Enge Tür

Feindesliebe gilt auch gegenüber den Feinden der Flüchtlinge
Im schwäbischen Weissach brannte am 24. August eine designierte Flüchtlingsunterkunft. Foto: dpa
Im schwäbischen Weissach brannte am 24. August eine designierte Flüchtlingsunterkunft. Foto: dpa
Politiker haben immer wieder behauptet, mit der Bergpredigt könne man nicht regieren. Thomas Söding, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum Neues Testament lehrt, skizziert, wie das Gebot der Feindesliebe praktiziert werden kann, ohne die Flüchtlinge dem Mob und seinen klammheimlichen Sympathisanten preiszugeben.

Weil der Flüchtlingsstrom nicht abreißt, liegen bei vielen Deutschen die Nerven blank. Das Land will ein freundliches Gesicht zeigen, aber die zuständigen Behörden arbeiten an der Belastungsgrenze. Der Einsatz Freiwilliger ist enorm. Aber auf Dauer kann ehrenamtliches Engagement den Aufbau einer Infrastruktur nicht ersetzen.

Die angespannte Lage wird von Brandstiftern ausgenutzt. Wo Sorge herrscht, wird Panik geschürt. Wo Herzlichkeit gefragt wäre, herrscht Hartherzigkeit. Wo man einen kühlen Kopf bewahren müsste, wird Öl ins Feuer gegossen: mit Worten und Taten. Das "christliche Abendland", heißt es, müsse verteidigt werde - durch Ausgrenzung, Abschottung und Abschiebung. Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf Asylbewerberheime. Ausländer werden attackiert - auch solche, die es nur zu sein scheinen. Wer eine dunklere Hautfarbe hat, lebt gefährlich. Und wer muslimischen Glaubens ist, gerät schnell in Verdacht. Selbst Neonazis erhalten Zulauf und versuchen, Terror zu verbreiten, nicht immer erfolglos.

Die Kirchen sind in dieser Situation besonders gefordert. Was das christliche Abendland ist, sollten sie am besten wissen. Und Flucht und Vertreibung sind ihnen ins Stammbuch geschrieben. Es gibt kaum statistische Erhebungen: Aber der Anteil der Kirchenmitglieder unter den Helfern dürfte nicht gering sein. Viele Kirchengemeinden entwickeln eigene Aktivitäten, um das Los der Menschen zu verbessern, die nach Deutschland kommen.

Die Kirchen müssen eine Politik unterstützen, die sich im Namen der Menschlichkeit der Kunst des Möglichen verschreibt. Und in Extremfällen müssen sie für unkonventionelle Lösungen bereitstehen, bis hin zum Kirchenasyl. Die Herausforderung anzugehen, verlangt die Anspannung aller Kräfte. Denn aller Voraussicht nach wird sich die Lage nicht so schnell entspannen.

Wie aber sollen Christinnen und Christen mit den Brandstiftern umgehen, mit denen in den eigenen Reihen, und denen, die noch nie eine Kirche von innen gesehen haben? Stehen im ersten Fall Kirchenausschlüsse an? Bleibt nur der stumme oder laute Protest? Muss man Schutzmauern um die Kirchen errichten, damit sie vom Gift des Fremdenhasses nicht infiziert werden? Das wäre ein Armutszeugnis. Gibt es mehr? Gott sei Dank fehlt es nicht an Appellen und Initiativen für mehr Bildung, Resozialisierung und Psychotherapien. Wo aber bleiben Gott und der Glaube an ihn? Wo wird die Liebe aktiv? Wie groß ist die Hoffnung?

Alles Getaufte

Das GPS-System christlicher Ethik ist die Bergpredigt mit dem Gebot der Feindesliebe. Kann sie sich in der Flüchtlingskrise bewähren? Lähmt sie das politische Engagement? Macht sie hilflos vor Hass und Gewalt? Oder weist sie ganz im Gegenteil einen Weg, aktiv gegen Unrecht einzutreten, ohne neues zu begehen, und Hass nicht durch Hass zu bekämpfen, sondern durch Liebe zu besiegen?

Früher schien es, dass das Gebot nur eine kleine Elite angeht, Helden oder Heilige. Und tatsächlich bedarf es immer wieder der Initiative Einzelner, um die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit zu reißen. Aber den Evangelien zufolge richtet Jesus das Gebot der Feindesliebe an alle, die sich von ihm in die Nachfolge rufen lassen. Nachösterlich sind mithin diejenigen angesprochen, die getauft sind und den Namen Jesu Christi tragen. Mehr noch: Der Evangelist Matthäus hat die Bergpredigt so aufgebaut, dass Jesus direkt die Jünger anredet, indirekt aber auch die Menge, die am Fuß des Berges versammelt ist. Die Menschen sollen hören, was Jesus seinen Jüngern sagt - und zumindest ins Staunen geraten, besser aber, sich seine Worte zu Herzen nehmen. Das Gebot der Feindesliebe ist nach dem Neuen Testament nicht der Ausdruck einer christlichen Sondermoral, sondern eine zutiefst menschliche Ethik. Feindesliebe ist human - gerade weil sie inmitten schreiender Unmenschlichkeit auf die Liebe setzt. Die Provokation der Bergpredigt besteht darin, dass sie nicht einfach andere auffordert, sich zu engagieren, und dass sie nicht auf religiöse Virtuosen hofft, die auf dem ethischen Hochdrahtseil balancieren, sondern sich an alle wendet.

"Liebt eure Feinde" - wie weit reicht das Gebot? Die Beispiele, die in der Bergpredigt genannt werden, um die Feindesliebe zu veranschaulichen, führen das Unrecht vor Augen, das jemand am eigenen Leibe erfährt. Von religiöser Verfolgung ist die Rede, von Gewalt, die erlitten wird, von drückender Armut, die mit Hilfe von Gerichten bestraft wird, und von politischer Unterdrückung, die militärisch organisiert ist. Es scheint, als wolle Jesus gerade Beispiele nennen, die besonders wehtun, weil sie Erniedrigung und Beleidigung, Schmerz und Ohnmacht verbinden.

Schon das alttestamentliche Gebot (3.Mose 19, 17-18) setzt dort an, wo durch schuldhaftes Verhalten Hass, Groll und Rachegefühle entstehen können und die durch Nächstenliebe überwunden werden sollen. Jesus weitet diese Ansätze bis über jede Grenze aus, um zu sagen, es gibt keinen Menschen, keinen noch so großen Verbrecher, der nicht doch ein Mensch wäre und damit zum Nächsten werden kann, den es zu lieben gilt - auch wenn er hasst.

Der tiefste Grund ist theologischer Natur: Gott selbst liebt seine Feinde (Matthäus 5,45). Er hasst die Sünde, aber liebt die Sünder, schrieb Augustinus. Gott ist barmherzig (Lukas 6,36), auch mit den Unbarmherzigen. Das soll die ethische Orientierung vorgeben. Von Liebe ist die Rede, weil jede gute Tat kalt bliebe, käme sie nicht von Herzen.

Was ist aber mit dem Gebot der Feindesliebe, wenn es andere sind, die gehasst werden? Was ist, wenn der Hass Menschen gilt, die vor Krieg und Not fliehen und in Deutschland Asyl suchen oder auch nur die Chance auf ein besseres Leben? Die Opferbereitschaft, die ich vielleicht selbst an den Tag lege, kann ich anderen nicht gebieten oder so praktizieren, dass andere Schaden nehmen. Die Bergpredigt ist kein Freibrief für Gewalttäter, die mit der Nachgiebigkeit der Jünger Jesu rechnen. Sie soll im Gegenteil ein Fanal des Widerstandes gegen den Hass sein, gegen die Gewalt, ein Wegweiser durch die enge Tür, die aus dem Tal des Todes ins Reich Gottes führt (Matthäus 7, 14-14), und ein Fels in der Brandung tobender Meinungsschlachten, auf dem Menschen ein Haus des Lebens bauen können (Matthäus 7,24-27). Kann sie diesen Anspruch einlösen, wenn Gewalt gegen Flüchtlinge, Hass auf Farbige, Rassismus und völkische Ideologie eingedämmt und überwunden werden müssen?

Gar nicht so selten ist zwischen dem Hass auf andere und auf die eigene Person nicht klar zu unterscheiden. Viele, die sich als Landrat oder Bürgermeisterin, als Mitglied eines Flüchtlingsprojekts oder auch nur als Passant für Flüchtlinge einsetzen, werden mit Hasstiraden bombardiert, von anderen Attacken ganz zu schweigen.

Das Gebot der Nächstenliebe, auf das sich das Gebot der Feindesliebe bezieht, ist bereits im Alten Testament um das Gebot der Fremdenliebe erweitert (3. Mose 19,34), mit der bemerkenswerten Begründung: "Ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen." Nach Martin Buber bedeutet, den Nächsten zu lieben "wie dich selbst", eine Ethik auf Augenhöhe: "Er ist wie du". Die ersten Christinnen und Christen haben sich selbst als "Fremde" gesehen (1. Petrus 1,1), die auf gute Nachbarschaft angewiesen sind und selber in der Kirche eine Willkommenskultur aufbauen wollen. Die Fremden sind dem biblischen Menschenbild zufolge viel weniger fremd, als es vielen scheint. Wer das Gleichnis vom Weltgericht nicht vergisst, wird in jedem Flüchtling Jesus selbst erkennen: "Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen" - oder eben nicht (Matthäus 25, 31-46). Das Gleichnis enthält keine dogmatische Aussage. Es sagt nicht voraus, dass die Hartherzigen in der Hölle schmoren werden. Es zeigt vielmehr, was auf dem Spiel steht, dass es um Leben und Tod geht.

Der erste Schritt einer Ethik der Feindesliebe in der Flüchtlingskrise ist deshalb, zu sagen: "Das habt ihr mir getan". Auf der moralischen Ebene geht es um Solidarität und auf der spirituellen um den Blick für die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen, unabhängig von Nation und Religion - für eine Einheit der Menschheit, die von Gott gestiftet wird, vor allen Stämmen und Staaten. In einem Gemeindesaal, der zur Notunterkunft wird, in einer Kleiderkammer, die aus allen Nähten platzt, in einer Schulklasse, die zur Deutschstunde einlädt, wird diese Vision konkret, ob mit einem kirchlichen Label oder nicht.

Hohes Ross

Die Täter sind allerdings von dieser Ethik nicht ausgenommen. So sehr sie die Fratze des Hasses zeigen, werden sie doch von Gott geliebt - nicht wegen, sondern trotz ihres Hasses, so wie sie (hoffentlich) auch von der Mutter, dem Vater, den Geschwistern und den Freundinnen und Freunden geliebt werden. Dieser Blick für das Menschsein derer, die andere Menschen zerstören, hat zwei miteinander verbundene Aspekte. Der eine: Sie sind - von wenigen Ausnahmen abgesehen - voll verantwortlich und müssen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Der andere: Sie auf ihren Hass und ihre Verbrechen zu reduzieren, wäre inhuman. So schwer es ihnen fallen mag, sie haben, solange sie leben, die Möglichkeit der Besserung - und danach fallen sie wie alle in Gottes Hand.

Die Zumutung ist aber noch größer: Der Nächste ist "wie du". Wer die eigenen Ängste vor Fremden nicht wahrhaben will, die eigenen Vorurteile, den eigenen Aggressionstrieb, ist ein Heuchler. Wer sich eingesteht, dass er selber oft genug der Feindesliebe bedarf, macht sich nicht mit den Übeltätern gemein. Aber er steigt auch vom hohen Ross der moralischen Überlegenheit herunter - auf den Boden der Tatsachen.

Doch Feindesliebe ist nicht nur eine Sache der inneren Einstellung, sondern auch der konkreten Praxis. Auf welche Möglichkeiten verweist das Gebot Jesu? Die erste Konkretion des Gebotes ist nach Matthäus: "Betet für die, die euch verfolgen" (Matthäus 5,44), und nach Lukas: "Tut denen Gutes, die euch hassen" (Lukas 6,27). Beides gehört zusammen wie Gottes- und Nächstenliebe.

Für die Verfolger zu beten und nicht gegen sie, heißt nicht, sie in ihrem Hass zu bestätigen, sondern Gott anzurufen, dass er ihnen einen Weg aus dem Hass zur Liebe bahnt. Es ist also durchaus auch im Interesse der Verfolgten, dass ihre Bitten erhört werden. An dieser Stelle kann man schon nach Aktualisierungen fragen: Wie kommen in den Solidaritätsgottesdiensten für Flüchtlinge diejenigen vor, die sie hassen? Dient die Liturgie dazu, sie moralisch fertigzumachen oder von oben herab zu belehren? Wie kann ohne Anbiederung und verbindliche Harmlosigkeit die Klarheit der sozialethischen Position mit dem Vertrauen auf die Wirksamkeit der Gnade zum Ausdruck kommen? Wie können Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammenkommen?

Und "Gutes tun"? Damit ist nicht gemeint, die Übeltäter in ihren bösen Absichten und Taten zu bestärken. Vielmehr werden ihnen Steine in den Weg gelegt - dadurch, dass nicht die Logik des Hasses greift, sondern die der Liebe. Alle sozialpädagogischen Maßnahmen, die anspruchsvoll und zugewandt sind, haben hier ihren theologischen Ort. Und wenn sie nicht greifen, bleibt es bei Paulus: "Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch Gutes" (Römer 12, 21).

Feindesliebe toleriert den Hass nicht, sondern bekämpft ihn. Die erste Aufgabe der Kirchen bleibt, die ethischen Kräfte in den eigenen Reihen zu mobilisieren, um die Flüchtlinge nicht hungern, dürsten und frieren zu lassen. Ihre zweite Aufgabe besteht darin, diejenigen zu unterstützen, die sich mit Absichtserklärungen nicht begnügen, sondern gute Lösungen suchen. Und die dritte Aufgabe der Kirche besteht darin, diejenigen nicht zu vergessen, die aus Angst oder Berechnung die Fremden hassen, Einheimische aufstacheln oder Unfrieden unter den Emigranten stiften. Sie dürfen ihr Unwesen nicht weiter treiben. Die Arbeit der Polizei und Justiz ist vonnöten, der Widerstand der Zivilgesellschaft, aber auch das Friedensgebet, das die Rassisten einschließt, ohne sie mit den Opfern gleichzusetzen, und die Friedensarbeit, die Kriegstreiber nicht ausgrenzt, sondern ihren Hass entlarvt, aber zu überwinden trachtet - nicht zuletzt auch, um die Bedrohung zu minimieren.

Thomas Söding

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