiden, in welcher Rolle er sich gerade äußert, als Staatsbürger oder als Repräsentant der Kirche. Diese Rollenunterscheidung ist mir wichtig.

Anders als in England sind geistliche Würdenträger in Deutschland seit dem Ende der Monarchie nicht mehr qua Amt in Parlamenten vertreten. Trotzdem müssen sich deutsche Bischöfe unter Umständen zu ähnlich brisanten politischen Fragen äußern wie seinerzeit Bischof Bell. Und sie tun das vielleicht nicht von der Kanzel herab, sondern durch eine Pressemitteilung, bei einer Pressekonferenz oder in einem Vortrag. Ist das aus Ihrer Sicht legitim?

Friedrich Wilhelm Graf: Die Frage ist, mit welchem Anspruch sich ein Bischof zu politischen Fragen äußert. Das Bischofsamt ist hoffentlich mit einer gewissen geistlichen Kompetenz verbunden, aber die ist in aller Regel nicht identisch mit einer besseren ethischen Einsichtsfähigkeit.

Zu politischen Fragen und ihren Lösungen äußern sich Angehörige aller möglichen Berufe, Vertreter vieler Fachrichtungen, Juristen, Physikerinnen, Volkswirte und viele mehr. So bringen sie in die politischen Diskussionen bestimmte Aspekte ein. Und warum soll das nicht auch ein Theologe dürfen?

Friedrich Wilhelm Graf: Ich will es noch einmal betonen: Auch der Theologe darf, ja soll am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen. Aber er darf dabei nicht eine irgendwie geartete höhere Autorität beanspruchen. Außerdem ist unser politischer Diskurs so organisiert, dass es spezifische Zuständigkeiten gibt. So erwarten wir zum Beispiel vom ADAC einen Beitrag zur Frage, ob eine Autobahnmaut eingeführt werden soll oder nicht. Von der EKD erwarten wir zu einer solchen Frage eher keine Stellungnahme, dagegen aber zum Beispiel zur Biopolitik, zur Frage des Anfangs und Endes des Lebens oder beim Asylrecht, wo es auch darum geht, für die zu sprechen, die sich selber nicht äußern können.

1965 hat die EKD in ihrer Ostdenkschrift die "Preisgabe des deutschen Anspruchs" auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße gefordert. Und das ist zu einer Zeit geschehen, in der alle Parteien bis hin zur SPD eine Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 gefordert haben. War es richtig, dass sich die EKD dazu geäußert hat, oder hätte sie dies einzelnen Kirchenmitgliedern überlassen sollen, denjenigen, die sich in einer Partei engagierten?

Friedrich Wilhelm Graf: Es kann ja nicht falsch sein, den Realitätssinn von Menschen zu schärfen. Die Ostdenkschrift ist deshalb so erfolgreich gewesen und hat die Politik über 1965 hinaus beeinflusst, weil sie ein bemerkenswert behutsamer Text war. Da wurde nicht laut gefordert, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Und es wurde auch nicht suggeriert, die Kirche verstünde die komplexe völkerrechtliche Lage besser als andere. Vielmehr wurde sehr vorsichtig daran erinnert, dass die aktuelle Lage in Europa eine Folge des von Deutschen verschuldeten Zweiten Weltkrieges war. Das war eine andere Art von kirchlicher Stellungnahme zu einem politischen Problem, als sie heute üblich ist.

Sind Ihnen heutige Stellungnahmen evangelischer Synoden und Bischöfe zu vollmundig?

Friedrich Wilhelm Graf: Sehr oft wird suggeriert, man finde eine eindeutige Situation vor und könne entsprechend entscheiden. Das heißt: In aller Regel berücksichtigen kirchliche Stellungnahmen nicht die Widersprüchlichkeiten des Lebens und die damit verbundenen unterschiedlichen Sichtweisen. Der Ton ist in aller Regel stark moralisierend, und man verknüpft höchst unausgeglichen religiöse Sprache mit einem politischen Kommentar. Man kann dies Präambel-Theologie nennen, das heißt, die betreffenden Kirchenvertreter wissen schon im Voraus, was sie politisch wollen, und garnieren das dann mit religiöser Sprache.

Wenn ich Sie recht verstehe, missachten kirchliche Stellungnahmen häufig die Ambivalenz des Lebens und die Ambivalenz der religiösen Sprache.

Friedrich Wilhelm Graf: Mit religiöser Sprache kann höchst viel Unterschiedliches gemacht werden. Als ich Theologie studiert habe, wurde vor der Schöpfungstheologie gewarnt, weil diese den deutschen Protestantismus, besonders das Luthertum, für konservative Ideologien, ja den Nationalsozialismus anfällig gemacht habe.

Sie spielen auf die Lehre von der "Schöpfungsordnung" an.

Friedrich Wilhelm Graf: Genau. Doch kaum ist die Umweltkrise thematisiert worden, haben Theologen die Schöpfungslehre wieder entdeckt und sind auf die Schöpfungssemantik umgestiegen. Hieran können wir sehen und hoffentlich lernen, wie zeitgeistabhängig theologische Reflexion ist und wie vieldeutig der Umgang mit religiösen Grundsymbolen sein kann. Auch deswegen plädiere ich für Behutsamkeit und Nachdenklichkeit, wenn sich Kirchenvertreter zu politischen und ethischen Fragen äußern.

Sie haben gesagt, "das klügste politische Engagement von Christen" bestehe in einer Parteiendemokratie darin, in Parteien einzutreten und dort aktiv zu sein. Das hat ja wohl auch damit zu tun, dass Ihnen als liberalem Theologen die Autonomie des Einzelnen wichtig ist.

Friedrich Wilhelm Graf: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die vorstaatliche Freiheit des Einzelnen das zentrale Konstruktionsprinzip der politischen Ordnung ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung die Freiheitsrechte des Einzelnen konsequent gestärkt. Die individuelle Autonomie ist bekanntlich auch für die protestantische Form des Christentums zentral. Diese geht nun einmal von einer Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott aus. An bestimmte protestantische Grundentscheidungen zu erinnern, kann nicht falsch sein. Das hat nichts mit liberaler oder nichtliberaler Theologie zu tun, sondern mit der konfessionellen Signatur des Protestantischen.

Sollten evangelische Synoden und Bischöfe Äußerungen zu politischen Problemen also möglichst Einzelnen und Gruppen in der Kirche überlassen, sich selber aber zurückhalten?

Friedrich Wilhelm Graf: Es ist ja so, dass es in den Kirchen verschiedene Gruppen gibt, die sich ganz unterschiedlich politisch engagieren und äußern. Im Übrigen sind die großen politischen Themen, die den kirchlichen Protestantismus an die Grenze einer Zerreißprobe gebracht haben, abgearbeitet. Die große politische Herausforderung der kommenden Jahre wird das Thema Europa sein. Aber gerade hier sind die protestantischen Kirchen wegen ihrer regionalen und nationalen Begrenzung nicht besonders gut aufgestellt.

Was erwarten Sie von den evangelischen Kirchen?

Friedrich Wilhelm Graf: Es kommt nicht auf das an, was sie zu Europa sagen, sondern wie sie sich daran beteiligen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen.

Wie könnte ein Beitrag der evangelischen Kirchen aussehen?

Friedrich Wilhelm Graf: Sie sollten Austauschprozesse in Gang bringen. Bei den Vollversammlungen der Konferenz Europäischer Kirchen und der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa treffen sich nur offizielle Vertreter der Kirchen. Und das schafft keine europäische Öffentlichkeit.

Denken Sie an Gemeindepartnerschaften?

Friedrich Wilhelm Graf: Genau, Partnerschaften von Kirchengemeinden, Jugendgruppen und ähnliches. Europa hat, wenn man vom Balkan absieht, niemals in der neueren Geschichte eine vergleichbar lange Friedensperiode erlebt. Das ist ein sehr kostbares Gut. Um es zu erhalten, sollten wir den Austausch und die persönliche Begegnung von Menschen verstärken.

Kürzlich haben Sie daran erinnert, dass evangelische Pfarrer bei der friedlichen Revolution in der DDR eine wichtige Rolle gespielt haben. Doch in den Regierungen der neuen Länder, die dann entstanden sind, hätten Katholiken eine viel stärkere Rolle gespielt. Das zeige, dass Katholiken "ein konstruktives Verhältnis zur Macht" hätten. Warum ist das so?

Friedrich Wilhelm Graf: Die römisch-katholische Kirche ist stärker auf das Thema Macht bezogen, weil sie eine hierarchische und zentralistische Struktur hat. Ja, Protestanten unterschätzen notorisch, was es bedeutet, dass der Vatikan ein Staat ist und der Papst ein Völkerrechtssubjekt. Und so sind Katholiken machtaffiner als Protestanten.

Aber in Ostdeutschland sind Katholiken noch stärker in der Minderheit als die Protestanten.

Friedrich Wilhelm Graf: Katholiken haben eben die sich bietenden Chancen sehr schnell wahrgenommen. Sie haben sich politisch engagiert und durch die Gründung von Gymnasien auf Elitenbildung gesetzt, während die Protestanten lange über ihre Rolle im neuen Staat gestritten haben. Bei allem gebotenem Respekt vor dem Anteil, den oppositionelle Gruppen in der evangelischen Kirche an der Revolution in der ddr hatten, die meisten von ihnen wollten nicht im Staat des Grundgesetzes landen, sondern hatten Träume von einem anderen, irgendwie besseren Deutschland.

Nach der Befreiung Deutschlands vom Nazismus entstand mit der Union eine überkonfessionelle Partei, die die katholischen Parteien der Weimarer Republik, Zentrum und Bayerische Volkspartei, weitgehend ablöste. Diese Partei nennt sich "christlich". Halten Sie das als evangelischer Theologe für legitim?

Friedrich Wilhelm Graf: Die CDU/CSU kann sich "christlich" nennen, wenn sie deutlich machen kann, inwiefern ihr Sozialkonservatismus auf christlichen Motiven beruht. Auf kommunaler Ebene hat die Partei inzwischen eine Reihe muslimischer Mandatsträger. Ich bin gespannt, wie CDU und CSU mit dem neuen religiösen Pluralismus in unserem Land umgehen.

Gibt es eine christliche Politik?

Friedrich Wilhelm Graf: Nein, es gibt keine christliche Politik. Jedenfalls stellt sich bei einem Großteil der politischen Probleme nicht die Frage: christlich oder nichtchristlich? Über die Lösung der meisten politischen Probleme können sich vernünftige Menschen vielmehr unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit leicht verständigen.

Unionspolitiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel beziehen sich oft auf das christliche Menschenbild.

Friedrich Wilhelm Graf: Ich lehne die Rede vom "christlichen Menschenbild" als gedankenlos ab. Denn Bilder geben keine Orientierung, sie entstehen vielmehr, indem wir sie malen. Und Probleme, die im politischen Raum entstehen, lösen wir nicht durch den Rekurs auf ein Menschenbild, sondern durch rationale Diskurse.

Aber die Rede vom christlichen Menschenbild kann doch die Einsicht ausdrücken, dass der Mensch Sünder, dass er fehlbar ist, und dass seine Vernunft und Einsicht begrenzt sind. Im Idealfall müsste sich doch gerade ein christlicher Politiker durch Demut auszeichnen, weil er aufgrund seines Glaubens zwischen Gott und Mensch unterscheiden und daher die eigenen Grenzen erkennen und akzeptieren kann.

Friedrich Wilhelm Graf: Demut ist gerade in einer Zeit, in der Allmachtsphantasien blühen, eine wichtige Tugend. Der demokratische Staat hat die Demut ja in gewisser Hinsicht mit der Gewaltenteilung und dem System von "Checks and Balances" institutionalisiert, und dadurch, dass politische Macht immer nur auf Zeit vergeben wird. Aus der Erfahrung der Nazizeit haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes ein recht komplexes System zur Begrenzung von Macht aufgebaut. So sind die Kompetenzen des französischen Präsidenten und des britischen Premierministers weitaus größer als die der Bundeskanzlerin.

Eine andere Reaktion auf die Nazizeit war, dass die Präambel des Grundgesetzes einen Gottesbezug bekam. Die Kirchen haben einen solchen auch für eine europäische Verfassung gefordert. Was halten Sie davon?

Friedrich Wilhelm Graf: Zunächst betone ich mit großem Nachdruck: Der moderne, liberale, freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist ein weltanschaulich-neutraler Staat. Das bedeutet, dass er sich nicht mit einer partikularen religiösen Ansicht oder Gruppe identifiziert. Insofern war ich sehr skeptisch gegenüber dem Versuch, einer EU-Verfassung einen Gottesbezug voranzustellen, den der Heilige Stuhl auf diplomatischem Wege und durch politischen Druck befördert hat. Ich stehe einem solchen Ansinnen immer noch skeptisch gegenüber, denn es würde zum Beispiel in Frankreich nur zu neuen Kontroversen über die Laizität des Staates führen. Und in anderen europäischen Gesellschaften würde zu Recht gefragt, welcher Gott denn hier gemeint sei? Natürlich müssen wir Deutsche uns immer wieder daran erinnern, wie schnell eine liberale demokratische Ordnung scheitern kann. Aber wir müssen auch anerkennen, dass andere europäische Nationen andere Erfahrungen gemacht haben. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte verstehen sie die Forderung nach einem Gottesbezug als Versuch der römisch-katholischen Kirche, noch einmal ihre klerikale Macht auszuspielen. Dieses Gefühl wird dadurch verstärkt, dass die römisch-katholische Kirche zum Beispiel in Frankreich und Spanien massiv versucht hat, ihre Sicht des Abtreibungsrechtes und ihre Ablehnung der Scheidung und der gleichgeschlechtlichen Ehe gegen liberale Mehrheiten durchzusetzen.

Jüngst haben Sie geschrieben, einige christliche Intellektuelle erlägen der Versuchung der Theokratie. Wen haben Sie da vor Augen?

Friedrich Wilhelm Graf: Wir haben heute wenig Verständnis für Muslime, die einen islamischen Staat anstreben. Aber wenn Sie sich die politisch-theologischen Debatten im deutschen Vormärz anschauen und lesen, was lutherische Juristen wie Friedrich Julius Stahl in Preußen über den christlichen Staat geschrieben haben, entdecken Sie ein erstaunlich hohes Maß an Kontinuität der Denkmotive. Damals hieß es, der Staat brauche ein religiöses Fundament, sonst breche die Gesellschaft auseinander, ja, der Staat müsse ein Garant der Moral sein. Und viele römisch-katholische Ethiker sind wie Altpapst Benedikt der Überzeugung, die römische Kirche könne dem Staat aufgrund ihres Naturrechts sagen, welches die richtigen ethischen Entscheidungen sind. Auch bei protestantischen Fundamentalisten in den USA findet sich sehr viel theokratische Rhetorik.

Aber im deutschen Katholizismus und Protestantismus ist das kein Problem, oder?

Friedrich Wilhelm Graf: Beide großen Kirchen sind nach langem Zögern im Staat des Grundgesetzes angekommen. Das hat auch damit zu tun, dass keine andere gesellschaftliche Organisation vom Staat des Grundgesetzes so sehr profitiert hat, wie die mit den Kirchen eng verbundenen Sozialholdings. So hat zur Akzeptanz der Demokratie durch die deutschen Kirchen auch erheblich beigetragen, dass Caritas und Diakonie aufgrund des Subsidiaritätsprinzips wichtige Aufgaben im Sozialstaat übertragen worden sind.

Das Gespräch führte Jürgen Wandel am 11. November 2013 in München.

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Foto: dpa/Horst Galuschka

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Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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