Loyaler Widerstand

Vor 75 Jahren begann das nationalsozialistische "Euthanasie"-Programm
Standbild aus dem Film "Ringende Menschen" von 1933. Frauen im Garten des Pflegehauses von Groß-Bethel. Sie gehörten zu denen, die gemeint waren, wenn über „Euthanasie“ diskutiert wurde. Fotos: Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Standbild aus dem Film "Ringende Menschen" von 1933. Frauen im Garten des Pflegehauses von Groß-Bethel. Sie gehörten zu denen, die gemeint waren, wenn über „Euthanasie“ diskutiert wurde. Fotos: Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Auf den 1. September 1939 ist der Geheimbefehl Adolf Hitlers zur "Euthanasie", zur Tötung "lebens-unwerten Lebens", datiert, der wohl 100.000 Menschen das Leben gekostet hat. Nicht überall wurde er blindlings befolgt. In den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel versuchte man es recht erfolgreich mit Widerstand in "durchaus loyalen und elastischen Formen", wie der Journalist Manfred Gärtner zeigt.

Pastor Fritz v. Bodelschwingh, Leiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten (heute Stiftungen) Bethel, wusste bereits Anfang 1940, was es mit den Fragebögen auf sich hatte, die von der Berliner Tiergartenstraße 4 aus unter anderen auch den diakonischen Einrichtungen in ganz Deutschland zugestellt wurden. Sie sollten die Grundlage für die Selektion derer sein, die aus den Heimen in die Vernichtungslager geschickt werden sollten.

"Pastor Fritz": Das war in Bethel Ausdruck einer tiefen Verehrung für den großen Prediger, tiefgründigen Theologen und Anstaltsleiter mit einer totalen Ehrfurcht vor dem Leben, der die Verkündigung als eigentliche Mitte und Glück seines Lebens empfand. Von den Bischöfen der evangelischen Landeskirchen war er 1933 zum "Reichsbischof" der damals geplanten Deutschen Evangelischen Kirche berufen worden, deren Verfassung er vorbereiten sollte.

Er stellte sich dieser Aufgabe, obwohl er sich selbst lieber als "Reichsdiakon" gesehen hätte. Doch schon vier Wochen nach seinem Amtsantritt musste er unter dem Druck der Nazis, von seiner Kirche schmählich fallengelassen, dieses Amt für Ludwig Müller räumen, ein den Nazis genehmer "Deutscher Christ". V. Bodelschwingh aber blieb für viele der "heimliche Bischof" der deutschen Protestanten.

"Schöner Tod"

Bewähren sollte er sich in seinem zähen, wenn auch nach außen hin unauffälligen Widerstand gegen die Vernichtung "lebensunwerten Lebens", wie die Nazis Kranke und Menschen mit Behinderungen zynisch katalogisierten. So zynisch, wie sie den von Hitler zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren mit seinem Geheimbefehl angeordneten Mord an den Kranken als Euthanasie, "schönen Tod", bemäntelten.

Hitlers Geheimbefehl führte zur Aktion "T4", benannt nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, der Steuerungsstelle der Aktion, die unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 70.000 und 100.000 Opfer forderte. Sie wurde mit bürokratischer Akribie umgesetzt: Formulare und Fragebögen säumten den Weg der Todgeweihten zu den unterschiedlichsten Orten ihrer Ermordung.

Auch die v. Bodelschwinghschen Anstalten im heutigen Bielefelder Ortsteil Bethel waren Adressaten dieser Fragebögen zur Selektion der Kranken mit dem Ziel, "lebensunwertes Leben" auszusortieren. Fritz v. Bodelschwingh, der sich als Patron seiner Kranken verstand, gab die klare Weisung aus: "Wir füllen die Fragebögen nicht aus, wenn wir nicht wissen, wozu sie angewendet werden."

Irritiert hat manche allerdings die erst Jahre nach v. Bodelschwinghs Tod im Jahre 1946 bekanntgewordene und vorher verschwiegene Tatsache, dass der leitende Betheler Anstaltsarzt Gerhard Schorsch selbst Bethel-Patienten nach den Kriterien der Nazis katalogisiert hatte. Doch so wollte man als "Anwalt der Kranken" (v. Bodelschwingh) wohl selbst Argumente an die Hand bekommen, um Kranke mit medizinischen Begründungen vor dem Abtransport in den Tod schützen zu können, wenn die angekündigten Listen eintreffen würden. Doch die trafen in Bethel nie ein, bis das Kriegsende dem mörderischen Treiben ein Ende machte.

Es war, was der nationalkonservative Theologe v. Bodelschwingh selbst so nannte: "Widerstand in durchaus loyalen und elastischen Formen". Denn für ihn hatten die Nazis mit ihrer "Euthanasie"-Aktion eine Grenze überschritten, weil sie das Menschenrecht auf Leben und die Würde der Patientinnen und Patienten als Geschöpfe Gottes antasteten und einen "Kampf gegen das Kreuz" begonnen hatten.

Eine Doppelstrategie

Die Hochschätzung behinderten, leidenden und sterbenden Lebens ist unverrückbarer Teil der Betheltradition. Krankheit und Leiden gelten dort als Gelegenheiten zur Erfahrung der Gottesnähe; in den Patientinnen und Patienten wird die Gegenwart des Gottessohnes erkannt. Das Leben Behinderter darf prinzipiell nicht zur Disposition gestellt werden.

Pastor Fritz, der niemals öffentlich gegen die Euthanasie auftrat, verlegte sich auf eine Art Doppelstrategie. Er, der immer schon lieber im Hintergrund als auf der großen Bühne seine Fäden gezogen hatte, und sein Mitstreiter Paul Braune, Leiter der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin, intervenierten bei allen möglichen Stellen: bei den Reichsministern für Justiz und für das Kirchenwesen, in der Reichskanzlei, beim Oberkommando der Wehrmacht, beim westfälischen Oberpräsidenten und Gauleiter der NSDAP, beim Regierungspräsidenten in Minden und beim Reichsärzteführer.

Alles in der aus heutiger Sicht eher naiven Hoffnung, die Tötungsaktion würde gestoppt werden, wenn nur die "richtigen Stellen" davon erführen. V. Bodelschwingh und Braune hatten erkannt, dass sich in Hitlerdeutschland schwer zu durchschauende Herrschaftsstrukturen entwickelt hatten, die die Macht hatten, mit Wissen oder Duldung der Führung geltende Gesetze durch Sondermaßnahmen willkürlich außer Kraft setzen zu können.

"Loyaler Widerstand"

Die Versuche der beiden Theologen, zu intervenieren, gipfelten in der Übergabe einer Denkschrift für Hitler in der Reichskanzlei, in der Paul Braune die Morde an den Kranken zweifelsfrei nachwies. Zwar wurde diese Denkschrift Hitler vermutlich nie vorgelegt, doch Braune wurde vorübergehend in "Schutzhaft" genommen, wobei die Gestapo einen Zusammenhang mit der Denkschrift leugnete.

Auch im Bistum Münster wurden Kranke Opfer der Tötungsaktion. Drei Wochen nach seiner Predigt vom 3. August 1941, in der der katholische Bischof von Münster, Clemens Augst Graf von Galen (im Volksmund seiner mutigen Predigten wegen der "Löwe von Münster" genannt), von der Kanzel herab öffentlich die Euthanasie verurteilt hatte, wurde die Einstellung der Aktion "T4" befohlen, die aber dennoch dezentral fortgeführt wurde. Mit dem Einstellungsbefehl Hitlers sollte nach Auffassung von Historikern lediglich Unruhe in der Bevölkerung vorgebeugt werden, zumal inzwischen auch die Ostfront eröffnet worden war.

V. Bodelschwingh wich nie vom Prinzip des "loyalen Widerstands" ab oder agierte außerhalb der Legalität, und er hielt sich stets an die Geheimhaltungspflicht. Kein Kirchenmann aber kam näher an die Verantwortlichen für die Durchführung der Euthanasie heran als Fritz v. Bodelschwingh durch sein Stochern im Hintergrund der normenstaatlichen Fassade. Seine Sache war der zähe und geduldige Kampf im Ringen mit jenen Männern, von denen er glaubte, dass sie die Aktion "T 4" stoppen könnten. Das war unter vielen anderen Hitlers Leibarzt und Euthanasie-Beauftragter Karl Brandt - nach den Nürnberger Ärzteprozessen nach Kriegsende hingerichtet, das war auch Reichsmarschall Hermann Göring.

Mit Brandt führte v. Bodelschwingh bei dessen Besuch mit einer amtsärztlichen Kommission in Bethel ein intensives Gespräch. Dabei redete er ihm fast seelsorgerlich ins Gewissen, was Brandt wegen der Gradlinigkeit v. Bodelschwinghs sehr beeindruckt haben muss. Jedenfalls erwirkte er einen zeitlich befristeten Aufschub der Tötungsaktion für Bethel und einige andere Anstalten im Westen Deutschlands, die bis zum Kriegsende andauern sollte.

Stiller, zäher Kampf

Immerhin bewirkte Pastor Fritz mit seinem stillen, zähen Kampf im Verborgenen, dass Bethel und seine Patientinnen und Patienten von der Euthanasie-Aktion weitgehend verschont blieben, anders als andere diakonische Einrichtungen in Deutschland.

Historiker schätzen vorsichtig, dass von den über 3000 Patientinnen und Patienten in Bethel insgesamt sieben jüdische Patienten Opfer der Euthanasie wurden. Bisher ungesichert ist die Zahl der Patienten und Patientinnen, die aus Bethel in staatliche Anstalten verlegt werden mussten und dort Opfer der Euthanasie wurden. Zu Massentötungen an Bethel-Patienten ist es jedenfalls nicht gekommen.

Wohl aber, das ist eine dunkle Seite, zu der man sich in Bethel heute offen bekennt, wurden bis 1945 in bis zu 1.150 Fällen gesetzlich vorgeschriebene Zwangssterilisierungen an Betheler Patienten und Patientinnen vorgenommen. Pastor Fritz gestand dem NS-Staat zwar das Recht zu, aus sozialen und ökonomischen Gründen eine Fortpflanzung von Menschen mit "minderwertigem Erbgut" zu verhindern. Aber als Seelsorger wollte er den Betroffenen beistehen, deren Überleben ihm heilig war.

Dabei war v. Bodelschwingh aber nicht der "Einsame von Bethel", zu dem er nach dem Kriege hochstilisiert worden ist, und er blieb bei aller prinzipiellen Ablehnung der Euthanasie aus seinem Glauben heraus pragmatisch: "Einem ohne unser Zutun erfolgenden Eingriff des Staates werden wir uns selbstverständlich fügen." Er würde nur in der Not die ausliefern, die er nicht mehr retten konnte, aber die retten, die man schützen kann.

Fritz v. Bodelschwingh gab von sich aus niemanden auf. Immer ging es ihm darum, das angeblich "lebensunwerte Leben" aktiv mobilzumachen für das Königreich Christi. Zu den Zeiten des Nationalsozialismus waren für ihn, den nationalkonservativ erzogenen und überzeugten Lutheraner, sein Glaube und die darauf gegründete Theologie ein gewaltiges Zeichen gegenüber einer Weltanschauung, die den Nutzen der menschlichen Gesellschaft oder Rassen zur Mitte des politischen Handelns machen wollte. Das Leben war ihm heilig, "weil Gottes gnädiges Urteil über den Menschen unantastbar" war und die Liebe Gottes "der hellste Glanz, der einem Menschen geschenkt werden kann".

Manfred Gärtner

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