Nicht von Gott plappern

Wider die vielen Spielarten der Erzeugung von Scheinheiligkeit
"Vor dem Bundestag relativierte Papst Benedikt XVI. das Mehrheitsprinzip durch einen Naturrechtsvorbehalt." Foto: dpa / Herbert Knosowski
"Vor dem Bundestag relativierte Papst Benedikt XVI. das Mehrheitsprinzip durch einen Naturrechtsvorbehalt." Foto: dpa / Herbert Knosowski
"Theologische Aufklärung sucht ... Nüchternheit im Umgang mit Macht und Herrschaft zu erzeugen", so der Grundgedanke, den der Autor, Professor für Systematische Theologie an der Universität München, ausführt - mit deutlichen Grenzziehungen gegen allerlei unaufgeklärte oder gar antiaufklärerische Arten des Umgangs mit dem "Religiösen": Auszug aus Friedrich Wilhelm Grafs Abschiedsvorlesung in der Universität München am 28. Januar anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand.

Religion zeigt sich derzeit als volkskirchlich zivilisierte Christentümer, aber auch als radikal antidemokratische gewaltbereite Frömmigkeit. Religion kann als aggressiv neonationalistische Ideologie, etwa im Hindu-Nationalismus, oder als Blut und Boden sakralisierende Ethnoreligion wie in vielen orthodoxen Christentümern auftreten. Dabei ist es nicht so, dass nur eine Religion, etwa der Islam, gewalttätig ist: Außerhalb Europas, vor allem in einigen afrikanischen Ländern wie Mali, Nigeria und Zentralafrika, finden sich derzeit zahlreiche äußerst gewalttätige, Andersgläubige ermordende christliche Akteure.

Auch gibt es keinen inneren Zusammenhang zwischen monotheistischer Absolutsetzung des einen Gottes und Intoleranz mit Gewaltbereitschaft; diese von Jan Assmann vertretene These ist empirisch gesehen falsch: Das zeigen die brutale Unterdrückung muslimischer Minderheiten durch die buddhistische Mehrheitsgesellschaft in Myanmar oder die Gegengewalt buddhistischer Akteure gegen Hindu-Nationalisten in einigen Provinzen Indiens.

Also: viel fanatische, barbarische Religion in der Gegenwart, und deshalb auch bleibend hoher oder gar erhöhter Bedarf an einer theologischen Reflexion, die der Zivilisierung, Humanisierung von Religion dienen will. Was soll solche Aufklärung leisten, was kann sie leisten? Dazu sechs Stichworte:

Kritik kirchlichen Missbrauchs der Glaubenssprachen. Viele akademische Theologen vertraten (und nicht wenige tun es noch immer) den Anspruch, durch Produktion guten theologischen Orientierungswissens Einfluss auf religiöse Organisationen, vor allem die Kirchen und ihre Funktionseliten - im katholischen Fall die Bischöfe - nehmen zu können.

Ich bin hier zunehmend skeptisch, weil etwa die beiden großen Kirchen im Lande ihre internen Entscheidungsprozesse eher theologiefern und nicht selten auch reflexionsresistent gestalten: Man weiß, was man will, ist an Machterhalt, Einflusssicherung und Weltbild-Marketing interessiert, interveniert in politische Prozesse und legitimiert all dies dadurch, dass man sekundär ein paar mehr oder minder triviale religiöse Formeln als "theologische Begründung" in Anspruch nimmt. Das ist nur schlechte Präambeltheologie, die an einen Plastikspoiler am Manta erinnert: Erst verschriftlicht man seine harten - durchaus legitimen - religionspolitischen oder ökonomischen Interessen, und dann stellt man diesem Text ein irgendwie religiös klingendes, durch beliebig herbeigebrachte Bibelzitate aufgemotztes Vorwort voran.

Theologischer Aufklärung bedarf es in der Gegenwart schon deshalb, weil gerade in religiösen Organisationen viel Missbrauch mit Glaubenssprache betrieben wird. Und autoritäre Pastoralmacht oder klerikale Ideologie sind nicht nur historische Phänomene, sondern prägen in mancherlei Gestalt noch unsere Gegenwart. Theologische Aufklärung dient dann beispielsweise dazu, den oft nur instrumentellen Gebrauch religiöser Symbole in kirchlichen Stellungnahmen zur Biopolitik transparent zu machen. Auch sucht theologische Aufklärung die in beiden großen Volkskirchen durchaus noch verbreitete radikale Aufklärungskritik ernstzunehmen. Ich zitiere: "Die Aufklärung war das Gegenteil von Vernunft, es war reine Propaganda gegen das Christentum" - das hat man 2012 nicht etwa im Vereinsblatt irgendeiner obskuren Sekte lesen können, sondern in "zur debatte", dem Organ der Katholischen Akademie in Bayern. Und die Freie Theologische Hochschule Gießen, eine rechtsprotestantisch evangelikale Bildungsstätte, hat soeben einem Jenaer Theologiestudenten einen Preis für eine Arbeit "Zum Stellenwert vom theoretischen Antisemitismus in Kants Religionsphilosophie" zuerkannt. Das schlechte Deutsch verrät nur die kulturkämpferische Absicht: Der Königsberger Kritiker aller positiven, Heteronomie befördernden Religion soll zum Antisemiten erklärt werden.

Theologische Aufklärung bleibt aufmerksam auf die vielen gegenwärtigen Formen religiöser Aufklärungskritik, die oft auch Fundamentalkritik des liberalen Staates ist.

Kritik eines neuen gelehrten Essentialismus. Wenn denn christliche Theologie eine spezifische Deutungskompetenz für christliche Symbole besitzt, muss aufklärungsorientierte Theologie sich auch als Instanz möglicher Kritik von Auslegungsversuchen des Christlichen im Wissenschaftssystem verstehen. Nicht nur das Religionssystem, auch das Wissenschaftssystem provoziert in der Gegenwart erhöhten theologischen Aufklärungsbedarf. Dies gilt mit Blick auf die neuen, epistemologisch schwachen Naturalismen mit ihren absurd überzogenen weltanschaulichen Sinnstiftungsansprüchen (von Ernst Haeckel zu Richard Dawkins), aber auch für das neue Religionsinteresse diverser Kulturwissenschaften. Die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften folgen in ihrer Aufmerksamkeitsökonomie, also in der Bestimmung ihrer Probleme, der Wahl ihrer Themen und der Definition ihrer leitenden Begriffe, oft nur der Agenda des Zeitgeistes oder den eher zufälligen Vorgaben des Feuilletons.

Dies ist nicht schlimm, wenn man es denn reflexiv präsent hält: Wir sind bei aller relativen Autonomie von Wissenschaft und Forschung bezogen auf gesellschaftliche Konflikt- und Debattenlagen.

Als Beispiel nenne ich das neue Interesse deutscher Politikwissenschaftler an der Religion. Hatten die meisten Politologen, die sich in Deutschland seit 1945 gern als Hüter der liberalen Demokratie inszenierten, einst das modernisierungstheoretische Dogma mitgeschrieben, dass mehr Moderne weniger Religion bedeute, so begründen sie seit der iranischen Revolution von 1979 und erst recht seit dem 11. September 2001 nun eine neue Subdisziplin: die Religionspolitologie oder religionsbezogene Governance-Forschung. Politikwissenschaftler haben erkannt, dass Religion in der Moderne bleibende politische Prägekraft besitzt und mancher Gottesglaube der liberalen Demokratie gefährlich wird. Theologische Aufklärung darf dann fragen, wie denn Politologen ihr neues Interesse ernstnehmen. Viele deutsche Politikwissenschaftler - Karsten Fischer und Hans Vorländer nehme ich ausdrücklich aus - entwickeln nun naiv essentialistische Sichtweisen des Christentums in der Moderne. Erst erzählen sie, dass mehr Staaten mit christlicher Mehrheitsbevölkerung parlamentarische Demokratien sind als Staaten mit dominant muslimischer Bevölkerung, und dann erklären sie dies damit, dass die Demokratie eben ein christliches Projekt sei...

Dies ist empirisch gesehen falsch: Einige Gegenwartschristentümer, vor allem die östlich-orthodoxen, lehnen die parlamentarische Demokratie und speziell die Idee vorstaatlicher Grundrechte des Einzelnen ab. Und im Staat des Grundgesetzes haben sich beide große Kirchen lange damit schwer getan, zentrale Prinzipien der Verfassung zu akzeptieren. Noch in den 1950er Jahren verwarfen prominente römisch-katholische und lutherische Ethiker Menschenrechte als Inbegriff sündhafter Selbstdeifizierung des Menschen: Gott habe Rechtsansprüche auf den Menschen, der Mensch aber keine Rechte vor Gott. Und in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag hat Papst Benedikt XVI. das Mehrheitsprinzip abermals durch einen Naturrechtsvorbehalt relativiert.

Kritik modernen Sakraltransfers. Das endliche Mängelwesen Mensch sucht die Defizite seiner selbst auch dadurch zu kompensieren, dass es seine Welt gern mit Sakralität ausstattet. In Akten symbolischer Messianisierung, etwa im Ritus des Salbens, wurde einst der französische König zum Heilsbringer sakralisiert, dem man gar die Kraft zur Wunderheilung zuerkannte. Doch solcher Sakraltransfer ist keineswegs nur ein alteuropäisches Phänomen undifferenzierter Einheit von imperium und sacerdotium, Thron und Altar, sondern auch ein vielfältig in der Moderne begegnendes Phänomen. Oft wurden politische Einheiten wie die Nation oder der Staat so sakralisiert, dass ihnen eine Aura des Gottgegebenen, Ewigen, immer schon Gültigen eignete. Gern wurden die Kriege der Nation legitimiert, indem man sie zum "Heiligen Krieg" und "Kampf für die Sache Gottes" stilisierte.

Solche Übertragungen des Religiösen ins Politische sollen die emotionale Bindungskraft weltlicher Institutionen erhöhen und deren Legitimitätsgrundlagen stärken. Doch das ist gefährlich und wenig freiheitsdienlich, weil durch die behauptete Aura des Sakralen politische Ordnung als nicht mehr kritisierbar erscheint.

Der Staat ist nur ein weltlich Ding, und wer Endlichem einen Heiligenschein gibt, erzeugt nur Scheinheiligkeit. Wenn ein vereinsmäßig organisierter Dienstleister für Autofahrer in Nöten seine hilfreichen Kraftfahrzeugmechaniker zu "gelben Engeln" sakralisiert, darf er sich nicht wundern, wenn man die Fallibilität, die Sündhaftigkeit seiner Führungsspitze öffentlich macht. Kein Mensch ist ein Engelwesen.

Auch die bei Hans Joas im Kontext der Menschenwürdedebatte begegnende Rede von der "Sakralität der Person" kann, theologisch gesehen, nicht überzeugen. Zwar ist unter protestantischen Reflexionsbedingungen jeder, jede Getaufte heilig. Aber er oder sie ist zugleich notorisch fallibel, sündhaft. Man muss beides zusammendenken. Theologische Aufklärung sucht die semantischen Strategien der Instrumentalisierung religiöser Sprache und Symbole für weltliche Zwecke transparent zu machen und so Nüchternheit im Umgang mit Macht und Herrschaft zu erzeugen. Deshalb schreibt sie die Überlieferungen negativer Theologie fort, die es verhindern wollten, dass aus Gottes souveräner Allmacht menschliche Herrscher autoritäre Machtansprüche ableiten. Wer von Gott nicht bloß plappern und Unbedingtes ernst nehmen will, muss von Gott gerade so reden, dass deutlich wird, wann prägnant zu schweigen ist.

Kritik "politischer Theologie". Theologische Aufklärung wird der Religion in genau dem Maße gerecht, in dem sie die relative Autonomie religiösen Bewusstseins anerkennt und durch kritische Reflexion dazu beiträgt, dass religiöser Glaube nichts anderes als nur er selbst, eben gelebte Frömmigkeit sein kann. Sie markiert Grenzen des religiösen Feldes, um dem Ineinanderfließen von Religiösem und Politischem zu wehren. Theologische Aufklärung zeigt, dass Politisierung von Religion dem Eigenrecht des Glaubens nur schadet. Deshalb wendet sie sich mit theologischen Gründen gegen die Phantasmen moderner "politischer Theologie". Theokratische Ordnung kann - man lese Max Weber - institutionell gesehen immer nur als Hierokratie, als vordemokratische politische Herrschaft von Klerikereliten gestaltet werden.

Doch warum sollten Priester, Pastoren, Rabbiner, Imame den von ihnen beschworenen Willen Gottes für die Ordnung der Gesellschaft besser als andere verstehen können?

Solcher Wissensvorsprung ist, jedenfalls unter protestantischen Reflexionsbedingungen - Stichwort: Priestertum aller Getauften und Unmittelbarkeit jedes, jeder einzelnen zu Gott -, wenig wahrscheinlich und theologisch nicht begründbar.

Die Versuche, Herrschaft in Heil zu fundieren, spiegeln nur die religionssemantisch camouflierten Selbstermächtigungsphantasien antidemokratischer Intellektueller. Carl Schmitt mag in der Prägnanz seiner Problemanalysen und Begriffsbildung ein bedeutender Staatsrechtslehrer gewesen sein; das müssen andere beurteilen. Aber er war gewiss kein guter Theologe.

Allmacht ist allgefährlich

Zu den Pointen der Wissenschaftsgeschichte des deutschsprachigen öffentlichen Rechts im letzten Jahrhundert gehört es jedenfalls, dass der zunächst jüdische, 1905 katholisch getaufte und 1912 in die evangelisch-lutherische Kirche eingetretene Hans Kelsen die innere Logik des christlichen Inkarnationsglaubens sehr viel besser erfasst hat als der rechtskatholische Christ Schmitt: Menschwerdung Gottes als Selbstaufhebung göttlicher Allmacht - im Wissen darum, dass Macht gefährlich, also zu kontrollieren ist und Allmacht allgefährlich, weil unkontrollierbar.

Theologische Aufklärung vollzieht sich deshalb auch als theologische Rechtfertigung jener Säkularität des modernen Verfassungsstaates, die in seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität Gestalt gewinnt. Zwar bedarf der liberale Staat keiner theologischen Begründung seiner freiheitsdienlichen Säkularität. Aber manche religiösen Akteure mögen solcher theologischer Reflexion bedürfen, um die Gewinne einer Ordnung der gleichen Freiheit aller wahrnehmen zu können. Nur der weltanschaulich neutrale Staat kann ja Religionsfreiheit anerkennen.

Selbstanwendung. Theologische Aufklärung ist in genau dem Maße gelungen, in dem sie zur Selbstanwendung fähig ist, also ihre kritische Dauerreflexion immer neu als selbstkritische Reflexion vollzieht. Theologische Aufklärung ist weit entfernt von allen - gerade in der Theologie naheliegenden - Prätentionen absoluten Wissens und weiß um ihre historische Partikularität. Sie wird an einem bestimmten, partikularen "Sehepunkt" entworfen und tut gut daran, die elementaren Kontingenzen nicht zum Verschwinden zu bringen, mit denen wir immer schon zu tun haben. Jeder, jede von uns ist in Geschichten verstrickt, die man nicht selbst schreibt, sondern andere schon vor und mit unserer Geburt erzählt haben. Autonomie und freie Selbstbestimmung bedeuten gewiss nicht Autarkie und isoliertes Selbstsein, sondern müssen als mit jenen Strukturen von Sozialität vermittelt gedacht werden, ohne die wir gar nicht frei sein könnten.

Theologische Aufklärung arbeitet sich an den Zentralsymbolen und Grundbegriffen der jüdischen wie christlichen Überlieferung ab, weil wir zu einem angemessenen, humanen Verständnis unserer selbst nur gelangen können, wenn wir uns den Sinn solcher Begriffe und Überlieferungen immer neu zu vergegenwärtigen suchen.

Sie beteiligt sich damit auf ihre Weise an der "Übersetzung" (Jürgen Habermas) religiöser Vorstellungen in den vernünftigen Begriff. Sie will religiös vermittelte moralische Intuitionen so sprachfähig machen, dass sie auch jenseits partikularer religiöser Binnendiskurse verständlich werden können.

Ambiguität ertragen können. Theologische Aufklärung zeigt ihre reflexive Leistungskraft nicht zuletzt darin, auch das partielle Recht einer Vernunftkritik einholen zu können. So wenig die Welt und unser Leben in Zahlen aufgeht, so wenig das animal rationale in seinem Vernunftvermögen.

Im Streit um theologische Aufklärung lässt sich auch erkennen, dass der Mensch ein Widerspruchswesen ist, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, zweckrational kalkulierend und gefühlsgetrieben zugleich. Theologische Aufklärung ist der Versuch, mit den "ambiguities of life" (Paul Tillich), den Ambivalenzen, Widersprüchen und Vieldeutigkeiten des Lebens so umzugehen, dass wir uns nicht auf falsche Eindeutigkeiten fixieren oder festlegen lassen - um individueller Freiheit willen. Im gelingenden Fall schärft theologische Aufklärung den Blick für Paradoxien und stärkt die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz, zur gelassenen Hinnahme der Widersprüchlichkeit des Lebens.

Friedrich Wilhelm Graf

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Foto: dpa/Horst Galuschka

Friedrich Wilhelm Graf

Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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