Mehr wagen

Überlegungen zur Qualität auf der Kanzel
Hier hielt Martin Luther 1546 seine letzte Predigt: Kanzel der St. Andreaskirche in Eisleben. Foto: epd/ Steffen Schellhorn
Hier hielt Martin Luther 1546 seine letzte Predigt: Kanzel der St. Andreaskirche in Eisleben. Foto: epd/ Steffen Schellhorn
Was ist eine gute Predigt? Kann man diese Frage überhaupt beantworten? Wahrscheinlich nicht, denn die Geschmäcker sind verschieden. Leichter scheint es zu sagen, wie es auf gar keinen Fall sein darf. Der praktische Theologe Alexander Deeg aus Leipzig begibt sich auf die Spurensuche nach den Kriterien einer gelungenen Kanzelrede.

Eine gute Predigt - bestimmt ist das eine, auf die ich als Hörer oder Hörerin aus vollem Herzen "Amen" sage. Aber manchmal ist auch das eine gute Predigt, vielleicht sogar eine besonders gute, auf die ich bestimmt nicht "Ja und Amen" sagen kann, sondern die mich aufrüttelt und hinterfragt, herausfordert und tagelang umtreibt.

Eine gute Predigt - bestimmt ist das eine, die ich als Hörerin oder Hörer noch lange danach wiedergeben kann, weil sie so eindrucksvoll war. Aber manchmal ist eine gute Predigt auch die, von der ich schon kurz danach nicht mehr genau weiß, was gesagt wurde, ich aber eine Stimmung mitnehme - wie einmal eine ältere Frau bei einem Nachgespräch sagte: "Da war der Himmel für mich irgendwie offen. Schön war das!"

Das Phänomen der Predigt ist - das zeigen schon diese ersten Beobachtungen - komplex und unübersichtlich. Was den einen gefällt, finden andere problematisch. Was manchen guttut, ärgert die anderen. Zertifizierbare und überprüfbare Qualitätskriterien für eine gute Predigt kann es nicht geben, so dass auch in Zukunft nicht an manchen Kirchentüren ein grüner Aufkleber "Geprüfte Predigtqualität" kleben wird, der an anderen leider fehlt.

Viel leichter als zu sagen, was eine gute Predigt ist, ist es ohnehin, negativ zu formulieren und zu sagen, was eine gute Predigt nicht sein sollte. Eine gute Predigt soll nicht langweilen, nicht abstrakt theologisieren, nicht fern des Lebens daherreden, nicht zu lang sein, nicht akademisch abgehoben, aber bitte auch nicht banal, nicht einfach Seelenwellness bieten, aber der Seele schon auch Nahrung geben.

Problematische Erwartbarkeit

Ich meine, dass ein Grundproblem die Predigtgeschichte durchzieht: die Konventionalität dessen, was gesagt wird, die problematische Erwartbarkeit. Der Praktische Theologe Friedrich Niebergall (1866-1932) schreibt im zweiten Band seiner dreiteiligen Predigtlehre mit dem Titel "Wie predigen wir dem modernen Menschen?" vor gut 100 Jahren einen amüsant-entlarvenden Paragraphen 13, der die Überschrift trägt: "Der Kirchenschlaf". Darin sagt er: "Das Wort Predigt hat sich für die meisten Leute so innig mit dem Gefühl der Nötigung zum Gähnen assoziiert, daß wir nicht fehl gehen, wenn wir einen sehr großen Teil der Kirchenflucht nicht auf die Abneigung gegen das Wort Gottes, nicht auf die Trägheit [...] zurückführen dürfen, sondern auf die Erinnerung an die Gefühle, die man von Jugend an unter der Kanzel erlitten hat." Dann beschreibt Niebergall, wie es einem gehen kann, wenn man eine ganz normale Predigt am Sonntag hört. Er zeigt den erwartbaren Aufbau beginnend mit einer Darstellung der Bedeutung des Textes damals, auf die dann die Frage folgt: Und was hat das heute noch mit uns zu tun? Als Antwort sei aber wiederum nichts Konkretes zu hören, sondern nur Abstraktes und Leeres. Irgendwann habe man dann abgeschaltet. Da vorne werde zwar noch geredet, "es predigt", aber ich höre schon lange nicht mehr zu.

Es predigt - das ist die Erfahrung einer Predigt, die nichts mehr mit dem Leben von Menschen zu tun hat. Die Predigt, die das Ritual des Gottesdienstes immer wieder unterbrechen sollte, wird damit selbst ein Teil des Rituals. Aber was immer, was überall und was von allen gesagt werden könnte, ist nicht das, worum es in der Predigt gehen sollte.

Worum aber soll es dann gehen? Die empirischen Studien der vergangenen Jahre haben ein buntes Bild von dem ergeben, was als gute Predigt erlebt wird. Es gibt die Hörenden, die gerne ein wenig Bibelkunde und Theologie auf der Kanzel erleben. Und es gibt andere, die das für pure Langeweile und bildungsbürgerlichen Dünkel halten. Es gibt Hörerinnen und Hörer, die sich konkrete Lebenshilfe erwarten. Und es gibt andere, die es ganz furchtbar finden, wenn Pfarrer Tipps und Tricks zum rechten, guten und spirituellen Leben weitergeben. Es gibt diejenigen, denen ein anregender Gedanke in der Predigt genügt, um selbst weiterzudenken. Und es gibt die anderen, die gerne der ganzen Predigt folgen und während des ganzen Verlaufs mitdenken wollen. Ja, es gibt sogar die, die einfach nur dankbar sind für den Freiraum, den ihnen die Predigt 15 bis 20 Minuten lang schenkt. In einer Untersuchung sagt eine Befragte: "Manchmal höre ich auch zu. Aber manchmal ist es einfach auch nur Kulisse, und zwar positive Kulisse, ... wenn da jemand etwas redet, was hoffentlich in irgendeiner Weise auch positiv ist." Die Verschiedenheit der Erwartungen zeigt: Allen kann man's nicht recht machen. Aber doch sind viele augenscheinlich zufrieden, auch wenn sie nicht regelmäßig hingehen. Mehr als zwei Drittel der Evangelischen sagen in den EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen, ein Gottesdienst solle vor allem eine "gute Predigt" enthalten.

Pure Langeweile

Gibt es in alledem doch so etwas wie eine Grundregel für die gute Predigt? Ich meine: ja! Und blicke auf Luther. Dieser sah die Predigt als den Ort im Gottesdienst, an dem klar wird: Es geht um dich und es geht um das Heute. So meinte Luther einmal in einer Weihnachtspredigt: "[...] ob Christus tausendmal für uns gegeben und gekreuzigt würde, wäre es alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme, und teilet's aus und schenket mir's und spreche: Das soll Dein sein, nimm hin und habe es für Dich" (WA 36,184). Predigt hat die Aufgabe, biblische Worte, Bilder und Geschichten gegenwärtig so auf die Bühne zu bringen, dass klar wird: Das Stück, das hier gespielt wird, ist dein Stück, und du spielst die Hauptrolle! Wenn das nicht geschieht, geht die Predigt an ihrer Aufgabe vorbei. Eine Predigt, die ich als Pfarrer einfach wieder aus meinem Regal ziehen und nach Jahren nochmals unverändert halten kann, war schon damals keine gute Predigt und ist es heute auch nicht. Predigt lebt davon, dass sie nicht das sagt, was immer gilt, sondern das wagt, was heute gewagt werden muss.

Gottfried Keller (1819-1890) beschreibt einmal einen "Kirchenbesuch". In dem Gedicht heißt es unter anderem:

Die Gemeinde schnarcht so sanft,

Wie das Laub im Walde rauschet,

Und der Bettler an der Tür'

Als ein Räuber guckt und lauschet;

Doch wie eines Bächleins Faden

Murmelnd durchs Gebüsche fließt,

So die lange dünne Predigt

Um die Pfeiler sich ergießt.

Da schafft es eine Predigt augenscheinlich nicht, die Gemeinde drinnen (diese schnarcht vor sich hin) und die Welt da draußen (für die der Bettler an der Tür stehen kann) so wahrzunehmen, dass die Predigt mehr wäre als ein inhaltsleerer Klangteppich. Im Gegenteil: Lang und dünn ist die Predigt. Es gibt Predigende, die merkwürdigerweise meinen, eine gute Predigt müsse immer eine bestimmte Länge haben: "Ich höre nach sieben Seiten auf zu schreiben", so sagt mir ein Prediger, "dann weiß ich, dass das ziemlich genau 20 Minuten ergibt." Das kann manchmal gut gehen. Aber manchmal sind nach zwei Seiten die Einfälle vorbei, und dann muss gestreckt werden. Aber die Predigt wird nicht besser, wenn nun weitere Worte aufgegossen werden, sie wird nur lang und dünn.

Länge kein Kriterium

Ich bin überzeugt: Predigt darf auch einmal kurz sein! Wenn ich als Prediger/in pointiert und anregend fünf Minuten lang reden kann - wunderbar! Die Gemeinde wird, so meine ich, danken und wird sich vielleicht auch über eine längere Stille oder eine kirchenmusikalische Weiterführung nach der Predigt freuen.

Die Länge ist daher kein geeignetes Kriterium für eine gute Predigt. Sollte ich beschreiben, was für mich eine gute Predigt ausmacht, so würde ich die Adjektive biblisch, politisch und kreativ verwenden. Eine gute Predigt ist biblische Predigt. Das bedeutet gerade nicht, dass sie sich in exegetischen Vorlesungen über biblische Texte ergeht (diese haben ihren Ort anderswo!), sondern dass sie zeigt, wie wir uns in diesen Worten wiederfinden und wie sie unsere Geschichte erzählen.

Damit ist eine gute Predigt immer auch politisch. Sie bezieht sich auf die Einzelnen, die ihr zuhören. Aber sie beschränkt sich nicht auf die fromme Innerlichkeit. Sie erzählt ja von der Geschichte Gottes mit dieser Welt, die eine Geschichte der Einmischung und des Engagements ist. Den Armen soll das Evangelium verkündigt werden; die Gefangenen sollen frei werden; die Flüchtlinge sollen Heimat finden; alle Macht soll kritisch geprüft werden an dem Gott, der seine Macht auf paradoxe Weise im Stall von Bethlehem und am Kreuz von Golgatha offenbart. Daher ist eine gute Predigt auch kreativ. Sie vertraut auf die Kreativität Gottes, auch verfahrene Situationen neu werden zu lassen. Sie sucht nach einer neuen Sprache, die nicht einlullt oder manipuliert. Sie lässt die Standardbegrifflichkeiten hinter sich, wagt eigene Worte und redet vor allem nicht so, als müsste die Unternehmensphilosophie eines mittelmäßigen Betriebs irgendwie unters Volk gebracht werden.

Ouvertüre zum Dialog

Biblisch, politisch, kreativ - wo die Predigt das ist, wird ein weiteres Adjektiv für sie zutreffen: erwartungsvoll. Predigen - das ist ein altes Experiment mit einer recht konstanten Versuchsanordnung: Ein Prediger oder eine Predigerin redet einige Minuten lang auf der Grundlage eines biblischen Wortes inmitten eines gemeinsam gefeierten Gottesdienstes. Und die Frage lautet: Wird es so sein, dass diese alten Worte der Bibel durch das Engagement des Predigers zu Worten werden, die mich treffen, trösten oder beunruhigen? Ja, noch mehr: Sind es Worte, die mich heilsam verstören, mir eine neue Perspektive eröffnen und meine Füße auf weiten Raum stellen? Weil ich mein eigenes kleines Leben mit seinen vielen Sorgen und manchen Freuden in einer ganz anderen Dimension sehen kann: als Teil von Gottes Geschichte mit dieser Welt. Nichts anderes meinte die dogmatische Tradition, wenn sie davon sprach, dass in der Predigt Gott selbst zu uns spricht und wir Gottes Wort hören. Das ist die Versuchsanordnung: die Bibel, ein Mensch, der redet, und einige, die hören. Und die Erwartung ist, dass in dieser Schlichtheit etwas Großes geschieht: eine Erfahrung, ein Erleben, das höher ist als alle Vernunft.

Erwartungsvoll ist die Predigt daher für beide: die Predigenden und die Hörenden. Das Ereignis der Predigt ist nicht das, was ich als Prediger den Hörenden darbiete, sondern das, was ich mit den Hörenden erwarte. Anders gesagt: Das Evangelium wäre völlig missverstanden, wenn ich meinen würde, dass es die Kirche irgendwie besitzt und nur noch an die hörende Gemeinde auszuteilen bräuchte - portionsweise und schön verpackt. So können Unternehmen ihre Produkte marketingstrategisch anpreisen, so kann aber die alte Versuchsanordnung der Predigt nicht funktionieren. Wir sind als Prediger ja selbst einer und eine, die unterwegs sind in dieser Welt und in den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel. Und die dabei nichts anderes haben als die Erwartung, dass sich Gott selbst in dieses Wechselspiel immer wieder hörbar einmischt.

Die Predigt ist daher nicht der Abschluss der Kommunikation in der Gemeinde, sondern die Ouvertüre zu einem Dialog. Wir bräuchten viele Orte, um über das ins Gespräch zu kommen, was während der Predigt (und insgesamt im Gottesdienst) geschieht und sich ereignet. Kirchenkaffee und Kirchentee - das ist eine Möglichkeit. Aber viele weitere Kommunikationswege wären denkbar: Rückmeldezettel am Ausgang der Kirche, Predigt-Chatrooms für die, die sich im Internet (auch anonym) äußern möchten; Predigt- und Gottesdienstkritiken im Gemeindebrief oder der lokalen Presse. Mit alledem würden wir signalisieren, dass Predigt einen Dialog eröffnet - innerhalb der Gemeinde und mit dem lebendigen Gott.

Alexander Deeg

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Foto: Sakralraumtransformation

Alexander Deeg

Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 


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