Die Bibel ist Gottes Wort

Theologen müssen über den Grundsatz der historischen Kritik hinausgehen
Die Bibel auf dem Altar unterscheidet evangelische Kirchen von katholischen. Foto: dpa/ Thomas Rohnke
Die Bibel auf dem Altar unterscheidet evangelische Kirchen von katholischen. Foto: dpa/ Thomas Rohnke
Gerade im Blick auf das Reformationsjubiläum ist es unabdingbar, um das Bibelverständnis zu ringen, fordert der Präses des pietistischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes Michael Diener. Im vierten Teil der Serie über das Schriftprinzip fragt er, wie eine durch den Filter der historisch-kritischen Schriftauslegungen nur allzu profan gewordene Bibel den Menschen noch heute als Wort des lebendiges Gottes gegenübertreten kann.

Die Aktenlage ist nach wie vor gut. Es sieht so aus, als würde das so genannte Schriftprinzip als eines der herausragenden Kennzeichen der reformatorischen Kirchen die Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum der Reformation noch erleben. Aber lässt sich daraus schon auf dessen wirkliche Bedeutung in den Kirchen schließen? Ernst Käsemanns Diktum von 1951, dass - empirisch betrachtet - der neutestamentliche Kanon eben nicht die Einheit der Kirchen, sondern die Vielfalt der Konfessionen begründet, ist ja nicht wirklich von der Hand zu weisen. Und weder die Berufung auf äußere und innere Klarheit der Schrift, weder die Betonung der christologischen Mitte, noch die Definition der Heiligen Schrift als norma normans konnten (und sollten?) verhindern, dass sich die Polyphonie des evangelischen Orchesters im Laufe der Jahrhunderte doch erheblich erweiterte. Es ist unter anderem der reformatorisch gewollte Verzicht auf den einen Dirigenten, der die Pluralität in den evangelischen Kirchen befördert. Wer das, so wie ich, als Stärke evangelischen Glaubens begreift, muss sich dann aber umso dringlicher der Frage nach der Einheit in der Vielfalt stellen. Die jeweiligen Antwortversuche werden nicht umhin kommen, Eckpunkte einer hermeneutischen Verständigung mit einzubeziehen.

Ich will im folgenden in Darstellung und Gegenüberstellung eine pietistische Stimme erklingen lassen und meine damit, dass sich sehr wohl eine Familiengeschichte erzählen lässt, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann und über die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts bis zur Gemeinschaftsbewegung heute, aber auch in viele Landeskirchen der Gegenwart hinein reicht. In den evangelischen Basisorchestern hat diese pietistische Stimme deshalb nach wie vor eine kaum zu unterschätzende Bedeutung. Aus den vermeintlichen Eliteklangkörpern hat man sie aber weithin verdrängt, womit als erste Problemanzeige schon einmal aufleuchtet, dass der offizielle Verzicht auf einen Dirigenten natürlich nicht bedeutet, dass nicht doch dirigiert und regiert wird. So manches Regionalorchester entscheidet sich dabei für Partituren, bei denen pietistische Stimmen kaum noch erklingen dürfen oder teils auch brüskiert das gemeinsame Musizieren verweigern.

Keine Fundamentalisten

Woran liegt das? Im Hintergrund steht eine sehr grundlegende Frage und ja, sie ist unauflöslich mit den Auswirkungen des seit der Aufklärung sich entwickelnden neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses verbunden. Pietisten teilen eben nicht die kirchlich weit verbreitete Einsicht, dass die sich als Reaktion auf das moderne Wirklichkeitsverständnis in den evangelischen Kirchen herausbildende historisch-kritische Methode im Großen und Ganzen einen angemessenen Zugang zu den biblischen Texten eröffnet. Spätestens an dieser Stelle besteht die Gefahr, dass eine Diskussion unsachlich und überwiegend emotional geführt wird. Pietisten sind keine Fundamentalisten, und in der Regel ist die Bibel für sie kein aus dem Himmel gefallenes göttliches Buch. Sie kennen und anerkennen die - gottgewollte und gewirkte - durch und durch menschliche Entstehungsgeschichte der Ur-Kunde ihres Glaubens. Deshalb bejahen sie historische Arbeit mit und an der Bibel, und sie haben auch kein Problem mit kritischer Forschung, wenn damit im Wortsinn das unterscheidende und sich selbst auch in Frage stellende Arbeiten, das Ergründen der jeweiligen Voraussetzungen, gemeint ist.

Aber sie halten es für einen letztlich ins Leere führenden Holzweg, wenn Theologie ihre Wissenschaftlichkeit, nun wiederum im Orchester der neuzeitlichen Fakultäten, dadurch unter Beweis stellen möchte, dass sie in der Exegese unter dem expliziten oder stillschweigenden Grundsatz, als ob es Gott nicht gäbe, arbeitet. Pietisten halten die Gegenüberstellung von historischer und dogmatischer Methode in der Theologie für alles andere als fruchtbar. Die Stimme, die auf diese Weise erklingt, wird dann gerne als "rückständig", als "neuzeitlich nicht dialogfähig" bezeichnet.

Umgekehrt erscheint es mir - vorsichtig ausgedrückt - mutig, wenn hier und auch da immer noch fröhlich behauptet wird, die historisch-kritische Methode habe die Absicht den "Eigen-Sinn" der Texte gegenüber der "Eigensinnigkeit der Interpreten" zu vertreten. Nach inzwischen etwa 250 Jahren Wirkungsgeschichte müsste doch nun wirklich deutlich geworden sein, wieviel Eigensinnigkeit der Interpreten, aufgrund ihrer jeweiligen Denkvoraussetzungen, in den Ergebnissen steckt. Jesusworte etwa nur dann für echt zu halten, wenn sie sich weder aus der jüdischen Umwelt, noch aus Leben und Lehre des Urchristentums erklären lassen, kann man doch nur - mit Verlaub - als Käse bezeichnen. Es wäre allerdings unfair, die durchaus vorzeigbaren Errungenschaften und wichtigen Ergebnisse der Bibelforschung der vergangenen Jahrhunderte nur aufgrund dieses Beispiels zu diskreditieren. Aber es zeigt, dass es notwendig ist, über den Grundansatz der historisch-kritischen Methode hinaus zu gehen. Wer das jedoch andeutet, wird selbst als wissenschaftlich ausgewiesener (emeritierter) Papst, im elitewissenschaftlichen Orchester dann schnell auf das Ersatzbänkchen gesetzt.

Suche nach dem "Dritten Weg"

Die pietistische Stimme ist per se keine wissenschaftsfeindliche. Aber sie möchte danach fragen, ob ein verabsolutiertes rationalistisches Weltbild der biblischen Botschaft nicht so diametral entgegensteht, dass der Preis, mit dem sich die moderne Theologie die Partizipation in den Weltorchestern der Gegenwart glaubt erkaufen zu können, einfach zu hoch ist. Der Pietismus der Gegenwart ist zuversichtlich, dass es durchaus möglich ist, elektrisches Licht und den Rasierapparat zu benutzen und gleichzeitig an die Wunderwelt des Neuen Testamentes zu glauben, ohne dass die Verkündigung des Evangeliums deshalb unverständlich und unmöglich wird. Schon damals musste sich Rudolf Bultmann wegen seines "theologischen Restes" kritisieren lassen. Wieso am "Dass des Gekommenseins Gottes in Jesus Christus" festhalten, wenn sich alles andere auch elegant historisch-kritisch erledigen oder existenzial interpretieren lässt? Kritischer müssten mir da die Historisch-Kritischen sein!

Wenn ich mich bisher auf historisch-kritische Protagonisten des vergangenen Jahrhunderts bezogen habe, dann nur deswegen, weil ich der Überzeugung bin, dass die gleichen Grundmuster auch bis heute noch wirksam sind. Da wird die Bibel einerseits zum historischen Schriftstück wie jedes andere, um dann, nachdem der Wissenschaftlichkeit Genüge getan wurde, im gottesdienstlichen Gebrauch als "Heilige Schrift" wieder uneingeschränkt zu Ehren zu kommen. In meiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Gemeindepfarrer bin ich nur zu vielen Kirchenmitgliedern begegnet, die nicht nachvollziehen konnten, wie der Pfarrer, der - wie gefordert - die historisch-kritischen Ergebnisse auch auf die Kanzel getragen hatte, einerseits die Jungfrauengeburt als Legende und das leere Grab für den aufgeklärten Glauben nicht erforderlich erklärte, dann andererseits auf dem Friedhof im Bekenntnismodus von Jesu Auferstehung sprach und "Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?" verkündigte.

Dass eine fundamentalistische Friss-oder-stirb-Aufforderung hier genau so wenig hilfreich ist, will ich auf keinen Fall bestreiten. Bei der Suche nach dem dritten Weg zwischen Rationalismus und Fundamentalismus möchte sich der Pietismus gerne mit einbringen.

Nach diesen grundlegenden Ausführungen ist vielleicht eher verständlich, warum sich die Mitgliederversammlung des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes bis heute auf eine Erklärung zur Hermeneutik bezieht, die sie schon 1961 verfasst und 1981 nochmals bestätigt hat. Diesen Text möchte ich als eine pietistische Stimme zum Schriftprinzip in der Gegenwart gerne vorstellen (zu finden unter www.gnadauer.de)

Durchweht vom Heiligen Geist

In den Vorbemerkungen benennt die Erklärung leidvoll die schwindende Bibelkenntnis und das zurückgehende Lesen der Bibel in der eigenen (!) Bewegung und distanziert sich zugleich von einer Abwertung der Autorität der Heiligen Schrift, die dort vorliegt, wo die Bibel nur als "Text unter Texten behandelt und nach den Maßstäben autonomer Vernunft ausgelegt wird".

Der eigentliche Erklärungstext besteht aus fünf Teilen, welche jeweils mit "wir glauben und bekennen" eingeleitet werden. Das Schriftverständnis geht eindeutig von der Christologie aus "Wir glauben und bekennen, dass Jesus Christus in vollkommener und umfassender Weise Gottes Wort ist". Im Glauben an Christus öffnet sich die Schrift als "das vom Heiligen Geist gewirkte Zeugnis des Handelns und Redens Gottes in der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte". Die Erklärung vertritt in der zweiten Aussage kein spezifisches Inspirationsverständnis, sondern bezeichnet die Bibel als "gewirkt und durchweht vom Heiligen Geist". Sie ist ein Schatz in "irdenen Gefäßen", weil Gott durch Menschen in menschlicher Sprache und in menschliche Geschichte hinein zu uns redet und doch "Gottes untrügliche Wahrheit und Weisung für Glauben und Leben".

Ungeachtet der unterschiedlichen Inspirationsverständnisse bekennt sich die Gemeinschaftsbewegung in der dritten Aussage dazu, dass nur durch den Heiligen Geist das gottgewollte Verständnis der Schrift möglich ist. Die menschliche Vernunft wird, ganz im Sinne Martin Luthers, der Wahrheit der Schrift untergeordnet und jegliche Form von Bibelkritik damit abgelehnt. Die besondere Betonung der Verkündigung des Wortes Gottes in der vierten Aussage kann ebenfalls als Rezeption des von Martin Luther ausgeführten "allein die Schrift" verstanden werden. Schließlich sind im fünften Abschnitt Anklänge an Karl Barths Lehre vom Wort Gottes in dreifacher Gestalt unübersehbar. Das in der Heilsgeschichte geschehene, im Zeugnis der Bibel geschriebene und in vollmächtiger Evangeliumspredigt verkündigte Wort Gottes bilden eine gottgewollte, untrennbare Einheit. Deshalb ist die Haltung gegenüber dem Wort Gottes "ehrfürchtiges Hören, vertrauendes Annehmen, gehorsames Tun und tapferes Bezeugen".

Gerade im Blick auf das Reformationsjubiläum ist es unabdingbar, um das hermeneutische Erbe der Reformation zu ringen und zu streiten. Zum Schriftprinzip gehört dabei unbedingt eine verantwortete und methodisch geklärte Schriftauslegung. Zugleich ist aus pietistischer Sicht zu fragen, wie eine durch den Filter der historisch-kritischen Schriftauslegung nur allzu profan gewordene Bibel uns noch als Wort des lebendigen Gottes gegenübertreten und sich kritisch gegen uns selbst und unsere zeitbedingten Erkenntnisse und Erfahrungen wenden kann?

Stranguliert und Wiederbelebt

Interessanterweise beantwortet die neueste Veröffentlichung der EKD diese Frage, indem sie die Erkenntnis der Bibel als Wort Gottes an eben diese Erfahrung bindet. Gar nicht ungeschickt wird in "Rechtfertigung und Freiheit" eine fünfgliedrige "sola-Reihe" eingeführt und dem sola scriptura das solo verbo vorangestellt. Auch wenn damit das verkündigte Wort Gottes eine der Reformation entsprechende Würdigung erfährt, dient diese textliche Vorordnung, um in der Folge die reformatorisch intendierte und auch legitimierte Gleichsetzung der Bibel als Wort Gottes zu unterminieren. Der entsprechende Abschnitt zu sola scriptura problematisiert zunächst genau diese Gleichsetzung, um dann zu retten, was noch zu retten ist: Wort Gottes enthält (sic!) die Bibel immer dann, aber auch nur dann (!), wenn die menschliche Erfahrung diese Gleichsetzung nahelegt: "Bis heute werden Menschen in, mit und unter diesen Texten angesprochen und im Innersten berührt - gerade so, wie dies in der reformatorischen Theologie als Charakteristikum des Wortes Gottes wieder und wieder beschrieben wurde. In diesem Sinne können diese Texte daher auch heute noch als Wort Gottes angesehen werden. Das ist kein abstraktes Urteil, sondern eine Beschreibung von Erfahrungen mit diesen Texten: Auch heute spüren Menschen beim Lesen oder Hören dieser Texte - nicht jedes Mal automatisch, aber immer wieder -, dass sie Wahrheit enthalten." (Rechtfertigung und Freiheit, 85f.)

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier das biblische Wort, nachdem es historisch-kritisch stranguliert wurde, nun existenziell wiederbelebt werden muss. Der an dieser Stelle bisher ausgebliebene Widerspruch lässt leider vermuten, dass sich evangelische Theologie ein Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes überwiegend nur noch im Erfahrungsmodus vorstellen kann. Könnte es sein, dass die öffentliche Proklamation dieses, latent schon seit Jahrzehnten vorhandenen hermeneutischen Grundansatzes, etwas damit zu tun hat, dass sich die EKD, nach all den schwierigen Erfahrungen mit biblischen Begründungszusammenhängen - man denke nur an EKD-Papiere wie "Mit Spannungen leben" und das so genannte Familienpapier - zukünftig ersparen möchte, bei theologischen Positionierungen noch allzu viel Rücksicht auf biblische Wortlaute nehmen zu müssen?

Der Pietismus mag in der Gefahr stehen, die menschlich und geschichtlich gewordene Gestalt des Wortes Gottes zu wenig wahrzunehmen, aber die sich immer deutlicher abzeichnende Position der evangelischen Kirche steht in der Gefahr, die Bibel als Wort Gottes nur noch subjektiv hier und da bekennen zu können. Für einen wünschenswerten und im 21. Jahrhundert überzeugenden gemeinsamen Orchesterauftritt haben die Konzertmeister und Stimmführer, Vorspieler und Solisten noch Einiges zu tun.

Zum vorangegangenen Teil der Serie "Schriftprinzip"

Michael Diener

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