Die Farbe des Himmels

Das Blau spielt in den Religionen eine wichtige Rolle
Blaue Moscheen gibt es an vielen Orten, die wohl berühmteste steht in Istanbul. Foto: dpa/Gavin Hellier
Blaue Moscheen gibt es an vielen Orten, die wohl berühmteste steht in Istanbul. Foto: dpa/Gavin Hellier
Blau schafft Distanz, verweist auf Unergründlichkeit und Unendlichkeit, aber im Buddhismus auch auf den erleuchteten Geisteszustand, der Zorn und Hass überwindet. Adelheid Herrmann-Pfandt, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg, beschreibt die unterschiedlichen Bedeutungen, die das Blau in den großen Religionen der Welt besitzt.

"Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. ... Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. ... Die Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu."

Die "Blaue Blume" des Dichters Novalis aus dem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen", die zum Wahrzeichen einer ganzen Epoche, der Romantik, und darüber hinaus zum vielleicht wichtigsten Symbol der deutschen Dichtung insgesamt werden sollte, fasst wie kein anderes Symbol unsere Sehnsucht nach der Ferne zusammen, nach romantischer Liebe, aber auch nach der Heimat im eigenen Innern, nach dem Selbst. Und dabei ist ganz offensichtlich, dass der Übergang zwischen Dichtung und Religion hier fließend ist. Der russische expressionistische Maler Kandinsky, Mitglied der bekannten Künstlergruppe "Blauer Reiter", schrieb: "Die Neigung des Blaus zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver und charakteristischer, innerlicher wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem."

Innere Bedeutung

Wenn unsere Wunschvorstellungen von Sommer, Urlaub und Freiheit fast unauflöslich mit der Farbe Blau verbunden sind, dann ist dies wohl auch immer ein Hinweis darauf, dass unsere Sehnsucht im Grunde weiterreicht als bis zu langen Sonnenbädern am Palmenstrand und oberflächlicher Urlaubsbetriebsamkeit. Blau ist ein besonders gutes Beispiel dafür, dass Farben sich niemals in ihrem Beitrag zur Beschreibung der Außenwelt erschöpfen, sondern immer noch einen inneren, symbolischen Aspekt haben, der uns unbewusst mitanspricht, sobald wir die Farbe im Außen wahrnehmen oder auch nur an sie denken. Das gilt besonders dann, wenn Blau als Farbe des Himmels auftritt, ist doch der Himmel seinerseits nicht nur ein sichtbarer Teil der Welt, sondern auch ein religiöses Symbol.

Maria, die im Katholizismus als Himmelskönigin verehrt wird, ist in ein blaues Gewand gekleidet, das manchmal durch goldene Sterne die Anbindung an die Himmelssymbolik unterstreicht. Auf den Bildern der Schutzmantelmadonna wird der blaue Mantel der Mutter Maria auch als Ort der Zuflucht für hilfsbedürftige Gläubige gesehen, die sich wie Kinder unter ihrem Mantel versammeln.

Als Symbolfarbe ist das Blau des Wassers durchaus ambivalent. So ist Wasser einerseits die lebenspendende Substanz an sich, deren Farbe von den alten Ägyptern eine besondere Heilwirkung zugeschrieben wurde, kann aber andererseits auch eine Eiseskälte ausstrahlen, die abstoßend wirkt und auf "warme" oder "hitzige" Gefühle eine abkühlende Wirkung hat; wir kennen Blau ja auch als die Farbe auf Lippen und Körper eines frierenden oder gar unterkühlten Menschen. Über Goethe wird berichtet, dass er, der sich ja auch wissenschaftlich mit der Farbenlehre beschäftigte, ungebetene Gäste in einem blaugestrichenen Gästezimmer untergebracht haben soll, um ihre baldige Abreise zu forcieren.

Offenbarung und Glauben

Als Farbe des Himmels und des Ozeans symbolisiert Blau im Judentum Gott, die Offenbarung und den Glauben. Vor der Tempelzerstörung wurde die hebräisch als tekhelet bekannte, zwischen blau und indigo angesiedelte Farbe für das Gewand des Hohepriesters und die Ausstattung des Allerheiligsten im Tempel benutzt, heute dagegen nur noch für die kunstvoll geflochtenen blauweißen Quasten (tzitzit) am jüdischen Gebetsmantel. Über diese heißt es in der Tora (4. Mose 15,40), dass sie die Gläubigen stets an die Gebote des Herrn erinnern sollen. Dieselbe Farbkombination findet man auch in der israelischen Flagge, die den blauen Davidstern zwischen zwei blauen Streifen auf weißem Grund zeigt.

Im Hinduismus ist blau nicht die Symbolfarbe des Wassers, sondern der Erde. Blau ist auch die Hautfarbe mehrerer Götter, darunter des Vishnus. Insbesondere Vishnus Inkarnationen Krishna ("der Schwarze") und Rama werden in der Kunst gern mit blauer Haut dargestellt. Vishnus blaue Farbe wird manchmal damit begründet, dass er in jedem Weltzeitalter eine andere Körperfarbe hat und im gegenwärtigen Zeitalter eben schwarz oder blau an der Reihe ist. Es gibt in der Forschung die Vermutung, dass die blaue Körperfarbe der Götter historisch etwas mit dem braunen, ja gelegentlich fast schwarzen Teint vieler Südinder zu tun hat, denn ikonographisch gelten blau und schwarz in Indien als identisch. Wenn diese Annahme stimmt, dann könnte sie auch erklären, warum manche Inder, wie ich es schon erlebt habe, im Alltag überraschenderweise dazu tendieren, die Farben Braun und Blau miteinander zu verwechseln.

Ein anderer Gott, der mit blauem Hals oder auch ganz blau abgebildet wird, ist Shiva, der große Gott des Tanzes, der Schöpfung und der Zerstörung. Laut einem Mythos hat Shiva in der Vorzeit einmal zur Rettung der Welt Gift getrunken, was zu seiner blauen Hals- beziehungsweise Körperfärbung geführt habe.

Im psychophysischen Kosmos des tibetischen Buddhismus mit seinem riesigen und farbenfrohen Pantheon wird der Symbolik von Farben, Formen, und Attributen aller Art eine je besondere Bedeutung zugeschrieben, und sie werden im Dienste komplizierter gegenständlicher Meditationsmethoden zu organischen Systemen kombiniert. So werden zum Beispiel verschiedene Gefühle, Erkenntnisse oder Gemütszustände mit Farben verbunden, die auch symbolisch für bestimmte Inhalte und Aspekte des Erleuchtungspfades stehen. Dieselbe Farbe, zum Beispiel Blau, symbolisiert dabei diverse zusammengehörige, aber verschiedene unerleuchtete und erleuchtete Aspekte der ein und derselben Thematik.

Zorn und Hass

Zunächst ist die mit der Farbe Blau verbundene geistige Haltung die der genauen Beobachtung und Reflexion, die sich jedoch schnell in das unerleuchtete Gefühl des Zornes oder Hasses verwandeln kann. All dies sind Geisteszustände, die distanzaufbauenden Charakter haben. Im System der Himmelsrichtungen ist das Blau mit dem Osten verbunden und steht als entgegengesetzter Pol dem Rot des Westens gegenüber, das für Emotionen wie Gier und Habenwollen steht und damit distanzüberwindenden Charakter hat. Der mit der blauen Farbe verbundene Hass und die mit Rot assoziierte Gier stellen somit zwei sich ergänzende Pole des unerleuchteten Geistes dar.

Der zur Farbe Blau gehörige erleuchtete Geisteszustand, der zur Überwindung des Zornes und Hasses beiträgt, ist nun die "Spiegelgleiche Weisheit", die den Hass durch eine ebenso wirklichkeitsgetreue wie unbewegte, gleichmütige Spiegelung der Realität ersetzt. Der Geisteszustand, der sich einstellt, wenn Spiegelgleiche Weisheit kultiviert worden ist, wird oft mit einem See verglichen, der so ruhig daliegt, dass er die Umgebung und den Himmel genauso spiegelt, wie diese sind, ohne die Wellen und Verzerrungen hasserfüllter Gemütszustände. Das Blau, das die ruhig daliegenden Bergseen in der klaren Luft Tibets unter wolkenlosem Himmel ausstrahlen, ist für die Bewohner des Landes der beste Anschauungsunterricht für diese Symbolik. Zur Überwindung des roten Aspekts der Unerleuchtetheit, der Gier, ist dagegen eine andere geistige Kraft nötig, nämlich die "Unterscheidende Weisheit", die den Menschen daran hindert, alles gierig an sich zu reißen, und stattdessen zwischen der Aneignung heilsamer und unheilsamer Dinge unterscheidet. In gewisser Weise können wir die "Unterscheidende Weisheit" mit der aus der christlichen Spiritualität bekannten "Unterscheidung der Geister" vergleichen.

Gleichgültige Haltung

Zurück zur Farbe Blau. Es gibt einen Buddha, der die Symbolik der Farbe Blau, die Buddha-Familie des Zornes, der Klarheit und der Spiegelgleichen Weisheit zusammenfasst. Er ist ebenfalls im Osten lokalisiert, von blauer Körperfarbe und trägt den Namen Akshobhya, der "Unerschütterliche". Er steht für die Fähigkeit eines Buddha, eines Erleuchteten, durch noch so viele Anfechtungen und Versuchungen nicht in Ärger oder andere Gemütsaufwallungen versetzt zu werden, sondern ganz ruhig und konzentriert auf sein Ziel hin orientiert zu bleiben. Das Vorbild hierfür ist der Religionsstifter Buddha Shakyamuni selbst, der diese gleichmütige Haltung kurz vor seiner Erleuchtungserfahrung an den Tag gelegt hat, als ihn der Versucher Mara immer wieder mit verschiedenen drohenden und verführenden Maßnahmen vom Ziel abzulenken versuchte.

Ein blauer Buddha mit einer ganz anderen Aufgabe ist Bhaishajyaguru, der so genannte Medizin-Buddha. Er ist der Schutzheilige der Heiler und Ärzte und wird von Ärzten im Zusammenhang mit der Herstellung mineralischer oder pflanzlicher Medizin und der Behandlung von Patienten angerufen und meditativ vergegenwärtigt.

Blaue Gottheiten können jedoch auch direkt und ungeschminkt den Zorn verkörpern, sie haben dann einen drohenden, zornigen Gesichtsausdruck, gedrungene, muskelbepackte Gliedmaßen und raubtierhafte Fangzähne. Sie werden als Schutzgottheiten gegen böse Einflüsse angerufen oder dienen der Auseinandersetzung mit dem eigenen Zorn und Hass, um sie schließlich zu überwinden. Bei all diesen verschiedenen Gottheiten zeigt nähere Betrachtung, dass sie auf Erkenntnissen über die seelischen Wirkungen von Farben beruhen und diese für die Meditationspraxis nutzbar machen.

Es ist interessant zu sehen, dass der Distanz schaffende Charakter, der dem Blau in einigen schon beschriebenen Kontexten eignet, auch im Islam wahrgenommen worden ist. Vor allem in Ägypten hat Blau eine apotropäische Wirkung, die sich etwa gegen den "bösen Blick" richtet und damit vor Übeln wie Krankheit und Tod schützt. Blau kann jedoch auch, zum Beispiel im persischen Kulturraum, die Farbe der Trauer sein.

Unergründlich und unendlich

Zugleich hat im Islam das Blau als Himmels- und Meeresfarbe, ähnlich wie im Christentum und Judentum, die Bedeutung der Unergründlichkeit und Unendlichkeit. Sicherlich hängt hiermit die - neben dem muslimischen Grün - große Beliebtheit von Blau bei der Ausgestaltung von Moscheen zusammen. Manche sind berühmt für ihre blaue Farbe und nach ihr benannt, so gibt es blaue Moscheen nicht nur in Istanbul, sondern auch in Orten wie Hamburg und Villingen-Schwenningen. Und im Iran und Zentralasien sind zahlreiche Moscheen, zum Beispiel die von Isfahan und Buchara, mit Kuppeln aus blaugemusterten Kacheln geschmückt.

Einer der schönsten poetischen Texte zur Farbe Blau stammt aus einem Gedicht des frühsufistischen afghanischen Dichters Hakim Sinai (ca. 11.-12. Jh. n. Chr.):

Verborgen unter dem azurblauen Spiegel der uranfänglichen Oberfläche des Wassers [liegt] das Geheimnis der Schöpfung: Gottes eigene Palette, auf der alle Farben des Regenbogens und über diesen hinaus und Formen von unvorstellbarer Vielfalt und Schönheit, in dieser Welt noch nicht geoffenbart, mühelos durch die Gärten des Paradieses fließen...

Oh, geliebte Natur des Allmächtigen! - ein Traum in einem Traum, Heimat meines Herzens.

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Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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