Verlorene Scham

Wandel der Gefühlskultur
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Greiner versteht es, die existenzielle Krise und die zögernde Rückkehr eines Lebensgefühls anschaulich und zuweilen packend darzustellen.

"Scham ist keine anerzogene Unart, die man sich abgewöhnen sollte, sondern die Bedingung von Moral schlechthin." Diese Behauptung, die den Kennern der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht fremd ist, bildet den Ausgangspunkt für den großen Versuch des ehemaligen Feuilletonchefs der "Zeit", sich und den Lesern die Tragweite dieses anthropologischen Grundelements der sittlichen Kultur klarzumachen. Ulrich Greiner, den dieses menschliche Basisgefühl offenbar seit langem beschäftigt, stellt die Scham auf eine Rangstufe mit den Existenzialen der Angst, der Sorge und der Schuld.

Und da die Literatur ein großes Archiv bildet, das die Wandlungen der Gefühlskultur darstellt und aufbewahrt, hält der profunde Literaturkenner Greiner sich an diesen Thesaurus. Das hat den Vorteil der Anschaulichkeit und gewährt zugleich die erkenntnisfördernde Distanz, die Tiefenschärfe und Vergleich ermöglicht. Er schreibt keine Kulturgeschichte der Scham, sondern eher eine Typologie ihrer wechselnden kulturellen Erscheinungsformen. Dabei zeigt sich, so seine These, "dass an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit".

Demnach hat eine zwiespältige Entwicklung stattgefunden: einerseits die Verflachung und Vervielfältigung zu vielen, gesellschaftlich konditionierten Peinlichkeiten, andererseits ein Abbau der moralischen Tabuzonen, begleitet von extremen Entblößungen. Greiner ist sich dessen bewusst: Kulturkritik verfällt notorisch der Versuchung, von Generation zu Generation einen Werteverfall zu beklagen und Kulturgeschichte als Verfallsprozess zu beschreiben. Er vermeidet Kulturpessimismus durch die anschauliche, gelegentlich ironische Darstellung von intensiv erzählten Szenen der Metamorphosen der Moral.

Die Verlustanzeige erfolgt in zwölf Kapiteln. Ausgehend von der Kampagne der Achtundsechziger gegen die bürgerliche Scham wird die neue Furcht vor der Peinlichkeit in der jüngeren Generation, zum Beispiel an Adornos Konfrontation im Hörsaal mit barbusigen Feministinnen oder an dem öffentlichen Heiratsantrag einer Sportmoderatorin, gezeigt; der Konnex von Scham und Schuld, vom Sündenfall bis Kierkegaard und Kafka, wird sichtbar gemacht. Das reflexive Verhältnis von Selbst- und Fremdbeobachtung, ja die mögliche Spaltung einer Persönlichkeit wird bei Dostojewskij, Karl Philipp Moritz und Thomas Mann gezeigt.

Über Schamangst und -lust und Scham als Machtfrage haben Bernanos, Sennett und Bourdin nachgedacht - also werden auch soziologische Beobachtungen und mediale Szenen nachgezeichnet. Schließlich werden Wärme und Kälte im Verhalten bei Ernst Jünger und dem Anthropologen Helmuth Plessner erörtert.

Eine Szene zeigt wie ein Spotlight den Übergang von der Scham zur Peinlichkeit: Die Sportmoderatorin Monica Lierhaus erhielt 2011 nach einer überstandenen Hirnoperation die "Goldene Kamera". Das tiefbewegte Publikum feierte ihre Rückkehr in die Öffentlichkeit, und sie reagierte darauf mit einer unerwarteten Geste gegenüber ihrem Lebenspartner, nämlich mit der Frage, ob er sie heiraten wolle. Im Publikum schlug die Bewegtheit in entgeistertes Mitleid um.

Greiner versteht es, die existenzielle Krise und die zögernde Rückkehr eines Lebensgefühls anschaulich und zuweilen packend darzustellen. Und nicht nur der geübte Internetsurfer, Kinogänger oder TV-Seher begreift, dass es hier um mehr geht als um eine Wellenbewegung des Zeitgeistes. Es geht um den Lebensnerv unserer öffentlichen und privaten Moral und die Ästhetik ihrer sozialen Kultur.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 352 Seiten, Euro 22,95.

Hans Norbert Janowski

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