An den Grenzen

Über die Pränataldiagnostik
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"Die Hoffnung stirbt zuletzt? So ein Schwachsinn. Die Hoffnung stirbt immer zuerst."

Ein Tag am Badesee, die Sonne scheint, der Geruch von Pommes liegt in der Luft. Jan und seine Frau Nina sprechen über die Zukunft, das Baby, mit dem sie schwanger ist. Die Veränderung macht ihm ein wenig Angst; Nina hingegen plant, sich eine Nähmaschine zuzulegen, um dem Kind Kleidung nähen zu können. Ach ja, und dann ist da bald noch der Termin fürs "Babyfernsehen" und den Bluttest. Der Termin für die Pränataldiagnostik klingt nach Vorfreude und großer Routine.

Doch Jan - aus dessen Sicht der Roman erzählt ist - wird der Arztbesuch schnell unheimlich. "Offensichtlich fühlte sich das Baby durch den Ultraschall gestört, aber es hatte keine Chance, der Kontrolle zu entkommen. Alle wichtigen Körperteile wurden vermessen."

Es wird der Beginn eines Alptraums für die beiden und zu einer Zerreißprobe ihrer Beziehung. Denn das Kind - ein Mädchen, wie sie jetzt erfahren - zeigt bei der Nackenfaltenmessung schlechte Werte. Weitere Untersuchungen folgen, dann steht fest: Das Kind hat eine Genmutation, Trisomie 13. Die Zukunftsaussichten sind schlecht, viele Jungen und Mädchen mit dieser Diagnose sterben vor der Geburt oder nicht lange danach, sind schwerstkrank. Das Baby von Jan und Nina hat ein Loch im Herzen, leidet an einer Muskelschwäche, wird Krampfanfälle haben, blind und taub sein. "Die Hoffnung stirbt zuletzt? So ein Schwachsinn. Die Hoffnung stirbt immer zuerst."

Dennoch will Jan das kleine Mädchen nicht aufgeben - während Nina sofort an Abtreibung denkt. Die kommende Zeit führt das Paar an seine Grenzen. Sie schweigen, sie streiten, sind verzweifelt, dann wieder vorsichtig optimistisch. Das ungeborene Baby erhält einen Namen: "Emma". Das Kind lieben beide bereits jetzt, und sie trauern um es: Denn egal, wie sie sich entscheiden: Lange wird Emma nicht leben, und gesund wird sie nie sein.

Vom Arzt erhalten sie Kontakt zu einem Elternpaar, dessen Kind ebenfalls am Pätau-Syndrom leidet. Sie erleben eine liebevolle kleine Familie, die ein kraftzehrendes Leben mit einem dreijährigen Jungen führt. Sie sind erschreckt über Atemnot, Ernährungspumpen und Operationen. Der Schock sitzt bei Jan so tief, dass er seiner Frau Nina unterstellt, sie sei vor der Familie regelrecht geflüchtet - dabei war er es. "Ich zitterte am ganzen Körper, öffnete wieder die Tür und erbrach den ganzen Rest. (...) Weil ich nicht ertrug, was ich sah, hatte ich Nina meinen Horror untergeschoben."

Carsten Otte erzählt die Geschichte bewusst aus der Perspektive des Mannes. Immer wieder geht es um die Ohnmacht von Männern, deren Partnerinnen sich zu einer Abtreibung entschließen, ohne dass sie dabei (scheinbar) eine Rolle spielen. Es geht um das Selbstverständnis von Männlichkeit. Jan findet: Nina ist eigentlich der Mann in der Familie: "Wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Wenn es darauf ankommt, nach vorne zu schauen." Auch das wird in den Streitereien der beiden Partner immer wieder ausgehandelt: Was sind die Erwartungen aneinander, was die Selbstbilder?

Die Hauptfiguren des Romans sind kein Vorzeigepärchen. Da wird geschrien und gebrüllt und mit der Hand auf den Tisch geschlagen: "Du Sackgesicht! Du Dreckschwein!" Hinzu kommen Stress und Unzufriedenheit mit dem Beruf, die zwielichtigen Finanzgeschäfte von Jans bestem Freund, schwierige Beziehungen zu den eigenen Eltern, die Versuchung durch eine attraktive Frau. Dennoch macht so viel Drama - neben dem eigentlichen Drama der Schwangerschaft - die Lektüre mitunter etwas anstrengend. Emmas Beerdigung, geplant als große, lebensfrohe Feier am Badesee - zu der alle, einschließlich der Ärzte und Therapeuten, kommen - wirkt in ihrer Harmonie dann doch etwas befremdlich und eher kitschig.

Aber auch davon erzählt der Roman: der Fähigkeit zu Freundschaft und Liebe, der Freude am Leben, und vom Vermögen, verzeihen zu lernen - auch sich selbst.

Carsten Otte: Warum wir. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2014, 281 Seiten, Euro 22,00.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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