1.550 mutige junge Männer

Wie und warum in der DDR Kriegsdienstverweigerung möglich wurde
Ironie der Geschichte: Der ehemalige Bausoldat Rainer Eppelmann wurde 1990 Verteidigungsminister der DDR. Foto: dpa/ Jürgen Sindermann
Ironie der Geschichte: Der ehemalige Bausoldat Rainer Eppelmann wurde 1990 Verteidigungsminister der DDR. Foto: dpa/ Jürgen Sindermann
Wer zur Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen wurde und den Dienst mit der Waffe ablehnte, konnte die Wehrpflicht als Bausoldat ableisten. Geschichte und Praxis dieser Einrichtung, die es in keinem anderen Land des Ostblocks gab, schildert Altoberkonsistorialrat Peter Schicketanz (83). Er war persönlicher Referent des Magdeburger Bischofs Johannes Jänicke, der der Bekennenden Kirche angehörte und sich in der SED-Zeit für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzte.

Am 16. September 1964 erschien im Gesetzblatt der DDR eine "Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung". Dies eröffnete Wehrpflichtigen, die den Dienst mit der Waffe ablehnten, die Möglichkeit eines waffenlosen Militärdienstes.

Wie war es zu dieser "Anordnung" gekommen, die bis zum März 1990 bestehen blieb? Ein Jahr nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR im Januar 1962 wurden die "Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche" veröffentlicht. In ihnen setzte sich die evangelische Kirche auch für den "gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen" ein. Die Regierung erklärte, "objektiv" gebe es "keine vertretbaren Gründe, sich von der aktiven Verteidigung der DDR auszuschließen." Bis August 1964 fanden zwischen Vertretern des Staates und der Kirche keine Gespräche statt. Letztere wollte abwarten, wie der Staat mit Kriegsdienstverweigerern umgehen würde. Aber die jungen Männer, die zwischen März 1962 und März 1964 gemustert wurden, konnten nicht abwarten. Bei den fünf Musterungsterminen verweigerten insgesamt 1.550 den Wehrdienst. Und sie wussten, dass dafür Gefängnis drohte.

Ihre Argumente stützten sich auf das Gebot "Du sollst nicht töten" und darauf, dass der Fahneneid mit der Forderung des absoluten Gehorsams verbunden war. Die Argumente wurden von der Führung der Nationalen Volksarmee aufgenommen und führten zu der Bausoldatenanordnung: Statt der Waffe erhielten die Kriegsdienstverweigerer einen Spaten. Und statt des Eides wurde ein Gelöbnis gefordert. Aber auch in ihm musste unbedingter Gehorsam versprochen werden.

Die Anordnung wurde von der NVA nur intern vorbereitet. Es gab weder Kontakte mit den Kirchen, noch mit den Blockparteien, der Volkskammer oder der Öffentlichkeit. Der Vorsitzende der Ost-CDU Gerald Götting behauptete 25 Jahre später, die Anordnung sei auf Initiative der CDU entstanden ("Neue Zeit" vom 27. April 1989). Aber aus den Quellen der Sechzigerjahre geht das nicht hervor. Und es gibt auch keine Belege dafür, dass die Anordnung ein Thema bei dem Gespräch war, das der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und der thüringische Landesbischof Moritz Mitzenheim im September 1964 miteinander führten. Die Anordnung geht auf die erwähnte Verweigerung der 1.550 Wehrpflichtigen zurück. Die NVA wollte Verhaftungen vermeiden und nicht so viele junge Männer von der Wehrpflicht durch Nichteinberufung befreien.

Die ersten Einberufungen zum Bausoldatendienst, die Anfang November 1964 erfolgten, ergaben bereits das Bild, das sich in den nächsten Jahrzehnten zeigte: Die Mehrzahl der Kriegsdienstverweigerer ging zu den Bausoldaten. Die Zeugen Jehovas verweigerten dagegen auch diesen Dienst. So wurden bis Mitte der Achtzigerjahre rund 3.500 von ihnen einberufen und verurteilt. Hinzukamen rund 4.000 andere Totalverweigerer, darunter viele Theologiestudenten, Diakonenschüler und Kirchenmusiker. Aber von ihnen wurden bei der Einberufung nur wenige belangt und verurteilt.

Die Bausoldaten wussten um den Kompromisschararakter der Anordnung. Sie hofften, durch Eingaben und ihr Verhalten, auch durch Befehlsverweigerungen, den Bausoldatendienst in Richtung auf einen mehr zivilen Ersatzdienst zu verändern. Das wichtigste Konfliktfeld war der Einsatz in eindeutig militärischen Objekten wie Feldflugplätzen. Erst 1975 trat eine Veränderung ein. Die Bausoldaten wurden anstelle von Zivilangestellten eingesetzt, zum Beispiel als Heizer oder in Armeekrankenhäusern. Und ab 1980 wurden Bausoldaten wie andere Angehörige der NVA zu mehr oder weniger zivilen Arbeitseinsätzen herangezogen, so im Leunawerk Merseburg, in Bitterfeld und in Wolfen. Die größte Gruppe musste den Hafen in Mukran auf Rügen miterrichten.

Menschliches Gruppenklima

Das Gelöbnis wurde aber durchgesetzt. Im zweiten Durchgang wurden zwei Bausoldaten, darunter Rainer Eppelmann, wegen Befehlsverweigerung beim Ablegen des Gelöbnisses zu Haftstrafen verurteilt. Viele Bausoldaten sprachen dagegen das Gelöbnis einfach nicht mit. Und im Laufe der weiteren Jahre verlor diese Frage an Brisanz.

Die Motive der Verweigerer blieben gleich. In den Achtzigerjahren kamen politische Argumente stärker zum Zuge. Die Anordnung nannte neben religiösen "ähnliche Gründe". Die Kriegsdienstverweigerer mussten ihre Haltung schriftlich begründen. Aber anders als in der Bundesrepublik wurden die Motive nicht geprüft.

Im letzten Jahrzehnt der DDR stieg die Zahl der Wehrpflichtigen, die zu den Baueinheiten wollten. In den 25 Jahren seit 1964 dienten in der NVA rund 15.000 Bausoldaten. Ende 1989 gab es darüber hinaus über 12.000 noch nicht einberufene Bausoldaten.

Der Dienst der Bausoldaten unterschied sich grundsätzlich nicht von dem anderer Rekruten. Dienstvorschriften, die Dauer des Wehrdienstes von 18 Monaten, Urlaub, Sold und Befehlsstruktur waren gleich. Aber es bestanden auch Unterschiede: Es gab in den Baueinheiten keine Beförderungen und nur in wenigen Fällen Reservereinberufungen. Bei den Bausoldaten fehlte auch das gängige inoffizielle Hierarchiesystem von "Sprutz (erstes Halbjahr), Zwischenschweine" (zweites Halbjahr) und "Entlassungskandidaten"(die letzten 6 Monate). Ja, in den Baueinheiten herrschte von Anfang an ein anderes Gruppenklima als sonst in der NVA. Natürlich wollte die Stasi auch unter den Bausoldaten Spitzel anwerben. Aber die Sollzahl: ein IM für 50 Soldaten wurde nie erreicht. Die Stasi sah in den Baueinheiten eine "Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte".

Während die Kriegsdienstverweigerer ihre Entscheidung meist alleine getroffen hatten, erlebten sie in der Baueinheit, dass sie nicht allein waren. Und es wurden echte Freundschaften geschlossen, die teilweise noch heute bestehen. Die Mehrzahl der Bausoldaten stammte aus den evangelischen Landeskirchen. Aber es gab auch Adventisten, Baptisten, Katholiken und Männer, die keinen kirchlichen Hintergrund hatten. So entstand in den Kasernen eine ökumenische Gemeinschaft, und es bildeten sich - mehr oder weniger geduldet - Gebets- und Andachtskreise und solche, die sich mit kulturellen Themen beschäftigten. Der Gottesdienstbesuch in den Kirchen der Standorte war zwar nicht verboten, scheiterte aber oft an den Ausgehzeiten am Sonntag ab 10 Uhr oder daran, dass die Kasernen weit außerhalb lagen.

Viele Bausoldaten brachten die Armeezeit wie viele andere hinter sich, und nachdem sie in das Zivilleben zurückgekehrt waren, verhielten sich wie andere DDR-Bürger. Aber eine ganze Reihe von ihnen hatten gelernt, dass ein Friedensdienst wesentlich mehr ist als die Verweigerung des Waffendienstes. So fragten sie sich nach der Entlassung: Wo kann ich mein Anliegen weiter praktizieren? Wie kann ich gewaltlos Missstände der Gesellschaft ändern? Was kann ich dazu beitragen, die weitere Militarisierung der Gesellschaft einzudämmen? Ehemalige Bausoldaten spielten in den Friedensgruppen in und neben der Kirche eine wichtige Rolle. Und die gewaltlose Revolution, die vor 25 Jahren in der DDR ausbrach, wurde von ihnen mitgeprägt.

Eine Militärseelsorge gab es in der DDR bis zu deren Ende nicht. Aber christliche Bausoldaten suchten Kirchenkontakte und fanden in vielen Fällen offene Pfarrhäuser. Aber wie verhielten sich die Kirchenleitungen? Die Tradition der Bekennenden Kirche, die in der Nazizeit Fürbittenlisten mit den Namen kirchlicher Mitarbeiter anlegte, die verhaftet worden waren, wurde in der DDR insofern fortgeführt, als verurteilte Wehrdienstverweigerer in die Listen einbezogen wurden, auch wenn sie nicht im Dienst der Kirche standen.

Im Dezember 1964 hatte die Ostkirchenkonferenz den Magdeburger Bischof Johannes Jänicke gebeten, "einen Arbeitskreis zur innerkirchlichen Klärung der im Zusammenhang mit dem Wehrdienst offenen Grundsatzfragen zusammenzuführen". Die Zusammensetzung wurde anders als sonst üblich Jänicke überlassen. Der Arbeitskreis erarbeitete in sechs Monaten eine Handreichung mit dem Titel "Zum Friedensdienst der Kirche". Und sie wurde am 1.November 1965 von den evangelischen Bischöfen der DDR, mit Ausnahme des thüringischen, beschlossen. Die Bedeutung dieses Textes besteht darin, dass hier nicht mehr von der Gewissensfrage des Einzelnen ausgegangen wird, sondern eine gesamtgesellschaftliche und kirchliche Verpflichtung der Friedenserhaltung zum zentralen Ausgangspunkt der Überlegungen gehört. Die Bewertung der Verweigerung erfolgt mit folgendem Satz: "Es wird nicht gesagt werden können, dass das Friedenszeugnis der Kirche in allen drei der heute in der DDR gefällten Entscheidungen junger Christen in gleicher Deutlichkeit Gestalt angenommen hat. Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen, und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensangebotes unseres Herrn." 1966 forderte der Staat die Rücknahme der Handreichung. Aber die evangelischen Kirchen weigerten sich.

Literatur

Bernd Eisenfeld/Peter Schicketanz: Bausoldaten in der DDR. Die "Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte" in der NVA. Chr. Links Verlag, Berlin 2011, 628 Seiten, Euro 34,99.

Peter Schicketanz

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