Verblüffte Feinde

Warum die Bergpredigt Kirchen, Politiker und ihre Wähler herausfordert
Papst Franziskus begrüßte die Präsidenten Shimon Peres (Israel) und Mahmud Abbas (Palästina) im Vatikan zum Friedensgebet. Foto: dpa/ Paolo Galosi
Papst Franziskus begrüßte die Präsidenten Shimon Peres (Israel) und Mahmud Abbas (Palästina) im Vatikan zum Friedensgebet. Foto: dpa/ Paolo Galosi
Was Jesus zum Umgang mit Feinden sagt, stößt auch bei Christen auf Skepsis, und die Bergpredigt wird unpolitisch interpretiert. Dabei kann sie eine Verantwortungsethik beflügeln, die zur Lösung von Konflikten beiträgt, zeigt Thomas Söding, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum Neues Testament lehrt.

"Mit der Bergpredigt ... ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. ... Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt: dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt' - so gilt für den Politiker der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst - bist du für seine Überhandnahme verantwortlich." Dies schrieb der Soziologe Max Weber 1919, also unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, in seinem Aufsatz über "Politik als Beruf".

Hinter diesem Urteil steht eine weit verbreitete Ansicht: Jesu Reich sei "akosmistisch", kehre dem Kosmos den Rücken, weil es in eine bessere Welt schaue. Politik hingegen müsse dagegen "weltlich" sein, am Diesseits orientiert.

Für Weber macht sich an dieser Stelle der grundlegende Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik bemerkbar: Der Verantwortungsethiker wählt danach das geringere Übel, der Gesinnungsethiker dagegen die höchsten Ideale, und die Bergpredigt entwirft eine Gesinnungsethik, die letztlich nur Märtyrer leben können. Die Politik hingegen braucht eine Verantwortungsethik, die dafür Sorge trägt, dass es gerade keine Märtyrer gibt, sondern Frieden und Sicherheit für möglichst viele - immer im Rahmen des Rechts, aber notfalls mit Gewalt.

So betrachtet erscheinen Pazifisten, die sich auf die Bergpredigt berufen, als eine Minderheit, die sich den Luxus einer besonders edlen Gesinnung nur deshalb leisten kann, weil die Mehrheit und ihre politischen Repräsentanten die Augen nicht vor der Realität verschließen

Unpolitische Interpretationen

Der Soziologe Weber stand mit seiner Kritik der Bergpredigt nicht allein. Die evangelische Theologie seiner Zeit arbeitete ihr vielmehr zu. Einerseits reduzierte die liberale "Leben-Jesu-Forschung" die gesamte Botschaft Jesu auf Tugenden und Werte, also auf Gesinnungen. Wunder, Erlösungstod und Auferstehung sollten nur noch als Allegorien des Wahren, Guten und Schönen gelten, das das Genie aus Nazareth allen Menschen ans Herz gelegt hat. Andererseits hat Jesus nach Albert Schweitzer, der diese Moralisierung Jesu als moderne Ideologie entlarvte, den nahen Weltuntergang erwartet und deshalb nur eine "Interimsethik" gelehrt, einige wenige radikale Grundsätze für die kurze Frist, bis alles aus sei. Schweitzers Eintreten gegen die Atomrüstung Mitte der Fünfzigerjahre ist denn auch nicht aus einer Exegese der Bergpredigt erwachsen, sondern aus einer rationalen Analyse des Irrsinns, den Massenvernichtungswaffen bedeuten.

Beide Interpretationen der Bergpredigt sind unpolitisch, so unterschiedlich sie auch aussehen. Allerdings ist das Leitwort Jesu, die Königsherrschaft Gottes, nicht gerade der Code zum Eintritt in einen Raum religiöser Innerlichkeit. Denn das Evangelium ist öffentlich, erfüllt Raum und Zeit, bestimmt die Gedanken, Worte und Werke aller, die Jesus Glauben schenken: nicht nur im Verhältnis zu Gott, Himmel und ewigem Heil, sondern auch zu Menschen und irdischem Glück. Die Bergpredigt wendet sich nicht nur an die wenigen, die besonders begabt sind, sondern an alle, die sich auf den Weg der Nachfolge machen (vergleiche Matthäus 5,1-2), und darüber hinaus an viele, die zunächst nur staunen und ins Nachdenken kommen, wenn sie hören, was Jesus seinen Jüngern sagt (Matthäus 7,28-29). Die Naherwartung Jesu lässt sich nicht mit dem Kalender und der Uhr messen, sondern viel besser mit dem Stethoskop, das die Herzschläge religiöser Erfahrungen verstärkt. Es gibt also keinen Grund für eine unpolitische Interpretation der Bergpredigt.

Sie ist aber auch keine Regierungserklärung. Denn Jesus wollte keinen Gottesstaat errichten, sondern in dieser Welt die Nähe der Gottesherrschaft verkünden. Er hatte keine politische Macht; seine Bewegung war klein. Und es sollte lange dauern, bis Christen Politik gestalten konnten. Und genau dann begannen sie, die Bergpredigt als Mönchsethik zu profilieren und - zu relativieren. Doch Politiker wie Martin Luther King, Dag Hammerskjöld, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela zeigen, wie stark die Bergpredigt eine Politik des Friedens und der Versöhnung inspirieren kann. Das gilt auch für die friedliche Revolution in der DDR, deren Kerzen vor 25 Jahren die Lichtmetaphorik der Bergpredigt anschaulich machten.

Desto wichtiger ist die Frage, welche sozialethische und friedenspolitische Dimension die Bergpredigt hat und wie sie sich in politische Praxis umsetzen lässt. Die Antwort ergibt sich nur, wenn die Bergpredigt interpretiert wird - mit Sinn für die Situation, in der sie entstand, und für die, in der sie gebraucht wird.

Jesus arbeitet mit Beispielen, die übertragen, mit Grundsätzen, die angewendet, mit Provokationen, die beantwortet, und mit Weisungen, die befolgt werden sollen. Die Auslegungen dürfen den Sinn nicht verdrehen, aber sie müssen kreativ sein, damit die Impulse Jesu wirken können.

Starker Impuls

Die Bergpredigt spiegelt Lebensstil, Frömmigkeit, Friedensliebe und Versöhnungsarbeit Jesu. Deshalb ist sie ein Lebensprogramm für alle, die sich auf ihn berufen und die von ihm gerufen werden. Ein ganz starker Impuls geht davon aus, dass Jesus viele Bereiche der persönlichen Frömmigkeit und Lebensführung anspricht. Beten, Fasten und Almosen, die Sorge ums tägliche Brot, die eheliche Treue und das ehrliche Wort, Barmherzigkeit und Ehrfurcht. Das sind Friedensinitiativen, die Jesus startet, damit der Krieg mit Gott beendet wird, der im eigenen Herzen und der mit Nachbarn. Entscheidend ist, den Feind als Mit-Menschen zu sehen, Kind Gottes, Bruder oder Schwester Jesu, ein Du, für das man immer noch beten, dem man immer noch vergeben und mit dem man immer neu anfangen kann. Der letzte Grund ist für Jesus Gott, der Frieden schafft, wo Unfrieden herrscht: "Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte" (Matthäus 5,45) - nicht, weil er nicht anders könnte, sondern weil er seine Feinde liebt.

Jede der Haltungen, Überzeugungen und Handlungsweisen, die Jesus nach der Bergpredigt verkündet, ist für die Politik wichtig: den ersten Schritt zur Versöhnung tun, die Goldene Regel (Matthäus 7,12) beachten, nicht die Herrschaft der Lüge etablieren, wie Vaclav Havel das kommunistische Regime nach der Niederschlagung des Prager Frühlings bezeichnete, Ehe und Familie stärken, Armut bekämpfen und Barmherzigkeit erlauben.

Die Weisungen Jesu in der Bergpredigt zielen aber in erster Linie auf die Kirchen. Und deren Bilanz in Sachen Krieg und Frieden sieht, düster aus. Wer die Predigten vergleicht, die vor 100 Jahren, bei Beginn des Ersten Weltkrieges, in Deutschland wie in Frankreich gehalten wurden (siehe zz 7/2014), kann nur erschrecken: Dieselben Segens- und Fluchformeln, dieselben Appelle an das christliche Kämpferherz, dieselben Verweise auf den gerechten, den heiligen Krieg - nur mit umgekehrten Vorzeichen. "Gott mit uns" stand auf den Koppelschlössern deutscher Soldaten - nur dass diese Verheißung nach dem Matthäusevangelium den Jüngern auf dem Weg "zu allen Völkern" gilt, denen sie das Evangelium bringen (Matthäus 28,16-20).

Ungeheure Zumutung

Die erste Konkretion, mit der Jesus das Gebot der Feindesliebe erläutert, lautet: "Betet für die, die euch verfolgen!" (Matthäus 5,44). In diesem Fall ist es sinnlos, eine Kriegsschulddebatte zu führen. Vorausgesetzt ist, modern gesprochen, eine schwere Menschenrechtsverletzung - wie sie heute, leider Gottes, in kaum gekannten Ausmaß geschieht. In dieser Situation von denen, die schreiendes Unrecht erleiden, zu verlangen, dass sie nicht gegen, sondern für ihre Verfolger beten, ist eine ungeheure Zumutung, aber eine echte Alternative zu Vergeltungsdenken, zu Rachegelüsten, zum Ressentiment, das sich religiös rechtfertigen will.

Für die Verfolger darf man aber durchaus auch im eigenen Interesse beten: Sie sollen von der Gewalt ablassen und sich eines Besseren besinnen. Und das Für wandelt sich auch dann nicht zum Gegen, wenn die Feinde verstockt bleiben: Dass Gott ihnen ihre Sünde nicht anrechnet; dass er ihnen die Chance der Umkehr gibt; dass er ihnen ihre Schuld vergibt, sind Konkretionen der Fürbitte, die durch Jesu eigene Praxis gedeckt sind.

Wie sähe ein Gottesdienst in Krisen- und Kriegszeiten aus, der sich nicht in Anklage, Rechtfertigung, Besserwisserei und moralischer Überheblichkeit ergeht, sondern in dem "Für" seinen Ausdruck findet? Er wäre unweigerlich eine Provokation - aber eine heilsame. Schuldbekenntnisse mögen einem schwer über die Lippen kommen, aber sie sind doch aus der Rückschau einfach im Vergleich zu Friedensgottesdiensten, die mitten im Krieg stattfinden und beginnen, die Schuldfrage mit dem Klopfen an die eigene Brust zu beantworten.

Aber Gottesdienste allein tun es nicht. Das Fasten - zu dem in Form von Verzichtsleistungen regelmäßig aufgerufen wird, wenn die Waffen sprechen - nicht nur als Solidaritätsaktion mit der kämpfenden Truppe, sondern - wie nach jüdischer und jesuanischer Tradition - als Ausdruck der Trauer um die Opfer, ist eine Konsequenz der Bergpredigt. Almosen, die Werke der Barmherzigkeit, auch den Feinden nicht zu verweigern, ist ein anderes. Jesus ist sich nicht zu schade, von Geld zu sprechen: "Gib denen, die dich bitten, und weise die nicht ab, die von dir leihen wollen" (Matthäus 5,42) - internationale Nothilfe und Entwicklungsarbeit, über die Grenzen von Kriegsgebieten hinaus: Es kann keine Frage sein, wo die Kirchen sich engagieren müssen und dass sie in ihrem politischen Engagement nur glaubwürdig sein können, wenn sie sich am Jesus der Bergpredigt orientieren.

Bergpredigt "live"

Die Mahnung "richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!" (Matthäus 7,1), zielt gerade auf die mit dem schrecklich guten Gewissen, sei es beidseits der Fronten oder in sicherer Distanz von den Kriegswirren. Franz von Assisi hat mitten im Kreuzzug eine Friedensinitiative gestartet, Birgitta von Schweden im Hundertjährigen Krieg. Sie und die Pax-Christi-Gründerin Marthe-Marie Dortel-Claudot und Lothar Kreyssig, der Gründer der Aktion Sühnezeichen, zeigen die Bergpredigt live

Aber die ethische und politische Bedeutung der Bergpredigt geht über Gewissensbildung und Kirchenkritik weit hinaus. Den zentralen Punkt hat der amerikanische Judaist Jacob Neusner markiert: Er stellt sich vor, am Fuße des Berges die Predigt Jesu gehört zu haben, voller Respekt, aber doch mit einem reflektierten Nein. Denn Jesus habe die heilige Einheit von Volk, Land und Gesetz aufgelöst, die zur jüdischen Identität gehöre. Das ist scharf beobachtet. Aber es bildet die Voraussetzung dafür, dass Politik rational gestaltet wird und niemand mit Berufung auf Gott den Anspruch erheben darf, durchregieren zu wollen. Weil Jesus Politik und Religion nicht metaphysisch, sondern nur ethisch aufeinander bezieht, greift Max Webers Unterscheidung verschiedener Ethiken zu kurz.

Das "Prinzip Verantwortung" (Hans Jonas) muss die Gesinnung des Politikers bestimmen, weil er nicht Heils- und Sinnfragen zu beantworten hat, sondern Macht- und Rechtsfragen im Interesse des Gemeinwohls - national wie international. Umgekehrt gehört es zur Verantwortung des Politikers, aus welchen religiösen Motiven auch immer, eine Gesinnung zu haben, die der Bergpredigt entspricht - wenn die Politik der Gerechtigkeit verpflichtet ist, der Menschlichkeit, dem Frieden. In der Bergpredigt wendet Jesus sich der Welt mit der Botschaft von einem Frieden zu, den die Welt nicht geben kann, aber dringend braucht. Er fordert, Verantwortung zu übernehmen, gerade für diejenigen, die verantwortungslos sind. Die Gesinnung, die er propagiert, ist die der Gerechtigkeit "wie im Himmel, so auf Erden".

In diesem Horizont erklärt sich der Gewaltverzicht, den Jesus fordert. Er wählt krasse Beispiele von Demütigung: den Schlag ins Gesicht, den Raub des letzten Hemdes unter dem Anschein des Rechts und den Zwang zur Kollaboration mit den Besatzern (Matthäus 5,39-41). Die natürliche Reaktion wäre: zurückzuschlagen, zu hassen, zu verfluchen. Dieses Reiz-Reaktions-Schema, das auch die Weltpolitik beherrscht, will Jesus außer Kraft setzen. "Widersteht dem Bösen nicht!" (Matthäus 5,39), heißt nicht, das Böse einfach hinzunehmen, sondern es zu unterlaufen. Das zeigen die Beispiele. Nicht Passivität ist gefragt, sondern Aktivität - aber ein Handeln, das nicht der Logik der Gewalt folgt, sondern des Friedensstiftens, koste es auch einen hohen persönlichen Preis. "Lasst euch nicht vom Bösen besiegen, sondern besiegt das Böse durch das Gute", hat Paulus die Pointe erfasst (Römer 12,21). Ob der Gegner verblüfft oder verunsichert wird, ob er einlenkt und zur Besinnung kommt, ob er sich bestärkt sieht oder besinnungslos weitermacht, in jedem Fall wird die Spirale der Gewalt unterbrochen - durch Leidensfähigkeit, subversive Hingabe, kreative Feindesliebe.

Handlungsstärke gefordert

Wird damit bedingungsloser Pazifismus zum Gesetz des Handelns? Oder die Politik außer Kurs gesetzt? Das wäre zu einfach. Wer die Bergpredigt in das Leben Jesu einordnet, erkennt: Jesus hat sich nichts gefallen lassen, sondern ist für seine Sache eingestanden - ohne auf Unrecht mit Unrecht zu reagieren. Verteidigung vor Gericht, Notwehr, vorausschauende Friedenspolitik, die vor Aggressionen nicht die Augen verschließt, aber nicht blindwütig zuschlägt, sondern die Folgen bedenkt und Chancen der Gewaltprävention nutzt - zu all dem ermuntert Jesus auch.

Das würde im Zweifelsfall jede verantwortungsvolle Politik machen. Aber die Bergpredigt geht weiter. Sie verlangt nicht Appeasement, sondern Deeskalation, nicht Handlungsschwäche, sondern Handlungsstärke, nicht Gewaltverherrlichung, sondern Opferbereitschaft, die der Versöhnung dient. "Dem halte auch die andere Backe hin" (Matthäus 5,39): Was spricht dagegen, auf einen Erstschlag mit einem Waffenstillstandsangebot zu reagieren, wenn es eine realistische Friedensaussicht bietet? "Dem lass auch den Mantel" (Matthäus 5,40): Was spricht gegen ein großzügiges Entgegenkommen, das die Chance bietet, das Verhältnis nachhaltig zu verbessern? "Mit dem geh' zwei Meilen" (Matthäus 5,41): Was spricht dagegen, auf eigene Kosten ein Friedensmandat, das unter erpresserischen Umständen übernommen worden ist, zu verlängern, wenn so Konflikte gedämpft werden?

Den Jüngern, die er auf Friedensmission schickt, sagt Jesus: "Seid klug wie die Schlangen und rein wie die Tauben" (Matthäus 10,16). Beides gehört zusammen: die Reinheit des Herzens und der Verstand, der durch Gottesfurcht geschärft wird. Ohne beides bleibt die Bergpredigt leeres Gerede, aber mit beidem wird sie politisch brisant: als Programm der Friedensinterventionen Jesu.

mehr zum Thema

Thomas Söding

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"