Zwischen Anspruch und Realität

EKD legt Orientierungshilfe zur Inklusion vor
Auf der Suche nach Konturen für ein komplexes Thema. Foto: picture alliance
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Mit der Orientierungshilfe "Es ist normal, verschieden zu sein" will die Evangelische Kirche in Deutschland dazu beitragen, dass jeder Mensch, ob mit oder ohne Behinderung, die Möglichkeit hat, selbstbestimmt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Kathrin Jütte stellt die EKD-Schrift vor.

Es ist fünf Jahre her, dass auch Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Mit ihrer Unterschrift verpflichten sich die Vertragsstaaten, allen Menschen eine aktive Teilnahme in der Gesellschaft zu ermöglichen. Mit ihrer nun vorgestellten Orientierungshilfe "Es ist normal, verschieden zu sein" will die EKD ihren Beitrag auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft formulieren. Doch dazu bedarf es nach Ansicht der Ad-hoc-Kommission zu allererst einer begrifflichen Klärung: Was bedeutet "Inklusion"? Zunächst einmal, dass alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, gleiche Rechte genießen. Konkret: "Mit dem Begriff der Inklusion soll also ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess angestoßen werden. Ziel ist die volle, selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen mit und ohne Behinderung in einer in jeder Hinsicht barrierefreien, offenen und demokratischen Gesellschaft, in der Vielfalt als Bereicherung erlebt wird und individuelle Freiheit verbürgt ist", formulieren die Kommissionsmitglieder. Und weiter: "Dabei geht es darum, dass Inklusion als Überzeugung und Haltung in den Köpfen und Herzen aller Menschen im Gemeinwesen Einzug hält und die Praxis im täglichen wie im professionellen Handeln bestimmt."

Mit diesem Verständnis sei die "Abkehr von der Defizitorientierung und einem System von falsch verstandener Wohltätigkeit und bevormundeter Fürsorge verbunden". Damit formulieren die Kommissionsmitglieder nichts weniger als den anstehenden Paradigmenwechsel: "Stand vormals ein Bild von Behinderung im medizinischen Sinne im Fokus, das gesundheitliche Probleme (Schädigungen und Funktionseinschränkungen) der Einzelnen heraushob, wird heute die Beeinträchtigung von Teilhabe als soziale Behinderung verstanden." Und diese gilt es nach Ansicht der EKD zu beheben: "Menschen mit Behinderungen, deren Lebenssituation häufig von Fremdbestimmung und Ausgrenzung aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben geprägt war, werden als selbstbestimmte Akteure ihres Alltags wahrgenommen und sollen hierfür die nötigen individuellen Ressourcen erhalten." Letztlich geht es darum, "tradierte gesellschaftliche Denkmuster zur Bewertung und Beschreibung von Behinderung zu reflektieren".

Der Herausforderung des ambitionierten Projektes sind sich die EKD-Experten bewusst. Schließlich bedarf es großer Anstrengungen, ein "barrierefreies Leben aller in einer auf dem Leis-tungsgedanken beruhenden demokratischen Gesellschaft zu organisieren und zu finanzieren".

Systemveränderung nötig

Doch was folgt daraus, auch für Kirche und Diakonie? Eine Systemveränderung, alle Lebensbereiche sollten inklusiv gestaltet werden, fordert die Ad-hoc-Kommission unter Vorsitz der Bamberger Pädagogikprofessorin Annette Scheunpflug und des Düsseldorfer Oberkirchenrates Klaus Eberl. Ausführlich gehen die Kommissionsmitglieder in der EKD-Schrift auf die theologische Fundierung der Inklusion ein. Dabei beziehen sie sich auf die in der Schöpfungsgeschichte formulierte Gottebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1, 26f): "Die unverfügbare Gottebenbildlichkeit schützt den Menschen vor jeder Form der Festlegung durch Definition, Diagnose oder Zuschreibung." Und sie benennen auch "Irrwege" der Theologie, die Behinderung als Werk des Teufels oder als Strafe Gottes aufgefasst hat. Dagegen stellen sie die Forderung auf: "Theologische Denkmuster sind auf ihre Wirkung hin zu prüfen." Die Vielfalt als Chance zu begreifen, sehen die Verfasser und Verfasserinnen im paulinischen Motiv vom Leib Christi gegeben (1. Korinther 12, 26).

Daraus folgt, dass "die christliche Gemeinde als eine Ergänzungsgemeinschaft zu verstehen ist, in der Geben und Nehmen selbstverständliche Funktionen des einen Leibes Christi sind". Das schließe jedwede herablassende Haltung oder machtvolle Dominanz der einen gegenüber den anderen aus. Und deshalb verfehle der fürsorgliche Ansatz das inklusive Ziel.

Selbstkritisch fügen die Experten hinzu, dass die gegenwärtige Gestalt der Kirche in Gemeinde und Diakonie noch weit davon entfernt sei, ein Inklusionsmotor zu sein. Enge soziale Milieus und auch religiöse Kommunikation führten zu Ausgrenzung. "In erster Linie das Engagement für Menschen mit Behinderungen" sei für die Kirche gegenwärtig ihre Stärke und ihre Schwäche, weil das Denken in zwei Räumen damit nicht überwunden sei. "Geschwisterlichkeit gelingt, wo aus dem Engagement 'für andere' eine 'Kirche mit anderen' wird, die das 'für' nicht aufgibt, sondern in einer Kirche des Füreinander der Verschiedenen als 'Kirche aller' neu zur Geltung bringt." Die Orientierungshilfe thematisiert den Aufbau von diakonischen Einrichtungen, von Förderschulen und übt Selbstkritik, somit der Entstehung von "Sonderwelten" Vorschub geleistet zu haben.

Versäulung des Systems

Als zentrale Aufgaben benennt die Orientierungshilfe "eine selbstreflexive Sprache", die "ermöglicht und ermutigt", Sensibilität für menschliche Vielfalt und auch die Diskussion um die zukünftige Gestalt des hochdifferenzierten Sozial- und Gesundheitssystem. Stichwort "Versäulung des Hilfssystems": "Bei Leistungen des Sozialstaats sollte konsequent die betroffene Person mit ihrem Umfeld und weniger das Interesse der unterschiedlichen, durch die Versäulung des Sozialversicherungssystems definierten Institutionen für einzelne 'Betroffenengruppen' im Mittelpunkt stehen", heißt es.

Die Orientierungshilfe benennt Lebensbereiche, die für inklusives Handeln von besonderer Bedeutung sind: Konkrete Umsetzungsempfehlungen werden, wo möglich, gegeben, ansonsten werden Visionen formuliert.

Neben der konkreten Forderung an den Gesetzgeber, wie zum Beispiel die "Elternassistenz und Begleitete Elternschaft" eindeutig zu regeln, das heißt, Eltern mit Behinderungen zu unterstützen, geht es auch um Wahlfreiheit, wo und mit wem jemand leben möchte. Die Orientierungshilfe rückt zudem in den Blick, dass in Zukunft neue Hilfsangebote für ältere Menschen mit Behinderungen und wachsendem Pflegebedarf benötigt werden. Besonderes Augenmerk legen die Verfasserinnen und Verfasser auf die Themen "Erziehung" und "Bildung". Und sie stellen fest: "Mit einer Beteiligungsquote von 75 Prozent aller Kinder mit (drohender) Behinderung am Regelsystem ist die Kindertagesbetreuung Vorreiterin einer inklusiven Bildung, Erziehung und Betreuung im deutschen Bildungssystem."

Anders in der Schule. Denn während die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht, alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam zu unterrichten, zeichnet sich das deutsche Bildungswesen durch eine starke Differenzierung aus. Deshalb fordern die Kommissionsmitglieder: "Gerade in der Umbauphase zu einem inklusiven Bildungssystem ist die gegenseitige Öffnung, sowohl der Allgemeinen Schulen gegenüber den Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf als auch der Förderschulen gegenüber den von Schülerinnen und Schülern ohne besonderen Förderbedarf, voranzutreiben." Die Forderung nach einer "barrierefreien, geeigneten Raumausstattung" mutet dabei wie eine Petitesse an, zeigt jedoch die Schwierigkeiten allein in der praktischen Durchführung auf.

Wohnungsbau betroffen

Das betrifft auch das Wohnen. Schließlich ist Inklusion nur möglich, wenn sich Menschen einander im öffentlichen Raum begegnen können. Und von barrierefreien Zugängen in Gebäuden, auf Plätzen und in Bussen und Bahnen profitieren auch ältere Menschen und Leute, die einen Kinderwagen schieben. Auch in diesem Bereich ist die "Versäulung" des deutschen Sozialsystems ein Problem: "Damit wird es notwendig, bisher entkoppelte Rechtssysteme - wie das Kinder- und Jugendhilferecht, das Sozialhilferecht, das Eingliederungshilferecht sowie das Bildungs- und Schulrecht - und die mit den Bereichen verknüpften Leistungssysteme und Akteure aufeinander zu beziehen." Ziel müsse sein, dass Menschen mit Behinderungen so wohnen und leben können, wie sie es möchten.

Das betrifft auch den Bereich der Arbeit. "Vor dem Hintergrund der mangelnden Aufnahmebereitschaft des allgemeinen Arbeitsmarktes und im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen werden die Werkstätten für behinderte Menschen jedoch auch zukünftig eine wichtige Rolle bei der Teilhabe am Arbeitsleben übernehmen", heißt es in der Orientierungshilfe. Diese stehen als "Sondereinrichtungen" seit geraumer Zeit in der Kritik. Auch gilt: "Menschen mit Behinderungen müssen sich ihre Arbeit selbst aussuchen können."

Welche Herausforderungen ergeben sich mit der Inklusion für Kirche und Diakonie? Eine zentrale Frage sei dabei die Zusammenarbeit von "verfasster Kirche" und Diakonie, von Gemeinde und diakonischen Einrichtungen oder Diensten. Die Verfasserinnen und Verfasser räumen ein, dass die lange Tradition von "Sondereinrichtungen" und "Sonderschulen" dazu geführt hat, dass Menschen mit Behinderungen in den Ortsgemeinden kaum eine Rolle gespielt haben. "So hat sich die Spaltung von 'Steuerbürgern' und 'Transferempfängern' zwischen Kirche und Diakonie noch einmal wiederholt." Für die Diakonie bedeutet das nach Ansicht der Kommission die "Überwindung der Zielgruppenorientierung und Versäulung", die vor allem in der Diakonie als Wohlfahrtsanbieter auch durch die Form der Refinanzierung durch den Staat festgelegt ist. Und für den Gottesdienst? Da sind Fahrdienste zu organisieren, Assistenzen anzubieten, aber vor allem: "Mit Musik, Gesang, Spielszenen, Tanz, Bild, Film, Symbol, Geruch, Geschmack und Bewegung werden möglichst viele Sinne angesprochen. So kann das Wort Gottes auf vielerlei Weise erfahrbar gemacht werden."

Zu guter Letzt: "Inklusion aller Menschen ist in der Theologie noch kein Querschnittsthema." Deshalb ist sie herausgefordert, Inklusion "im Lichte der biblisch-theologischen Grundlagen neu zu reflektieren und ihre theologische Arbeit auf exkludierende und diskriminierende Anteile hin zu überprüfen". Das betrifft auch die evangelische Kirche als Arbeitgeberin und als "Ehrenamtsorganisation". Trotzdem sind sich die Verfasserinnen und Verfasser darüber im Klaren: "Inklusion ist kein statischer oder messbarer Zustand, der irgendwann erreicht ist, sondern ein dynamischer Prozess, der täglich neu gelebt wird." Und weiter: "Eine wichtige Orientierung auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft gibt die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem, die Unterscheidung des verantwortlich Machbaren und der Vision, die dem Machbaren Richtung gibt."

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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