Seiner Zeit voraus

Vor 500 Jahren geboren: Sebastian Castellio, ein Vordenker der Toleranz
Dieses Porträt zeigt Sebastian Castellio. Es ist das einzig überlieferte Bild von ihm und entstammt seiner Biblia sacra, hier in einer Ausgabe von 1778. Foto: Alcorde-Verlag
Dieses Porträt zeigt Sebastian Castellio. Es ist das einzig überlieferte Bild von ihm und entstammt seiner Biblia sacra, hier in einer Ausgabe von 1778. Foto: Alcorde-Verlag
500 Jahre ist es her, dass Sebastian Castellio (1515-1563) in einem kleinen savoyischen Dorf zur Welt kam. 1540 war er zur Reformation übergetreten, und seine Toleranzschriften wurden nahezu in ganz Europa diskutiert. Der Würzburger Theologieprofessor Klaas Huizing porträtiert den Vordenker der Toleranz.

Im Archiv der Vergessenen hat Sebastian Castellio einen Ehrenplatz, hält er doch das Gedächtnis daran wach, dass Johannes Calvin, der Modellgeber der reformierten Theologie, nicht nur sein religiöses, sondern auch sein humanistisches Gewissen verraten hat, als er den spanischen Humanisten und Arzt Michael Servet, den Kritiker seiner Theologie, nicht nur auf den Scheiterhaufen schicken ließ, sondern die Barbarei einer Verbrennung bei lebendigem Leibe nicht verhinderte, die die katholische Inquisition entgegen der landläufigen Meinung nur äußerst selten beging. Damit das kulturelle Gedächtnis diesen Mann nach pflichtschuldigen Erinnerungszeremonien nicht sofort wieder auslagert, hat jetzt ein Verlag seine Hauptwerke neu übersetzen lassen: "Das Manifest der Toleranz, Gegen Calvin, Von der Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens", flankiert von einer neuen Biographie, die lange kursierende Fehler behutsam berichtigt. Nach den Feierlichkeiten zum 500. Geburtstag von Calvin im Jahre 2009, geht jetzt Castellio im Erinnerungsprozess wenigstens kurzzeitig in Front.

Um die Fallhöhe anzudeuten, zitiere ich eine Sequenz aus einem Buch von Stefan Zweig, der Castellio gegen Calvin antreten lässt und die Hinrichtung Servets sprachmächtig beschreibt: "Der Tod am Brandpfahl durch langsames Rösten bei kleinem Feuer ist die martervollste aller Hinrichtungsarten; selbst das als grausam berüchtigte Mittelalter hat sie nur in den seltensten Fällen in ihrer ganzen grauenhaften Langsamkeit angewendet; meist wurden die Verurteilten noch vorher an dem Pfahle erdrosselt oder betäubt. Gerade diese scheußlichste, diese fürchterlichste Todesart aber ist für das erste Ketzeropfer des Protestantismus vorgesehen, und man kann verstehen, daß Calvin nach dem Aufschrei der Entrüstung in der ganzen humanen Welt alles versuchen wird, um nachträglich, sehr nachträglich die Verantwortung für diese besondere Grausamkeit bei Servets Ermordung von sich wegzuschieben. Er und das übrige Konsortium hätten sich bemüht, erzählt er (als Servets Leib längst in Asche zerfallen war), die martervolle Todesart der Röstung bei lebendigem Leib in die mildere des Schwerts umzuwandeln, aber 'ihre Mühe sei vergebens gewesen' ('genus mortis conati sumus mutare, sed frustra'). Von einer solchen angeblichen Bemühung ist nun in den Ratsprotokollen kein Wort zu finden. (...) Als die Flammen von allen Seiten aufschlagen, stößt der Gemarterte einen so grässlichen Schrei aus, daß die Menschen sich für einen Augenblick schaudernd abwenden. (...) Aber wo ist Calvin in dieser Schreckensstunde? Er ist, um unbeteiligt zu scheinen oder um seine eigenen Nerven zu schonen, vorsichtig zu Hause geblieben, er sitzt bei verschlossenen Fenstern in seiner Studierstube, dem Henker und dem brutaleren Glaubensbruder Farel das grausame Geschäft überlassend."

Desaströse Finanzen

Kurzzeitig gehörte der in einem kleinen savoyischen Dorf geborene Castellio, der nach humanistischen Studien am Collège de Trinité in Lyon und der Lektüre von Calvins Institutio 1540 zur Reformation übergetreten war, zu den Vertrauten Calvins, wohnte sogar eine Woche in dessen Haus in Straßburg. Calvin ernannte ihn nach beider Umzug nach Genf zum Rektor der dortigen Schule. Bereits seine erste Publikation war äußerst erfolgreich. Die 1542 von Castellio veröffentlichten und bis ins 18. Jahrhundert verwendeten Dialogi sacri dienten als Schul- und Arbeitsbuch für den Bibel- und Lateinunterricht. Weil Castellio dem kanonischen Charakter des Hohenliedes widersprach und Calvins Auslegung der Höllenfahrt Christi ablehnte, wahrscheinlich auch bereits deutliche Bedenken gegen die Prädestinationslehre äußerte, kam es zum Bruch zwischen beiden. Castellio ging mit Ehefrau und acht Kindern nach Basel und arbeitete als Korrektor bei dem Buchdrucker Johannes Oporin. 1549 starb seine Frau Huguine, dann ein Kind. Noch im gleichen Jahr heiratete Castellio erneut und bekam mit seiner Frau Maria noch sechs Kinder.

Unter finanziell desaströsen Bedingungen schrieb Castellio seine lateinische Bibelübersetzung (1551), die von seinen Kritikern wegen der Verwendung des ciceronianischen Lateins, und seine französische (1555) Übersetzung, die wegen seiner dialektalen Einsprengsel denunziert wurde. In der Vorrede zur lateinischen Übersetzung an Eduard VI. legt Castellio erstmals seine Toleranzüberzeugung in starken Worten dar. "Die Heilige Schrift lädt die Menschen freundlich dazu ein, die Wahrheit zu ergreifen, sie gebraucht dazu nicht Gewalt und Mord. Sie verbietet ausdrücklich, die Ketzerei auszulöschen und die Ketzer zu ermorden. (...) Wer allzu schnell richtet, wird es bald bereuen. Viele haben es bereut, dass sie gerichtet haben; jedoch nicht, dass sie ihren Richterspruch aufgeschoben haben. Wer eher zur Sanftmut als zum Zorn neigt, der richtet sich nach der Natur Gottes. Obwohl er weiß, dass wir Sünder sind, schiebt er sein Urteil trotzdem so lange hinaus und wartet, bis wir uns bessern. Denn wer sogleich tötet, bietet keine Möglichkeit zur Reue."

1553 wurde Castellio zum Professor für Griechisch an der Universität Basel berufen. Aber ein ruhiges Gelehrtenleben blieb ihm versagt. Denn die im Oktober vollzogene Verbrennung Servets veranlasste ihn dazu, im Frühjahr 1554 unter dem Pseudonym Martinus Bellius eine Anthologie von Texten berühmter Männer, die sich gegen die Tötung von Ketzern aussprachen, angereichert mit eigenen Texten zu veröffentlichen, die den Reformator Theodor Beza zu einer Gegenschrift herausforderte. Eine darauf wiederum reagierende Gegenschrift Castellios blieb wegen der Basler Zensur ungedruckt und kursierte nur in Handschriften im Untergrund. Auch Castellios Schrift Gegen Calvin, die in Dialogform minutiös viele Stellen aus Calvins Verteidigungsschrift zum Fall Servet, Defensio orthodoxae fidei, wiederlegte, erschien erst fünfzig Jahre später in den Niederlanden. Die Argumentationslinie Castellios, die sich weitgehend in allen Schriften durchhält, bezieht sich auf die positive diakonische Überzeugungskraft des Christentums, die durch jeden Ketzerprozess eine empfindliche Schwächung erfährt. Vielmehr sei es Aufgabe jedes Christen, auch ausgemachte Häretiker durch vernünftige Argumentation und tätige Beispiele der Nächstenliebe zu einer Umkehr zu bewegen. Zum hermeneutischen Schlüsseltext wählt Castellio das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das eben nicht ausgerupft werden darf, um dem finalen Gericht Gottes nicht vorzugreifen, gestützt von einem auf der Titelseite abgedruckten Spruch aus 1. Korinther 4,5: "Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der das Verborgene ans Licht bringen und die geheimen Gedanken der Menschen offenlegen wird." An die Adresse Calvins gesagt: "Der Gottlosen Rede trachtet nach Blutvergießen, der Mund der Rechtschaffenen versucht es zu verhindern" (Sprüche 12,6). Sanftmut wird gegen Rechthaberei eingefordert. Und hübsch ironisch wird im Schlussakkord des Buches Contra libellum Calvini gegen die Prädestinationslehre polemisiert. "Merkwürdig ist sicherlich, dass die Theologen, (...) welche die Prädestinationslehre bislang so eifrig lehren, bei der Tötung der Ketzer viel grausamer sind als andere. Dabei wäre es besonders ihre Aufgabe, sich jener zu erbarmen, denen, wie wir wissen, jene Ketzerei vorherbestimmt wurde und die, selbst wenn sie wollten, nicht anders denken können."

Zu den spannenden späten Texten zählten neben Editionen der "Theologia Deutsch" (1557) und der "Imitatio Christi" (1563) vor allem der 1562 erschienene "Conseil à la France désolée", der zu einer Koexistenz der Konfessionen im vom Religionskrieg geschundenen Frankreich aufrief und damit, wie sein Interpret Hans R. Guggisberg gezeigt hat, das hehre Consensus-Prinzip der Humanisten gleichsam aussetzte. Nicht mehr veröffentlichen konnte Castellio die Arbeit "De arte dubitandi et confidendi, ignorandi et sciendi", ein Versuch, sich dem rationalistischen Denken mit Nachdruck anzuschließen. Dieser Text erschien erst 1937 in Rom und jetzt erstmals auf Deutsch.

Castellios Toleranzenthusiasmus schloss auch eine freundschaftliche Nähe sowohl zum Täufer David Joris ein als auch zum dogmatisch sehr eigenständigen und darum von den Calvinisten beargwöhnten Bernardino Ochino, dessen lateinische Übersetzungen der "Dialogi triginta" er veröffentlichte. Als Universitätslehrer blieb Castellio hoch geschätzt und zählte viele Studenten zu seinen Schülern. Aufgerieben durch Denunziationen plante Castellio Basel zu verlassen und nach Polen auszuwandern. Doch der Tod Ende Dezember 1563 verhinderte den Neuanfang.

Die größte Nachwirkung erzielten neben dem Schulbuch, das durchaus noch einmal für Leserinnen und Leser der Gegenwart zugänglich gemacht werden sollte, Castellios Toleranzschriften, die nahezu in ganz Europa diskutiert wurden. Vor allem in den Niederlanden setzte früh eine Rezeption ein, die im so genannten Remonstrantenstreit eine mächtige Wirkung entfachten. Die Remonstranten wiesen die strenge calvinistische Prädestinationslehre zurück, betonten die Glaubens- und Willensfreiheit und deuteten die Toleranz als höchste ethische Norm.

In Zeiten, in denen Bilder von Religionskriegen wieder zum Alltag gehören und jede Nachrichtensendung zu einem Missvergnügen machen, stiften die humanistisch getönten Texte von Castellio Mut, den Gedanken der Toleranz hochzuhalten. Fraglos, Castellio war kein vergleichbar theologischer Kopf wie Calvin, aber er sah scharfsichtig die Schwächen in dessen Institutio und klagte die Barbarei an, der Calvin sich im Fall Servet schuldig gemacht und dabei seinen Humanismus verraten hatte. Castellio, nicht Calvin, ist der Autor der Stunde. Die vom Alcorde Verlag mit viel Sorgfalt und ästhetischem Gespür besorgten Bände könnten dem Denken Castellios zu einem mächtigen Rezeptionsschub verhelfen. Er sollte im Erinnerungsprozess noch lange vor Calvin in Führung bleiben.

Literatur

Sebastian Castellio: Gegen Calvin. Contra libellum Calvini. Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Uwe Plath. Alcorde Verlag, Essen 2015, 431 Seiten, 36,- Euro.

Ders.: Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Alcorde Verlag, Essen 2014, 440 Seiten, 34,- Euro.

Ders.: Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Alcorde Verlag, Essen 2015, 402 Seiten, 38,- Euro.

Uwe Plath: Der Fall Servet und die Kontroverse um die Freiheit des Glaubens und Gewissens. Castellio, Calvin und Basel 1552-1556. Alcorde Verlag, Essen 2014, 456 Seiten, 32,- Euro.

Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. Fischer Verlag, Frankfurt 1983, 256 Seiten, 8,95 Euro.

Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio. Wegbereiter der Toleranz (1515-1563). Eine Biographie. Alcorde Verlag, Essen 2015, 351 Seiten, 32,- Euro (siehe Seite 64).

Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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