Gedanken am neunten Aw

Judentum und Staat Israel - eine traurige Analyse
Demonstration am 25. Juli 2014 anlässlich des Al-Kuds-Tag in Berlin: Zwei ultraorthodoxe Rabbiner nehmen an der Demonstration teil und zeigen Plakate mit antizionistischer Aufschrift. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Demonstration am 25. Juli 2014 anlässlich des Al-Kuds-Tag in Berlin: Zwei ultraorthodoxe Rabbiner nehmen an der Demonstration teil und zeigen Plakate mit antizionistischer Aufschrift. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Die antijüdischen Parolen bei Demonstrationen in Deutschland während des Gazakrieges im Sommer dieses Jahres haben unsere Gesellschaft ausgeschreckt. Vor diesem Hintergrund reflektiert Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler aus Frankfurt/Main und deutscher Jude, in einem sehr persönlich gehaltenen Text seine und verschiedene jüdischen Positionen zum Staat Israel.

Am Dienstag den fünften August begingen fromme Juden in aller Welt den Trauertag Tischa be Aw, den neunten Tag des Monats "Aw” der am Montagabend nach Sonnenuntergang angefangen hatte. Geboten ist es, zu fasten, zu arbeiten ist nicht untersagt.

Freilich begann der Tag, der 5. August 2014, trübe, an dem ich für die "zeitzeichen" einen Beitrag darüber schreiben sollte, was mich, einen deutschen Juden, angesichts des zu Ende gehenden Gazakrieges umtrieb. Per mail erreichte mich ein Ausschnitt aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", einer Zeitung jener Stadt, deren jüdischer Gemeinde ich, bevor ich nach Berlin zog, für über 50 Jahre angehört hatte. Darin lese ich, dass die jüdische Gemeinde Frankfurts ihre Mitgliedschaft im "Rat der Religionen" nicht nur hat ruhen lassen, sondern sogar aufgekündigt hat. Habe doch - nur ein Fall unter mehreren - der Vertreter der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen, Raman Kuruyüz auf seiner Facebookseite geschrieben: "Israel kennt kein Recht. Israel kennt nur Gewalt, Macht und Töten von unschuldigen und waffenlosen Menschen.”

Die Jüdische Gemeinde sah sich zum Austritt aus dem Rat gedrängt, da sich ihrer Auffassung nach der Vorsitzende des Rats, Khushwanth Singh, von diesen Äußerungen klar hätte distanzieren und nicht lediglich zum weiteren Dialog auffordern sollen.

Es zeigt sich, dass die - jedenfalls in Frankfurt - schon vor Jahren gezogenen Brandmauern den Funkenschlag, der aus Gaza herüber sprüht, nicht aufhalten können. In einer von Migration und Transmigration gekennzeichneten Welt, deren Bürger durch die Medien so vereint sind wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte, sind derlei Brandmauern auch nicht mehr möglich. In gewisser Weise ist Gaza überall - aber warum nur Gaza und nicht auch Zentralafrika? Der Krieg scheint dieser Tage, Mitte August, seinem Ende entgegen zu gehen, eine mehrtägige Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ist angekündigt, politische Vorschläge aller Art werden auf den Tisch gelegt: Aufhebung der Blockade, internationale Kontrollen, Stärkung der Koalitionsregierung aus Fatah und Hamas, Stärkung vor allem des Palästinenserpräsidenten Abbas et cetera.

Gleichwohl geht mein Blick zurück - Zeiten der Krise, des Krieges und vor allem der Einsicht in persönliche Ohnmacht sind allemal Zeiten der Distanzierung, des Nachdenkens - und damit der Geschichtsphilosophie. Wenn es aktuell schon nicht möglich ist, die Verhältnisse zu ändern, so vielleicht wenigstens, sie besser zu verstehen. In meinem Fall das Verhältnis der Juden zum Land Israel - in Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Tischa be Aw: Dieser Trauer- und Fastentag gilt einem Ereignis, das vor etwas weniger als zweitausend Jahren in der am östlichen Rand des Mittelmeers gelegenen - damals noch "Judäa" genannten - römischen Provinz stattgefunden hat. Im Jahr 70 zerstörten die Legionen des kaiserlichen Feldherren Titus nicht nur Jerusalem, sondern auch dessen zentrales Heiligtum, den etwa sechshundert Jahre zuvor errichteten Tempel, der zur augustäischen Zeit von dem aus der Weihnachtsgeschichte bekannten Gewaltherrscher Herodes zu einem Prachtbau erweitert worden war.

Über diese Ereignisse sind wir von dem römisch-jüdischen Historiker Josephus, einem Zeitzeugen, bestens informiert: Er hat in seinem Buch über den "jüdischen Krieg" genau nachgezeichnet, wie der antiimperialistische Aufstand jüdischer Nationalisten gegen Rom schließlich ins Desaster führte. Einer der bekanntesten Schriftsteller der Weimarer Republik, Lion Feuchtwanger, hat diesem Geschehen übrigens eine bestens lesbare, spannende Romantrilogie unter dem gleichen Titel gewidmet. Aber was hat das mit dem Zionismus und - in letzter Instanz - mit dem Krieg in Gaza zu tun?

Die jüdische Überlieferung berichtet, dass die dem Tempeldienst skeptisch gegenüber stehenden Schriftgelehrten - aus den Evangelien als "Pharisäer" bekannt - den nationalistischen Aufstand gegen das römische Reich ablehnten und Jerusalem noch während der Belagerung verließen, um vom römischen Feldherren eine Kleinstadt als Ort einer gelehrten Akademie zu erbitten.

Die Bitte wurde erfüllt, das rabbinische Judentum geboren. Zu registrieren ist aber auch, dass schon während dieses jüdischen Krieges die Mehrzahl der Juden seit Jahrhunderten nicht im Land Israel, sondern diasporisch an den Rändern des Mittelmeers lebte: von den griechischen Inseln bis weit nach Ägypten, nach Alexandria hinein. Schließlich: In Babylon, im heutigen Irak existierte seit Jahrhunderten unter persischer Herrschaft eine große jüdische Minderheit, die sich durch eine bedeutende Gelehrtenaristokratie auszeichnete.

Wie - und das war das politisch-theologische Problem, das diese Gelehrten, die Rabbis in Babylonien und im Land Israel umtrieb - war die Zerstörung des Tempels sowie des jüdischen, keineswegs souveränen Staates durch die Römer zu deuten? Und vor allem: Welche Konsequenzen waren aus diesem Ereignis zu ziehen? Die meisten Rabbis deuteten den Untergang des judäischen Staates in der Tradition prophetischen Mahnens und Warnens als Strafe Gottes. Gleichwohl war ein Teil der Meinung, dass ein gottgefälligeres Leben führt, wer - und sei es unter römischer Herrschaft - im damaligen Palästina, sie nannten es das "Land Israel", lebte. Übrigens: Bis zum zweiten, gescheiterten jüdischen Aufstand im Jahre 135 war der Name der Provinz "Judäa" - erst danach benannten die Römer diese Provinz in "Palästina" um. Jesus war also ein "Judäer", mit Sicherheit kein "Palästinenser". Andere Rabbinen, vor allem jene, die im fernen Babylon wirkten, wollten es freilich alleine Gott und dem dereinst von ihm gesandten Erlöser, dem Messias, vorbehalten sein lassen, das Volk Israel wieder ins Land Israel zu führen. Um wieviel mehr musste die Gründung eines jüdischen Staates nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch nationalsozialistische Deutsche sowie ihre europäischen Hilfstruppen die Neugründung des zweitausend Jahre zuvor untergegangenen Staates erlösend wirken, als Zeichen - wie es in manchen theologischen Erklärungen protestantischer Kirchen heißt - der Treue Gottes. Ein Staat, der fortan die Juden vor jedem Antisemitismus sollte schützen können.

Wer vor diesem Hintergrund verstehen will, wie es möglich war, dass an der Spitze der juden- und israelfeindlichen Al-Kuds-Demonstration in Berlin am 25. Juli 2014 zwei ultraorthodoxe jüdische Männer marschierten, kommt um einen genaueren Blick auf die Geschichte der Juden nicht umhin. Denn: Die jüdischen Anführer der Al-Kuds-Demonstration, Mitglieder vor allem in den USA und in Jerusalem lebender Sekten, sind ebenso fundamentalistisch gegen einen jüdischen Staat wie jene im Westjordanland siedelnden Juden fundamentalistisch daran glauben, dass nur die Besiedlung des Landes die Erlösung bringen wird. Die Siedler freilich beziehen sich jedoch nicht - wie die jüdischen Antizionisten - auf eine talmudische Überlieferung, sondern auf die Eroberungsgeschichten aus den fünf Büchern Mose und dem Buch Josua.

Das Credo der ultraorthodoxen Antizionisten findet sich in einem talmudischen Traktat. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich der Talmud in striktem Gegensatz zu den Dogmen und Glaubensbekenntnissen der Kirchen durch einen offenen und freizügigen Pluralismus auszeichnet, was die göttlichen Dinge angeht. Das rabbinische Judentum ist Orthopraxie - es ringt um Eindeutigkeit im Handeln, aber der Deutung und Interpretation sind keine Grenzen gesetzt - im Talmud findet jede Meinung allemal ihre Gegenmeinung. So auch in der Frage jüdischer Macht und Staatlichkeit.

Unter Bezug auf eine Passage des kanonischen "Liedes der Lieder", in der es darum geht, ob die Töchter Jerusalems ihren Geliebten beschwören dürfen - in der rabbinischen Tradition stehen diese Töchter für das Volk Israel, der Geliebte aber für Gott - wird nun folgende Warnung artikuliert: Und R. Jehuda!? Es gibt noch einen anderen Schriftvers (Hohes Lied Salomonis 2,7): ich beschwöre Euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder den Hinden der Flur..! Und R. Zera!? Dies bedeutet, dass Israel nicht geschlossen hinaufziehe... . Dies ist wegen einer Lehre des R. Jose b. R. Hanina nötig, welcher sagte: Wozu diese drei Schwüre? Einer, dass Israel nicht geschlossen hinaufziehe, einer, dass der Heilige, gepriesen sei er, Israel beschwor, sich nicht gegen die weltlichen Völker aufzulehnen, und einer, dass der Heilige, gepriesen sei er, die weltlichen Völker beschwor, Israel nicht übermäßig zu knechten." (Babylonischer Talmud, Traktat Ketubot/Heiratsurkunden; 111 a)

Antizionistische Aussagen

Rabbi Jose ben Hanina war es, der dies vorbrachte, auf der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in Galiläa, also zur Zeit Konstantins, zu jener Zeit, als das Christentum im römischen Imperium Staatsreligion wurde. Aus dem Kontext gerissen und isoliert betrachtet stellt die talmudische Passage nichts anderes dar als eine - im modernen Sinne - antizionistische Aussage, die schon im Mittelalter zwischen den Gelehrten Maimonides und Nachmanides streitig war. Virulent und politisch bedeutsam wurde dieser Streit allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts, als mit Theodor Herzl der moderne, staatsbildende Zionismus im damaligen Palästina entstand.

Der Zionismus, ursprünglich eine ganz und gar säkulare Idee, um dem europäischen Judenhass etwas entgegenzusetzen, wurde im zweiten Drittel des 20. Jahrhundert, nicht zuletzt, um dem traditionellen, der Existenz in der Diaspora verharrenden Antizionismus etwas entgegenzusetzen, schließlich auch theologisch gedeutet: Ein bedeutender aus Litauen stammender, dann in Palästina als Oberrabbiner wirkender Gelehrter, Raw Kook (1865-1935), war - von der Lektüre Hegels beeinflusst - davon überzeugt, dass die vermeintliche Paradoxie der Besiedlung des Landes Israel durch atheistische Sozialisten Teil eines noch nicht verstandenen messianischen Geschehens sei. List der Vernunft! Dagegen standen und stehen andere jüdische Fundamentalisten, etwa die "Satmarer Chassidim", die - man mag es kaum glauben - gemäß der Lehre ihres Gründers, Yoel Teitelbaum (1887-1979), den Holocaust als Strafe Gottes für die Selbstermächtigung der Juden in Reformjudentum und Zionismus deuteten und - man schaue auf die Ultraorthodoxen an der Spitze der Al-Kuds-Demonstration - dies bis heute beglaubigen: Seite an Seite mit Juden- und Israelfeinden.

Warum beschäftigt mich dies heute? Ist es wirklich sinnvoll, sich in Zeiten, in denen es um knallharte Politik, bis hin Krieg geht, in Zeiten, in denen im Nahen Osten - wie im Irak - Staaten zerfallen, oder in denen Hunderttausende von ihresgleichen hingemetzelt werden wie im Irak, mit theologischen Streitigkeiten aus der späten Antike oder dem hohen Mittelalter zu befassen? Ja, das ist es: Das Judentum ist, wenn dieser paradoxe Ausdruck gestattet ist, nicht zuletzt seine Geschichte, eine Geschichte, die, wie soeben die israelischen Autoren Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem gemeinsam verfassten Buch "Juden und Worte" überzeugend nachgewiesen haben, eine Literal-, eine Buch- und Schriftkultur.

Wie ist es aber dann um die Juden, um uns Juden als staatsbildende Nation, genauer: als staatsbildendes Volk bestellt? Lässt man die sehr schwierig zu belegenden eisenzeitlichen Staaten des alten Israel sowie des judäischen Staates vor der babylonischen Gefangenschaft der Eliten beiseite, so ist festzustellen, dass es in der klassischen Antike keinen jüdischen Staat gab. Jenes politische Gebilde, das als Zentrum den Tempel zu Jerusalem hatte, war über Jahrhunderte hinweg verwaltungstechnisch eine abhängige Provinz des Persischen Reiches, eine Satrapie. Erst mit dem Ende des Aufstandes der Makkabäer gegen die Seleukiden im Jahr 175 vor der christlichen Zeitrechnung, also in der Zeit des Hellenismus, entstand ein unabhängiger jüdischer Staat, der allerdings nur 106 Jahre seine Unabhängigkeit behielt. Im Jahre 63 vor der christlichen Zeitrechnung eroberten die Römer unter Pompeius diesen östlichen Rand des Mittelmeers und errichteten dort einen imperialen Herrschaftsverbund. Die nun "Judäa" genannte Provinz wurde von einem römischen Kurator und teilweise von einem idumäischen Herrscherhaus, den Herodianern, regiert. Nach zwei blutigen Aufständen, in den Jahren 66 bis 70 sowie noch einmal im Jahr 135 war das Ende jüdischer Staatlichkeit bis zum Jahr 1948 besiegelt. Das heißt nicht, dass in all dieser Zeit keine Juden im Land Israel siedelten - das ist sowohl aus der späten Antike als auch aus dem Mittelalter sowie aus der frühen Neuzeit belegt. Das aber heißt: das rabbinische Judentum hatte aus den politischen Desastern und aus kluger Einsicht in die eigene relative Schwäche die Konsequenz gezogen, eine mögliche jüdische Staatlichkeit an das Ende der Tage, an die Ankunft des Messias zu delegieren.

Sollten sie am Ende, so frage ich mich heute, doch recht gehabt haben? Könnte es gar sein, dass sich die Bindung der Juden an Israel lockert, genauer, dass wir Zeugen einer Spaltung sind: hier eine sich verhärtende jüdisch-israelische Nation, die - politisch weitgehend rechts stehend - auf die eigene ökonomische Stärke als start-up economy sowie stärkste Militärmacht im ganzen Nahen Osten vertraut, dort ein diasporisches Judentum, dessen Bindung an den Staat kontinuierlich abnimmt?

Dafür existieren hinreichend viele Anzeichen - keineswegs nur die immer wieder kolportierte Zahl von dreißigtausend Israelis in Berlin.

Dazu einige wenige Beispiele aus dem jüngst erschienenen Report des Washingtoner PEW-Forschungszentrums 2013 zur Lage der US-Juden: Demnach meinen 62 Prozent, dass ihr Judentum wesentlich eine Angelegenheit von Herkunft und Kultur sei, während nur 15 Prozent betonen, dass sie ihr Judentum vor allem religiös verstehen. Bedeutsam ist weiterhin, dass die Zahl interkonfessioneller Ehen in den vergangenen zwanzig Jahren von 41 auf 58 Prozent gestiegen ist. Verglichen mit religiösen Juden sind areligiöse Juden sehr viel weniger mit jüdischen Organisationen verbunden und weniger geneigt, ihre Kinder jüdisch zu erziehen. Zwei Drittel der nichtreligiösen Juden bekennen sogar, ihre Kinder nicht jüdisch zu erziehen. Fragt man schließlich nach der Wertbindung, beziehungsweise nach dem Kern jüdischer Identität, so geben 73 Prozent das Gedenken an den Holocaust zur Antwort, 69 Prozent sehen diesen Kern in einem ethischen Lebenswandel, während weitere 56 Prozent reklamieren, Jüdischsein bedeute, für Gerechtigkeit und Gleichheit einzutreten. 25 Prozent sehen den Kern jüdischer Identität in der Sorge um Israel.

Ein Pendant zu Babylon

All dies schlägt sich in der paradoxen Sorge dieser amerikanischen Juden, der größten Diaspora, gleichsam des atlantischen Pendants zum spätantiken Babylon um den Staat Israel nieder. Beispielhaft bei dem Politologen Peter Beinart, einem modern-orthodoxen Juden, der mit einem Buch über die amerikanischen Juden und Israel Zustimmung, wütenden Widerspruch, aber vor allem große Aufmerksamkeit erregt hat. Lion Feuchtwanger jedenfalls gab in Kommentaren zu seinem dreibändigen Werk über den "Jüdischen Krieg" zu Protokoll, dass der thematische Kern seiner Trilogie die Spannung zwischen Nationalismus und Weltbürgertum sei.

Wenig anders hört sich das abschließende Bekenntnis von Peter Beinart vom vergangenen Jahr an: "Ein liberal denkender Jude, dem es gleichgültig ist, ob der jüdische Staat eine Demokratie bleibt", so Peter Beinart, "versündigt sich ebenso sehr gegen sein Volk wie ein Jude, dem es gleichgültig ist, ob dieser Staat überhaupt überlebt. Die progressiven engagierten Juden in den Vereinigten Staaten dürfen Israel nicht seinem Niedergang überlassen und sich damit begnügen, ihre religiösen und ethischen Ideale zu verwirklichen."

Und heute? Und jetzt? Und in Deutschland? Ich kann es nicht verhehlen, die Bilder der verletzten oder getöteten palästinensischen Kinder aus Gaza stimmen mich traurig, manchmal sogar wütend. Mindestens so sehr empört es mich, wenn ich lese, dass in Israel rechtsextreme Schläger linke Friedendemonstranten tätlich angreifen oder sogar den Tod der Kinder in Gaza bejubeln. Ich kann nicht beziffern, wie viele derartiger Schläger es gibt - gleichwohl komme ich nicht umhin, festzustellen, dass sich die israelisch-jüdische Gesellschaft insgesamt politisch zum Schlechteren gewandelt hat. Das konnte man sich denken: Es bekommt keiner Gesellschaft gut, bald fünfzig Jahre eine andere Bevölkerung - ich meine die Westbank, nicht das israelische Kernland - zu unterdrücken.

Ich frage mich: Bin ich dafür mitverantwortlich und meine Antwort lautet nach nicht allzu langem Nachdenken: Nein! Dafür - also für die Politik israelischer Regierungen - bin nicht ich verantwortlich, sondern jene, die sie gewählt und unterstützt haben. Allerdings bin ich als Jude für die Gegenwart und Zukunft des Judentums verantwortlich. Aus diesem Grund sehe ich es als meine Pflicht an, die Lage im Staat Israel, der in seiner Weise zum Judentum gehört, zu analysieren und zu seiner Politik Stellung zu nehmen. Zur Politik eines Staates also, der Jüdinnen und Juden nach der entsetzlichen, kaum zu verarbeitenden mörderischen Erfahrung der Shoah zum Inbegriff von Hoffnung und Schutz, von Rettung und Stolz wurde.

Angesichts der von dieser israelischen Regierung fortgesetzten, hartleibigen Siedlungspolitik ist die Einsicht nicht zu vermeiden, dass sie endlich zu dem führen wird, was kein Geringerer als der amerikanische Außenminister Kerry als "Apartheidstaat" bezeichnet hat. Und dann - ein anderer Schluss ist leider nicht möglich, wird Rabbi Hanina mit seiner Auslegung des Hohen Liedes wohl doch recht behalten.

Micha Brumlik

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