Neue Ängste

Über religiöse Intoleranz
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Für einen Geist der Neugier, der Empathie und letztlich der Freundschaft erwachsen kann.

Gleich zu Beginn ein Fazit: "Man muss die Tatsache akzeptieren, dass man die Welt mit anderen Menschen teilt, und so handeln, dass es anderen zu Gute kommt." Und die Aufforderung an den Leser: "Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den Frieden."

Der Aufgabe, mehr Empathie unter den Menschen unterschiedlicher Nationalität, Glaubensüberzeugung und Aussehen zu erreichen, hat sich die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum seit langem verschrieben. Martha Nussbaum, heute - zumal im angelsächsischen Sprachraum - zu den ersten Vertreterinnen ihres Fachs gezählt und mit Ehrungen geradezu überhäuft, ist Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der Universität von Chicago. Zuvor lehrte sie in Harvard und an der UN-Universität in Helsinki, wo sie mit Amartya Sen (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft 1998) das vielbeachtete Modell der "Capabilities Approaches" entwickelte, in dem Kriterien für ein menschenwürdiges Leben aufgelistet wurden. Auf ihm basiert der "Human Development Index" der UNO, der heute Maßstab für die weltweite Entwicklungspolitik ist.

Nussbaum setzt hier weniger auf die Analyse, sondern mehr auf den im Untertitel genannten Ausweg. Vorrangig geht es ihr um Vorbehalte gegen Muslime und generell gegen den Islam. Intoleranz beruhe in starkem Maße auf Angst, Angst vor realen Gefahren wie Krankheiten oder Naturkatastrophen, aber eben auch Ängste durch bloße Vermutungen und Befürchtungen: "Menschen, die anders sind, geben oft für archetypische Phantasien Anlass." In einer zunehmend globalisierten und von Massenmedien geprägten Welt könne Angst schnell uferlos werden, die alles andere, zumal Gefühle wie Liebe und Mitleid, überdeckt. Hier kommt es dann, wie Nussbaum dezidiert sagt, zu einem zutiefst moralischen Versagen, wenn die "gleichwertige Wirklichkeit" anderer nicht anerkannt wird.

Aber dabei bleibt sie nicht stehen, sondern appelliert - man möchte sagen, mit typisch amerikanischem Good-Will-Appell - an den Leser, nicht in dumpfem Trotz zu verharren, sondern sich als sozial denkend und vernunftgemäß handelnd zu begreifen. Als studierte Altphilologin greift sie die sokratische Formel vom "selbsterforschten Leben" auf, "dem ernsthaften Nachdenken darüber, wie man zu einer stimmigen Sicht der wichtigsten politischen Fragen gelangt". So wie sie andernorts ein Dreistufenmodell zum sozialen Zusammenleben entwickelt hat, findet sich auch hier ein solches Modell: Zuallererst müsse man sich der Prinzipien für ein vorurteilsfreies Leben bewusst werden, sich zweitens klar werden, wie hemmend eigener Narzissmus sein kann, woraus drittens das Gespür für ein "inneres Auge", sprich: für einen Geist der Neugier, der Empathie und letztlich der Freundschaft erwachsen könne.

Das klingt abstrakter, als das Buch in Wirklichkeit ist. Nussbaum bringt in einem lebendigen, sehr persönlichen Stil viele Beispiele aus dem Alltag in den USA, die zeigen, wie intensiv um Ausgrenzung und Einbeziehung von Muslimen, früher von Juden, von Farbigen, ja von Frauen gerungen wurde und bis heute gerungen wird. Geradezu spannend ist das Kapitel über Planungen in New York, in der Nähe des erinnerungsträchtigen "Ground Zero" ein muslimisches Gebets- und Kulturhaus zu errichten - eine Debatte, die bis zu Präsident Barack Obama in heftigstem Pro und Contra verlief, leider erfährt der Leser nicht den allerneuesten Stand. "Amerika, du hast es besser", hatte Goethe gemeint; zumindest sieht man hier erneut, mit welcher Zuversicht ein humanes, tolerantes Zusammenleben unterschiedlicher Religionen und Rassen für möglich gehalten wird.

Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014; 220 Seiten, Euro 39,95.

Dirk Klose

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