Wider den unseligen Lutherismus

Mit Ernst Troeltsch auf das Reformationsjubiläum 2017 geblickt
Systematischer Theologe und Religionsphilosoph in Heidelberg und Berlin: Ernst Troeltsch (1865-1923) Foto: akg-images/ Ernst Troeltsch
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Systematischer Theologe und Religionsphilosoph in Heidelberg und Berlin: Ernst Troeltsch (1865-1923) Foto: akg-images/ Ernst Troeltsch
Am 17. Februar 1865 - vor genau 150 Jahren - wurde Ernst Troeltsch geboren, einer der bedeutendsten Vertreter der liberalen Theologie vor dem Ersten Weltkrieg. Aus diesem Anlass hat Johann Hinrich Claussen, Hauptpastor und Propst in Hamburg, einen der wichtigsten Aufsätze Troeltschs im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017 neu gelesen und dessen Haltung im Ersten Weltkrieg beleuchtet.

Es schadet gar nichts, hin und wieder in die alten Bücher zu schauen. Manchmal erfährt man dadurch mehr und Besseres als durch die alleraktuellsten Hervorbringungen dieser Tage. Die kurze und präzise Schrift über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" von Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1911 ist dafür ein gutes Beispiel. Hätten all diejenigen, die Verantwortung für die Planungen des Reformationsjubiläums 2017 tragen, rechtzeitig diesen kleinen Klassiker gelesen, manche Verwirrung, mancher Unfug hätte vermieden werden können. Methodisch hätte man hier lernen können, dass das Reformationsgedenken eine primär historische Aufgabe ist, die man sich nur um den Preis der Unredlichkeit dogmatisch zurechtbiegen kann. Inhaltlich hätte man hier lernen können, wie unangemessen die Fokussierung auf Martin Luther allein ist, dieses unselige Erbe des alten Lutherismus wiederauferstanden im Jubliäumslogo mit Luther-Klischee in Schwarzrotgold. Und meinungspolitisch hätte man lernen können, wie sehr man sich vor kurzschlüssigen Vereinnahmungen der Reformation für eigene kirchenstrategische Zwecke hüten muss. Womit die drei Hauptschwächen der bisherigen Planungen für 2017 benannt wären. Wie hätte Troeltsch es gemacht?

Er hat zunächst auf den hohen Anspruch dieser Aufgabe hingewiesen. Die Reformation und ihr Verhältnis zur Gegenwart zu verstehen, ist einerseits eine historische Aufgabe, die fundierte geschichtliche Bildung erfordert. Sie ist andererseits eine komplexe systematisch-theologische Aufgabe, nämlich "ein konstruktives Unternehmen: die Zusammenfassung der Gegenwart zu einem ihr Wesen charakterisierenden allgemeinen Begriff und die Beziehung dieses Ganzen auf die Vergangenheit als auf eine Gruppe von geschichtlichen Mächten und Tendenzen, die ebenfalls mit allgemeinen Begriffen charakterisiert werden müssen."

Troeltsch hat zudem stets auf den tiefen Graben zwischen damals und heute hingewiesen. Gegenüber einem triumphalistischen Protestantismus, der sich als Kirche der Freiheit an der Spitze des Fortschritts wähnte, wies er unerbittlich auf die prinzipiellen Unterschiede einerseits zwischen dem Altprotestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts und dem Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts sowie andererseits zwischen diesen beiden und der explodierenden Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts hin. Zwar habe der Protestantismus "an der Herausarbeitung des religiösen Individualismus seine Bedeutung" und wäre an der Entstehung einer modernen Autonomiekultur "erheblich mitbeteiligt". Andererseits "darf die Bedeutung des Protestantismus nicht einseitig übertrieben werden". Er habe "die Entstehung der modernen Welt oft großartig und entscheidend gefördert, aber auf keinem dieser Gebiete ist er einfach ihr Schöpfer" - oft genug waren es "Wirkungen wider Willen".

Stiefkinder der Reformation

Am deutlichsten zeigt sich dies im Verhältnis zur heutigen Freiheitskultur und -politik. Von ihr sei Luther - ebenso wie Zwingli oder Calvin - dadurch getrennt gewesen, dass für ihn "die Objektivität des Kircheninstituts, die Sicherung der Bibel und die klare staatlich-kirchliche Leitung der Gesellschaft oder des einheitlichen corpus Christianum" bestimmend waren. Erst die "Stiefkinder der Reformation", also die täuferischen und spirituellen Renegaten, hätten hier anders gedacht. Wer rechtzeitig Troeltsch gelesen hätte, wäre nicht auf die fast schon komische Idee gekommen, ein Themenjahr unter den Titel "Reformation und Toleranz" zu stellen. Durchgängig ist Troeltsch darum bemüht, den Blick in die Vergangenheit zu weiten und die Reformationen des 16. Jahrhunderts in ihrer ganzen europäischen - und später auch nordamerikanischen - Vielfalt wahrzunehmen.

Interessant ist aber nicht nur, wie Troeltsch die Wirkungen und Nicht-Wirkungen der Reformation beschreibt, sondern auch wie er deren religiösen Kern zu fassen versucht. Das liest sich viel erhellender als die konventionell-kirchentheologischen Bemühungen des Grundlagentextes "Rechtfertigung und Freiheit" der EKD, der über eine rituelle Beschwörung der Rechtfertigungslehre kaum hinauskommt. Mit fast überraschender Intensität will Troeltsch den Grundimpuls "des religiösen Denkens und Fühlens selber" aufspüren. Ihn erkennt er in einer neuen Konzentration auf dieses Denken und Fühlen selbst: "Die ganze Religion ist aus der Sphäre der dinglichen sakramentalen Gnadeneinflößung und der priesterlich-kirchlichen Autorität in die psychologisch durchsichtige Sphäre der Bejahung eines Gedankens von Gott und Gottes Gnade gezogen. Das sinnlich-sakramentale Wunder ist beseitigt, und an seine Stelle tritt das Wunder des Gedankens, dass der Mensch in seiner Sünde und Schwachheit einen solchen Gedanken fassen und vertrauensvoll bejahen kann. Damit fällt das Priestertum und die Hierarchie, das Sakrament der Einflößung religiös-ethischer Kräfte wie einer sinnlichen Substanz, die außerweltliche Askese mit ihren besonderen Verdiensten."

Damit ist ein religiöses Prinzip aufgestellt, das sich vom alten Christentum abhebt. Doch es verselbständigt sich und führt zu einer Religionsauffassung, die sich auch von der Ursprungsreformation unterscheidet. Es wurde nämlich "das allgemeine Prinzip des neuen von Luther entdeckten Weges unendlich viel wichtiger als sein besonderer dogmatischer Zweck. Dieser Weg enthielt in sich selbst schon das eigentliche Ziel; den Weg haben hieß das Ziel haben. So wurde der Protestantismus zu der Religion des Gott-Suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen, zu einer Sicherung der allgemeinsten Haupterkenntnis durch Zusammenfassung aller persönlichsten Überzeugungen und zu einem vertrauenden Offenlassen aller weiteren dunklen Probleme, über die die Dogmatik des Altprotestantismus so viel zu sagen gewusst hatte." Womit die religiöse Lage in der evangelischen Kirche in Deutschland heute ziemlich präzise vorhergesagt wäre.

Dialektische Deutungen

Dieses neue religiöse Prinzip wirkte sich kulturell aus, wurde dabei aber verändert: "Die Überzeugungs- und Gewissensreligion des protestantischen Personalismus ist die der modernen individualistischen Kultur gleichartige und entsprechende Religiosität, ohne im Einzelnen mit ihren Schöpfungen in einem allzu engen Zusammenhang zu besitzen. Freilich in dem Maße, als diese Gleichartigkeit erkannt und durchgeführt wird, wird er selbst verwandelt und in die schwierigsten Aufgaben verwickelt, deren Lösung heute noch nicht entfernt absehbar ist."

Der engagierte, aber auch nüchterne Blick in die Geschichte der eigenen Religion führt bei Troeltsch hier wie stets zu dialektischen Deutungen der Gegenwart und zu frühen Krisendiagnosen. 1911, als die kirchliche Welt noch in Ordnung schien, aber drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, schloss er seine Überlegungen zu einem modernen Reformationsgedenken mit diesen düsteren Gedanken: "Unsere wirtschaftliche Entwicklung steuert einer neuen Hörigkeit zu, und unsere großen Militär- und Verwaltungsstaaten sind trotz aller Parlamente dem Geist der Freiheit nicht lediglich günstig. Ob unsere dem Spezialistentum verfallene Wissenschaft, unsere von einer fieberhaften Durchprobung aller Standpunkte erschöpfte Philosophie und unsere die Überempfindlichkeit züchtende Kunst dem günstiger sind, darf man bezweifeln." Es käme darauf an, "das religiös-metaphysische Prinzip der Freiheit zu bewahren, sonst möchte es um Freiheit und Persönlichkeit in dem Augenblick geschehen sein, wo wir uns ihrer und des Fortschritts zu ihr am lautesten rühmen". Mehr solche nachdenklich-selbstkritischen Töne und weniger Protestantismuspropaganda wünschte man sich für das Jahr 2017 - wahrscheinlich vergeblich.

Ernst, anregend, irritierend

In diesen Zitaten findet man alles, was viele Texte von Ernst Troeltsch heute noch so lesenswert macht: den weiten historischen Blick (wobei die präzise historische Detailarbeit nicht gerade seine Stärke war), die Unbestechlichkeit des Urteils, das Engagement für religiöse, kulturelle und politische Freiheit, die Fähigkeit zu dialektischen Verhältnisbestimmungen, das sichere Gespür für aufkommende Krisen. So ernst, anregend und im besten Sinne irritierend also kann man auch über die Reformation und ihre Bedeutung für die Gegenwart nachdenken. Der 150. Geburtstag von Ernst Troeltsch (1865-1923) am 17. Februar könnte ein guter Anlass sein, seine alten Texte wieder hervorzuholen und mit einem anderen Schwung an die Vorbereitung des Reformationsjubiläums zu gehen.

Noch aus einem zweiten Grund lohnt sich ein frischer Blick zurück zu Troeltsch. Im vergangenen Jahr wurde sehr intensiv des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs gedacht und die Rolle der damaligen Theologen diskutiert. Dies überschnitt sich mit einer neuen Diskussion über die bedrängenden Kriegsnachrichten aus dem nahen europäischen und asiatischen Osten. Was kann die evangelische Theologie hier Sinnvolles beitragen? Von den liberalen Theologen damals meint man zu wissen, dass sie allesamt den Kriegsausbruch begrüßt hätten, und hält sie entsprechend für erledigte Fälle. Gerade bei Troeltsch aber gibt es erstaunliche Wendungen, die immer noch zu denken geben.

Auch Troeltsch wurde anfangs wie so viele Intellektuelle in ganz Europa von einer Kriegsbegeisterung erfasst, die von heute aus befremdlich und abstoßend wirkt. In den ersten Monaten des Krieges hielt er Reden und verfasste Texte, die den Waffengang religiös überhöhten. Kaum bekannt aber ist, dass er sehr bald davon abrückte. 1915 war er von Heidelberg nach Berlin gewechselt und hatte dort einen ganz anderen Zugang zu politischen Informationen, die ihn ganz neue Urteile fällen ließen. Seinen Wandel aber bedachte er auch religiös, in kleinen, sehr bemerkenswerten Artikeln. So schrieb er 1916 unter dem Titel "Das dritte Kriegsweihnachten": "Die diesjährige Weihnacht ist christlicher geworden, schwerlich weil wir es mit tieferer christlicher Überzeugung feiern, sondern weil sein christlicher Sinn in den Brand und Wahn der augenblicklichen Welt greller und schärfer hineintönt."

Die alte deutsche Weihnachtsseligkeit ist dahin - zerstört durch Tod, Gewalt und Armut. Der Krieg ist eben kein legitimes politisches Mittel, auch keine sittliche Kraft, sondern nichts als "unbedingter Herrschaftswille, brutalster Egoismus, heuchlerische Gemeinheit, verleumderische Bosheit, Grausamkeit und Spielerwut." Hier lässt sich nichts mehr christlich verbrämen. Der Krieg ist böse und macht böse. Das christliche Weihnachten tritt demgegenüber als nackter Widerspruch auf: "Ich verkläre und entwickle nicht eure Welt, sondern ich verneine sie von Grund aus und von innen heraus." Das ist eine radikale Antithese. Mit dem Evangelium lässt sich keine Kriegspolitik machen. Dafür ist es die letzte Hoffnung, dass ein Einspruch von außen die in Gewalt Verstrickten befreien möge: "Gerade das Überirdische an der Weihnacht würde den irdischen Kampf mäßigen, läutern, begrenzen können." Die unbedingte Feindesliebe, die Bereitschaft, lieber zu sterben als zu töten, diese so ferne und vormoderne "Weisheit Asiens" ist die einzige mögliche Wurzel für eine Erneuerung Nordeuropas.

Es dürfte sehr wenige Theologen gegeben haben, die so eindeutig aus einem radikal verstandenen Christentum die Kriegsideologie kritisiert haben. Und dabei beließ es Troeltsch nicht, sondern er wurde aktiv. Unter dem Leitwort der "Demobilisierung der Geister" engagierte er sich außenpolitisch für einen Verständigungsfrieden und innenpolitisch für die Schaffung einer sozial-liberalen Demokratie. Aus christlichen und politischen Gründen proklamierte er einen erwachsenen Pazifismus: "Wir haben anzuerkennen, dass die pazifistische Gedankenwelt in der heutigen Weltlage einen realpolitisch brauchbaren Kern aufzuweisen hat, den es herauszuschälen gilt." Wie er sich selbst dieser Aufgabe widmete, sollte heutigen evangelischen Meinungsführern zum Vorbild dienen.

Literatur

Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Eingeleitet und herausgegeben von Klaus H. Fischer. Schutterwald/Baden 1997, 150 Seiten, Euro 23,50.

Johann Hinrich Claussen

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