Ihr könnt es

Über einige Stationen deutscher Selbstfindung: Germans like to sing and drink in Ratskellers
"… aber die Jüngste war so schön, dass sich die Sonne selber darüber verwunderte …" – Grimms Märchen galten als tiefster Ausdruck der deutschen Volksseele. Foto: Helmut Kremers
"… aber die Jüngste war so schön, dass sich die Sonne selber darüber verwunderte …" – Grimms Märchen galten als tiefster Ausdruck der deutschen Volksseele. Foto: Helmut Kremers
Die deutsche Kultur als identitätsstiftendes Moment war immer auch durch die Auseinandersetzung mit Außenwahrnehmungen bestimmt. Anmerkungen zu einer schwierigen Geschichte.

"Deutscher Nationalcharakter.

Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens;

Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus."

Schiller, Xenien.

Englische Kultur, französische, chinesische Kultur. Man hört davon und zuckt nicht mit der Wimper. Anders, wenn von der deutschen Kultur die Rede ist. Da stellen sich die Ohren auf. Die Interessierten beziehen ihre jeweiligen Gräben: Die einen feuern ihr "Die deutsche Kultur wird beständig in den Schmutz gezogen!" gegen alles Fremde. Die anderen verweisen prophylaktisch auf Auschwitz und geben nur unter sehr komplizierten Kautelen zu, dass es noch so etwas wie eine deutsche Kultur geben könne. Besser sei es, von kulturellen Szenen in Deutschland zu sprechen, dann werde man gar nicht erst mit denen im anderen Graben verwechselt.

Die Weltkinder wie immer in der Mitten. Sie halten es mehr mit dem Sowohl-als-auch als mit dem Entweder-Oder, deshalb werden sie gern als lau geschmäht.

Als Medium für die Erzeugung einer Großgruppenidentität wurde Kultur erst entdeckt, als sich ein Nationalbewusstsein rührte. Wo Kultur aber Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses wird, gibt es Ansätze zu Pluralität; unterschiedliche Interessen, Standpunkte und Perspektiven wollen Unterschiedliches als kulturelle Eigenmerkmale gewertet und anderes ausgeschlossen wissen. Soll eine relative Einheit gesichert werden, ist das gedachte Gemeinwesen auf Außendruck angewiesen - auf die Nachbarn, die das Fremde verkörpern. Für die Herstellung eines kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls sind zwei Hauptblickrichtungen wichtig: der Blick von außen und der von innen.

Der Blick von außen, zur Kenntnis genommen, stellt eine Herausforderung dar.

Ein frühes Beispiel findet sich bei Walther von der Vogelweide (etwa 1170-1230), in seiner Spruchdichtung "I sult sprechen willekomen" : ... übel müeze mir geschehen,/kunde ich ie mîn herze bringen dar,/daz im wol gevallen wolde fremeder site .../tiuschiu zuht gât vor in allen. Also: erste Spuren eines deutschen Selbstbewusstseins, noch ganz auf die Kultur ("site") bezogen, aber möglicherweise auch ein frühes Zeugnis für eine deutsche Eigenart, die sich durchhalten sollte: heftig auf Fremdwahrnehmungen zu reagieren. Denn geschrieben wurden diese Zeilen (wahrscheinlich) in Abwehr einer Schmähung durch einen provencalischen Kollegen, Peire Vidal: "Meiner Meinung nach sind die Deutschen ungebildet und grob; wenn einer von ihnen kommt und sich einbildet, er sei höfisch, fühlt man sich zu Tode bestraft und heftig bekümmert. Ihre Sprache klingt wie Hundegebell."

"Edle Wilde"

Gut dreihundert Jahre nach Walther von der Vogelweide entdeckten die deutschen Humanisten Tacitus' "Germania" und interpretierten sie umgehend als eine schmeichelhafte Außenperspektive auf fiktive Ur-Deutsche: Der römische Ex-Senator und erfolgreiche Schriftsteller Tacitus hatte seinen Mitrömern ihre angebliche Dekadenz durch einen Blick auf die "Edlen Wilden" in den nördlichen Nebelwäldern Nordeuropas vorgehalten: Sie waren angeblich noch ohne Falsch, tapfer, kriegerisch und sittlich unverdorben.

Diese Tacitus-Rezeption kann man ihrem Einfluss nach kaum überschätzen, die deutschen Selbststilisierungen als Kultur-Germanen lebten heftig wieder auf in den Befreiungskriegen und im zunehmend nationalistischen 19. Jahrhundert. Noch Himmlers lächerlicher Heinrich-(I.)-Kult knüpfte daran an.

Wiederum rund dreihundert Jahre später, 1813, erschien das einflussreiche Buch "Über die Deutschen" der Madame de Staël, einer der ersten großen emanzipierten Frauen Europas, Französin mit deutschschweizer Wurzeln, engagierte Gegnerin Napoleons. Sie hielt den Franzosen ganz ähnlich wie seinerzeit Tacitus den Römern einen fernen Spiegel vor: Ihre Deutschen waren tiefe Gemüter, immer noch ein wenig die edlen Wilden des Tacitus, wenn auch einigermaßen domestiziert, kurz: auch dies eine an die eigenen Landsleute gerichtete Dekadenzschelte. Die Franzosen staunten, die Deutschen waren begeistert, "deutsche Treue wider welsche Tücke" wurde zu einem bis zum Erbrechen bemühten Topos.

Als das Wünschen noch geholfen hat

Was Madame de Staël von den Deutschen wahrnahm, war vornehmlich durch ihren Umgang mit den Romantikern bestimmt. Die hatten das Mittelalter als Projektionsfläche für ihre Weltsicht entdeckt, mit der sie sich gegen die aufklärerische Entzauberung der Welt stemmten. Es wäre verfehlt, das als Dunkelmännergemunkel abzutun - sie sind, indem sie gewissermaßen das Artifizielle als Substitut für die Transzendenz entdeckten, gerade heute wieder aktuell.

Dem romantischen Geist gehorchten auch Grimms Märchen (ab 1812). Sie führten, davon war man überzeugt, ins tiefste Wurzelgeflecht des Volkstums und zugleich gewissermaßen in archetypische Schichten des deutschen Gemüts.

Heute weiß man: Viele der Märchen hatten ihren Ursprung im Lande des Erbfeindes, ihr Alter war ungewiss, und ihr herzerfrischender Ton stammt nicht durchweg aus der anonymen Quelle der Volksseele, sondern oft genug aus der Feder der Göttinger Professoren Grimm - das gilt gerade für solch wunderbar magische Formeln wie das "In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat..."

1820 erschien in der Wiener "Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode" Franz Schuberts Vertonung des Gedichtes "Die Forelle". Geschrieben hatte es Christian Friedrich Daniel Schubart während seiner zehnjährigen Haft auf dem Hohenasperg (1777-87) - sie hatte er demselben Potentaten zu verdanken, vor dem der junge Schiller geflohen war. Nicht nur Schubert, sondern jeder Gebildete wusste, dass das Gedicht Schubarts eine Allegorie auf dessen eigenes Schicksal und eine Anklage gegen Tyrannenwillkür war - ein Beispiel für den doppelten Boden, der oft unter den scheinbar ganz unpolitischen romantischen Idyllen lauerte.

Zerissene Krähwinkelverältnisse

Außenblick, Binnenblick: Bei dem seit 1831 freiwilligen Emigranten in Paris Heinrich Heine floss das ineinander. Er lieferte den Franzosen in zahlreichen Veröffentlichungen seine Sicht und Meinung über die deutsche Philosophie, über die Krähwinkelverhältnisse im politisch zerrissenen und noch von zahlreichen Potentaten feudal regierten Deutschland (er kam dabei schon auf den Vergleich von Tacitus und Madame de Staël). Diese Schriften erschienen zumeist alsbald auch in Deutschland. Heines virtuoser ironisch-subjektiver Ton, der zuvor bei seinen poetischen Werken in Deutschland goutiert worden war, kam bei seinen politischen Schriften nicht an: "Es ist ... die Anklage der Frivolität, die wir ... erheben", heißt es exemplarisch in einer Kritik von 1833. Diese Anklage wurde gegen Heine immer wieder, bis ins vorige Jahrhundert, erhoben. Retrospektiv zwiespältig waren seine beständigen Warnungen an die Adresse der Franzosen vor dem "Aufwachen" der Deutschen (er meinte eine Freiheits-Revolution): "Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte."

"Bildet, ihr könnt es, zu freieren Menschen euch aus" - Schiller hatte sein Xenion einige Jahrzehnte zuvor geschrieben: Es hätte ihn wohl gefreut, wenn er erlebt hätte, wie er im 19. Jahrhundert weit über die deutschen Grenzen als Freiheitsprophet anerkannt wurde - und er wäre wohl weniger amüsiert gewesen, hätte er erfahren, in welcher Weise er in Deutschland zunehmend als Künder des neuen Nationalgefühls stilisiert wurde.

Notabene: Ganz anders als Goethe. Der hatte es nicht an kritischen Bemerkungen über die Deutschen mangeln lassen. Relativ wohlwollend war noch sein Ausspruch: "Doch liegt mir Deutschland warm am Herzen. Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist." Erst bis zur Wende zum 20. Jahrhundert hat die deutsche Öffentlichkeit ihm verziehen und ihn, wieder auf den Ruhmessockel gehoben - schließlich war er im Ausland als Großer anerkannt, auch das mag dazu beigetragen haben, Goethe seinen Rang wiederzugeben.

Was aber ging schief in der deutschen Geschichte? Darüber streiten sich Gelehrte und Auguren bis auf den heutigen Tag. Die Hauptstationen sind geschichtsunterrichtsnotorisch, das Scheitern der 1848er Revolution, das neue deutsche Reich in "kleindeutscher" Lösung, der herrliche Kaiser, die aufkommende Großmannssucht.

Dabei hatte es zumindest einen Warner gegeben: Friedrich Nietzsche sprach in seiner "Unzeitgemäßen Betrachtung" über David Friedrich Strauß von dem verderblichen Wahn, dass auch die deutsche Kultur im Krieg gegen Frankreich 70/71 gesiegt habe - in dieser Hinsicht herrsche unter den deutschen Gebildeten eine Zufriedenheit, "die sich fortwährend bereit zeigt, in Jauchzen auszubrechen ..."

Aber gerade Nietzsches Philosophie sollte sich als zweischneidig erweisen. Der "deutsche Bildungsphilister", den er verspottete, wurde durch sie nicht klug, sondern größenwahnsinnig. Nietzsches Lehre vom Übermenschen wurde zunächst mit Befremden aufgenommen und alsbald als das Herzstück seiner Philosophie ausgerufen: Wer anders, hieß es nun, wäre prädestiniert, dem Übermenschenideal zu entsprechen als wir Deutschen?

Finis gemaniae ?

Der preußische Militarismus, den schon Nietzsche als Gefahr sah, bestimmte forthin immer mehr die Gesellschaft. Wohin dies führte, belegt eine durch Zuckmayer unsterblich gemachte Begebenheit: Im Jahre 1906 kauft sich ein verschiedentlich straffällig gewordener Schuster beim Altkleiderhändler eine Hauptmannsuniform, stellt kurzerhand einen Zug Soldaten unter sein Kommando, marschiert nach Köpenick, lässt den Bürgermeister verhaften - angeblich, um zu einem Pass zu kommen. Die Pointe: In Köpenick gab es keine Passstelle. Seine Majestät, so ist es überliefert, habe geruht zu lachen und ausgerufen: "Kein Volk der Erde macht uns das nach."

Doch die Gesellschaft vor 1914 bestand nicht nur aus bürgerlicher Selbstzufriedenheit und militaristischer Hybris, vielmehr war sie von höchster Dynamik. Es gärte allenthalben. Gern wird vergessen, dass das meiste Neue, das sich nach dem Krieg gerade in der Kultur Bahn brach, schon in der Vorkriegszeit angelegt war, auch, dass die Nonkonformisten und die Kritiker der Selbstzufriedenheit und die Boten einer neuen Zeit keineswegs nur auf Ablehnung, sondern vielfach auf Zustimmung, gar Begeisterung stießen. Es lässt sich darüber spekulieren, ob es der deutschen Kultur gutgetan hätte, wenn der Erste Weltkrieg ausgefallen wäre und sie Gelegenheit gehabt hätte, sich ohne diesen Bruch zu entwickeln: ruhig wäre es nicht zugegangen, aber weniger blutig.

Die Zwanzigerjahre brachten noch einmal eine geradezu fieberhafte Blüte dessen, was man das Kulturleben nennt. Aber der Riss in der deutschen Kultur, nicht erst seit Heine beklagt, hatte sich durch die traumatische Niederlage im Ersten Weltkrieg so sehr verbreitert, dass den Nationalsozialisten Gelegenheit gegeben wurden, ihren verbrecherischen Bruch mit der deutschen Kultur und Geschichte zu veranstalten. Davon werde sich Deutschland, so glaubten viele Patrioten 1945, nicht wieder erholen: Finis germaniae.

Doch wieder einmal sollte sich erweisen, dass die Geschichte weitergeht. In einem amerikanischen Lexikon von 1955 fand sich zu einem Eintrag "Germany" ein Foto, auf dem Bierhumpen schwingende Deutschen zu sehen waren. Die Unterschrift: "Germans like to sing and drink in Ratskellers." Das war ein gut gemeintes Klischee - und ein Trost für alle, die sich noch über Kollektivzuschreibungen von außen aufregen können: Der fremde Blick auf die eigene Kultur besteht, wie natürlich der eigene auf das Fremde, ganz überwiegend aus - Klischees.

Angst vor dem Nazivirus

Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Deutschland in schwankender Intensität Bestrebungen, die deutsche Kultur als unheilbar kontaminiert mit dem Nazivirus zu sehen und jede historische Kontinuität unter diesen Krankheitsverdacht zu stellen. Kultur in Deutschland dürfe auf keinen Fall mehr deutsche Nationalkultur sein, heißt es, stattdessen gelte es, eine europäische oder gar eine Weltkultur zu schaffen. Das Problem: Außerhalb Deutschlands wird dies immer wieder als einer der unleidlichen Versuche gewertet, die Welt am nunmehr international und multikulturell camouflierten deutschen Wesen genesen zu lassen.

Dagegen haben die entspannten Optimisten unter den Modernisten gar nichts gegen die deutsche Kultur - als Museumsstück. Sie setzen darauf, dass sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen einer ohnehin entstehenden internationalen Massenkultur anverwandelt, wobei Fernsehen, Film und vor allem das Internet und die neuen Kommunikationsmedien die Transporteure sind.

Sie könnten damit Recht behalten. Mit dieser Entwicklung wird sich der Reiz, der vom Außenblick ausgeht, verflüchtigen. Wo er in seiner negativen Form noch auftritt, dient er ohnehin schon heute nicht der Stiftung von Gemeinschaft, sondern der innergesellschaftlichen Abgrenzung: Gemeint sind immer die anderen. Die Weltläufigkeit des Deutschen beginnt, wenn er sich im Ausland für seine Landsleute schämt - letztes Merkmal eines Gemeinschaftsbewusstseins.

Dies aber ist offensichtlich dabei, sich zu überleben. Die deutsche Kultur ändert sich rasant. Ob sie sich in hundert Jahren noch von ihren National-Nachbarkulturen deutlich unterscheiden wird, steht dahin. Viel wäre es schon, wenn wir hoffen dürften, dass Schillers Aufforderung "Bildet euch zu freieren Menschen" wieder gehört werde, dass es immer noch stimmt, was er kühn behauptete: "Ihr könnt es!"

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Helmut Kremers

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