In Filzschuhen über die Alpen

Bis zum Ersten Weltkrieg schufteten die Tiroler "Hütekinder" als Arbeitsmigranten
Kinder zu verpachten: Zeitgenössische Darstellung des Schwabenkindermarktes. Foto: Stich: Joseph Bayer, Außenstadtarchiv Ravensburg
Kinder zu verpachten: Zeitgenössische Darstellung des Schwabenkindermarktes. Foto: Stich: Joseph Bayer, Außenstadtarchiv Ravensburg
Sie wurden auf Märkten gehandelt, um schließlich auf den Bauernhöfen Süddeutschlands zu arbeiten. Die "Schwabenkinder" verließen jedes Jahr im Frühling ihre Tiroler Heimat, um als Gastarbeiter ihre verarmten Familien zu entlasten. Die Kirche spielte dabei eine zwiespältige Rolle, wie der Mediziner und Theologe Martin Glauert weiß.

Ein seltsames Phänomen bietet sich dem Beobachter aus der Ferne: Anfang März bilden sich in ganz Südtirol plötzlich kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen, verlassen ihre Dörfer und Almen und ziehen alle wie Vogelschwärme von einem unsichtbaren Kompass geleitet nach Norden. Zwischen sechs und vierzehn Jahre sind sie alt und wirken bei genauerem Hinsehen ziemlich zerlumpt. Die Kleidung ist abgerissen, die Hosen sind geflickt, durch die Filzjacken pfeift der eisige Gebirgswind. Wer glücklich ist, besitzt echte Lederschuhe ohne Löcher. Aber alle tragen einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, einen umgearbeiteten Kartoffelsack, darin etwas Wegzehrung und ganz viel Hoffnung. Ihr Ziel ist Oberschwaben, das gelobte Land, wo jeden Tag eine dampfende Suppe auf dem Tisch stehen soll, wo man nicht hungern und frieren muss wie daheim.

Über dreihundert Jahre lang war die "Schwabengängerei" verbreitet, eine alljährliche Expedition minderjähriger Arbeitsmigranten, die aus Hunger und Armut in die Fremde zogen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde sie praktiziert. Die meisten Schwabenkinder kamen aus dem Vinschgau, dem Tal, das vom Reschenpass bis zur Stadt Meran reicht. Das "Armenhaus Tirols" wurde es genannt. Der Boden war karg und ausgetrocknet vom berüchtigten Vinschgerwind, der auch heute noch unaufhörlich bläst. Die kleinen Bergbauernhöfe versprachen harte Arbeit, aber wenig Ertrag. Der Landmangel wurde damals noch verschärft durch die Realerbteilung, die gleichmäßige Aufteilung des Hofes unter allen Kindern. Irgendwann waren die einzelnen Parzellen so klein, dass sich eine Familie nicht mehr davon ernähren konnte. Am Ende wohnten sogar mehrere Familien zusammen in einem Haus und teilten sich Stube und Küche.

Und die Familien waren groß. Verhütung war von der Kirche verboten, zudem versprach man sich von vielen Kindern Hilfe bei der beschwerlichen Landwirtschaft und Versorgung im Alter. Nicht selten saßen vierzehn hungrige Mäuler am Tisch, die niemals richtig satt wurden. Wenn der Abschied auch jedes Mal traurig war, bedeutete es doch eine Erleichterung, wenn Kinder in die Fremde gingen.

200 Kilometer Fußmarsch

In den Trennungsschmerz mischte sich bei den Kindern auch freudige Erwartung. Immerhin bedeutete die Reise, dass man ein paar Monate lang nicht die Schulbank drücken musste. Außerdem stellte sich Neugier ein, vielleicht Fernweh, ein Gefühl von Abenteuer und Aufbruch. Das verflog schnell. Im März herrscht in den Alpen noch tiefer Winter. Heutige Winterurlauber in Funktionskleidung, Thermohosen und gefütterten Fellstiefeln können sich die Strapazen kaum vorstellen.

Die Kinder trugen dünne Filzschuhe an den Füßen oder die schweren "Hölzler", grobe offene Holzschuhe, die aus Mangel an Strümpfen nur mit Papier ausgestopft waren. So kam es auf dem zweihundert Kilometer langen Fußmarsch über die Alpen häufig zu Erfrierungen. Die Führer wählten den kürzesten Wegverlauf: Steile Aufstiege auf ungesicherten Pfaden brachten die Kinder schnell an den Rand der Erschöpfung. Der Proviant im Brotbeutel war rasch aufgezehrt. Scheunen und Ställe am Weg wurden als Nachtlager genutzt. Willkommene Anlaufstellen waren die Klöster, die aufgrund der Ordensregeln zu Mildtätigkeit verpflichtet waren. Hier gab es immer eine warme Suppe, gelegentlich sogar ein Stück Weißbrot. Nachdem die Kinder den 1400 Meter hohen Reschenpass und den steilen Arlberg überwunden hatten, waren sie meist in einem erbärmlichen Zustand, wenn sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten: den "Hütekindermarkt" in Ravensburg.

Jedes Jahr am Josefstag, dem 19. März, wurde der Handel mit den billigen Arbeitskräften vor dem Gasthof Krone eröffnet. Der Ablauf erinnerte an einen Viehmarkt. Die jugendlichen Saisonarbeiter wurden von den oberschwäbischen Bauern untersucht und begutachtet, ob sie wohl kräftig genug, willig und folgsam waren. Dann wählte ein Dienstherr ein Kind aus und vereinbarte mit ihm selbst oder seinem Begleiter mündlich die Art der Arbeit und den Lohn. Der Schriftsteller Carl Theodor Griesinger verglich 1839 das Marktgeschehen in Ravensburg mit dem Sklavenhandel in Amerika: "Sollen sie verkauft werden? O nein, nur verpachtet. Kaufen würde sie niemand, man müsste sie dafür immer unterhalten. Man sieht, dass Sklaven in dieser Hinsicht vor ihnen etwas voraus haben." Über viele tausend Kilometer hinweg erschütterte das Geschehen die Gemüter.

Das "Cincinnatier Volksblatt" in den USA berichtete über den Friedrichshafener Kindermarkt: "Die Kinder werden in Reihen auf dem Marktplatz zur Besichtigung aufgestellt und die Bauern betrachten sie, befühlen die Muskeln ihrer Arme und Beine, besprechen in lauter Weise die Vorzüge und die Mängel der Kleinen. Diese Inspektion dauert den ganzen Tag. Herzzerreißende Szenen spielen sich häufig ab, wenn die Kinder ihren neuen Herren ausgeliefert werden."

Freitod aus Verzweiflung

Was aber erwartete die Kinder danach? Die kleinen Buben hüteten Gänse, Schweine und Ziegen, so entstand die Bezeichnung "Hütekinder". Sie mussten Futter holen, Kühe melken, den Stall ausmisten. Die Älteren halfen bei der Feldarbeit, beim Ackern, Pflügen und Säen. Die Mädchen kochten, wuschen die Wäsche, buken Brot und halfen im Gemüsegarten. Nebenher beaufsichtigten sie die Kinder ihrer Dienstherren. Während der Erntezeit waren alle Hände gefragt. Der Tag begann um vier Uhr in der Früh und endete um zehn Uhr abends. Pausen boten einzig die Mahlzeiten. Zum Schlafen teilten sich die Kinder kleine Kammern auf dem Dachboden. Wer Glück hatte, schlief zu zweit in einem Bett, die anderen übernachteten im Stall. Die meisten Bauern behandelten ihre billigen Arbeitskräfte gut. Doch immer wieder kam es zu Übergriffen: Jungen wurden geprügelt, Mädchen von Knechten oder Bauern sexuell missbraucht. Viele wurden schwanger und kehrten nicht mehr in die Heimat zurück, aus Furcht vor der öffentlichen Schande. Sie blieben als Mägde oder Prostituierte in der Fremde. Nicht wenige suchten aus Verzweiflung den Freitod.

Auf Dauer ließen sich diese Vorfälle nicht unter den Teppich kehren. Und hier tritt erstmals die Kirche auf die Bühne. Nicht als Organisation, sondern in Form einzelner Personen, die aus eigener Erfahrung um das harte Schicksal der Schwabenkinder wussten. Der Pfarrer Venerand Schöpf war in seiner Kindheit selbst Hütejunge und Schwabenkind gewesen. Nun setzte er sich dafür ein, deren Schicksal zu mildern, für eine gute Unterbringung zu sorgen und die Einhaltung der Lohnzusagen zu überwachen. Im Jahre 1891 initiierte er gemeinsam mit zwei Kollegen den "Verein für Hütekinder und jugendliche Arbeiter für Tirol und Vorarlberg". Er sollte vor allem für korrekte Arbeitsverhältnisse sorgen.

Ab 1901 fuhr der Pfarrer Alois Gaim, auch er ein ehemaliges Schwabenkind und nun Leiter des Vereins, regelmäßig mit seinem Helfer Josef Alois Probst auf dem Fahrrad über Land, um bei den Bauern nach dem Rechten zu sehen. Unerwartet tauchten sie auf den Höfen auf, sahen sich um und sprachen mit den Kindern. Ein Bauer, bei dem die Kinder nicht genug zu essen oder gar Schläge bekamen, musste damit rechnen, in Pfarrer Gaims "Schwarzes Buch" zu kommen: ein bis heute erhaltenes Postbuch, in dem er alle schlechten Dienstgeber auflistete. Beim nächsten Kindermarkt in Ravensburg würde dieser Bauer kein "mageres Büble" als billige Arbeitskraft ergattern können.

Als wichtigste Errungenschaft seiner Tätigkeit betrachtete der Hütekinderverein die nun schriftlich fixierten, einheitlichen Dienstverträge. Diese enthielten die genaue Höhe des Lohnes und verpflichteten die Bauern zu einer korrekten Behandlung der Kinder. Pfarrer Gaim übernahm sämtliche Korrespondenzen mit Interessenten, Arbeitgebern und Rechtsbeiständen. Er führte Prozesse gegen säumige Dienstherren und kümmerte sich um Versicherungsfälle. Im Lauf der Zeit sorgte der Hütekinderverein auch für eine geordnete Anreise zu den Märkten, für Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten sowie im Winter für eine geregelte Rückreise in die Heimat.

Starker Tobak

Ein gut gemeintes Anliegen. Jedoch legitimierte, organisierte und optimierte er damit auch die Einrichtung der Kinderarbeit. Genau das war der Grund für eine heftige Kritik an der Rolle der Kirche, zumal Geistliche in den Tiroler Heimatdörfern die erforderlichen Schulbefreiungen ausstellten und sogar in Zeitungen Inserate für die Schwabengängerei aufgaben. In einem Artikel mit der Überschrift "Clerikaler Sklavenhandel" im Tiroler Anzeiger vom 30. März 1910 ist zu lesen: "Wieder naht die Zeit, da Pfarrer und Kapläne in Tirol wie die arabischen Sklavenhändler von Haus zu Haus gehen, um möglichst viel Material für ihren Sklavenmarkt in Friedrichshafen zusammenzuschleppen. Diese armen Kinder werden dann von diesen Neuchristen unter religiösen Zeremonien ins Schwabenland geliefert."

Das war freilich starker Tobak, heftige Polemik aus der damals streng antiklerikalen sozialdemokratischen Ecke. Doch selbst heute kommt der Historiker Dr. Richard Lipp zu der Einschätzung: "Die Kirche interessierte nicht Hunger und Heimweh der Kinder, sondern ihr Mangel an religiöser Ausbildung. Das Schlimmste, was - nach Meinung der damaligen Kirche! - passieren konnte, war der Abfall vom katholischen Glauben, der Übertritt zum Protestantismus und das damit verbundene Höllenfeuer." Misstrauisch hatten Tiroler Geistliche registriert, dass Wanderarbeiter und Händler Andachtsbücher aus dem süddeutschen Raum heimgebracht hatten und sie in eigenen Versammlungen lasen. Sogar ihren Kindern brachten sie das Lesen bei. Auch wenn sich nirgendwo in Tirol eine lutherische Gemeinde bildete, betrachtete man diese Freidenker als Ketzer, schon allein daran zu erkennen, dass sie keine Madonnen in ihren Fenstern aufstellten. Die Schwabenkinder wurden nun zum konfessionellen Infektionsrisiko erklärt. Die Angst um religiöse Reinhaltung ging so weit, dass der Hütekinderverein tatsächlich ein explizites Verbot für protestantische Bauern aussprach, Schwabenkinder einzustellen, die ja ausnahmslos katholisch waren.

Zu Martini, am 11. November, endete das Arbeitsverhältnis und die Kinder traten ihre Heimreise an. Ihr Lohn bestand fast immer aus "a bitzle Geld und doppelt Häs", also einer neuen Bekleidung in zweifacher Ausfertigung und ein wenig Bargeld.

Erinnerung in 27 Museen

Den Tag der Abreise werden sie mit gemischten Gefühlen erlebt haben. Sicher waren sie erfüllt von der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Eltern und Geschwistern. Andererseits hieß es jetzt Abschied nehmen von den vollen Tellern Oberschwabens und den Menschen, die für einige Monate eine Ersatzfamilie geworden waren. Andere hingegen waren heilfroh, endlich von ihren tyrannischen Schindern erlöst zu sein. Manche aber kehrten nie wieder heim.

Doch die Erinnerung an sie ist in ihrer Heimat noch lebendig. In 27 Museen wird derzeit länderübergreifend an die Schwabenkinder erinnert. Und damit nicht genug: In Schluderns, einem kleinen Ort im Vintschgau, ist an diesem Nachmittag eine kuriose Truppe auf der Dorfstraße unterwegs. Eine Frau in altmodischen schwarzen Bauernkleidern geht voran, gefolgt von einer barfüßigen Schar Kindern in Lumpen. Die Hosen sind geflickt, die Röcke abgerissen. Grobe Jutesäcke tragen sie auf ihren Schultern, Wanderstäbe klackern auf dem Kopfsteinpflaster. Sie sind jedoch nicht auf dem Weg über die Alpen, sondern direkt ins Altersheim. Heute ist internationaler Seniorentag, und die kleine Gruppe führt dort ein Stück über die Schwabenkinder auf. Viele von den Senioren, die zuschauen, fühlen sich lebhaft an die Erzählungen ihrer Eltern erinnert, die selber noch die Schwabengängerei auf sich nehmen mussten.

Die "alte Bäuerin", die die Theatergruppe leitet, heißt Gabi Obwegeser und entpuppt sich als Direktorin des Vintschger Museums in Schluderns. Dort gibt es eine eigene Abteilung über die Schwabenkinder, schließlich sind aus jeder Familie im Dorf früher Kinder gewandert. Alte Fotos und Briefe dokumentieren die Lebensbedingungen von damals, über Kopfhörer kann man den Erzählungen alter Menschen lauschen, die sich selber noch als Schwabenkinder verdingen mussten. In ihrem harten, schwerfälligen Dialekt erinnern sie sich sogar achtzig Jahre später noch an jede Kleinigkeit, an "Wassermus und Schneemilch", an Hunger und Kälte und wie sie vor Müdigkeit auf der Kirchenbank eingeschlafen sind. Auf 1300 kleinen Karteikarten sind die Daten der ehemaligen Schwabenkinder des Vinschgaus festgehalten, ihre Herkunft, ihr Alter und ihre Schicksale. Eine mühselige Kleinarbeit, gibt Gabi Obwegeser zu, "aber keines dieser Kinder soll vergessen werden!"

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Martin Glauert

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