Prozess endlicher Zeichen

Martin Luthers Bildauffassung hat auch Folgen für den Gottesdienst
Gerhard Richter, Seestück, 1975. Foto: akg-images
Gerhard Richter, Seestück, 1975. Foto: akg-images
Martin Luther erwartete von Bildern Ereignisse, nicht Darstellung von Ereignetem, meint Thomas Erne. Der Professor für Praktische Theologie und Leiter das Kirchbauinstituts in Marburg zeigt, wie sich die Auffassung des Reformators in der heutigen Kunst und der heutigen Kirche auswirkt.

Es ist das Verdienst Werner Hofmanns, dass er 1983, zu Martin Luthers 500. Geburtstag, in seiner epochalen Hamburger Ausstellung die Bedeutung des Reformators für die künstlerische Moderne zeigte. Der vor zwei Jahren gestorbene Wiener Kunsthistoriker hatte die Folgen für die Kunst der Moderne darin gesehen, dass Luther die Bedeutung eines Bildes von seiner Deutung abhängig macht: "Was ein Bild ist, was es aussagt, was es bedeutet, entscheidet sich im Betrachter. Das Kunstwerk wird zu einem Angebot, das sich im Rezipienten vollendet, wenn nicht überhaupt erst konstituiert [...] Alles das hat mit Luther begonnen."

Die Freigabe der Bilder, die nichts an sich sind, weder heilig noch profan, verlagert die Frage nach der Bedeutung eines Bildes vom Werk hin zur Rezeption, von Bildinhalt zum Bildgebrauch. So schafft sie eine autonome Kunstsphäre von prinzipiell deutungsoffenen Objekten. Luther wurde durch Hofmanns Hamburger Ausstellung zum Kronzeugen einer protestantischen Deutungskultur der Moderne.

Die zentrale These des Berliner Theologen Wilhelm Gräb, des prominenten Vertreters einer protestantischen Kulturhermeneutik, besagt: Kunst entfaltet ihre religiöse Aura in der religiösen Deutung von Kunst. Die religiöse Aura haftet also nicht mehr an den materialen Gehalten. Die ikonographischen Motive wie Krippe oder Kreuz und deren Spuren in der Kunst der Moderne, etwa bei Arnulf Rainer, sind nicht schon das Religiöse an der Kunst. Krippe und Kreuz sind vielmehr konventionelle Symbole mit einer begrenzten Erschließungskraft. Religiös wird ein Bild, wenn es religiös gedeutet wird im Blick auf die Dimension der Unbedingtheit, die zwar zu diesem Bild gehört, aber erst in religiöser Deutung an ihm hervortritt. Nicht die christliche Kunst eines Helmut Uhrigs, der sich mit seinen modernen Darstellungen biblischer Motive in den Dienst des Wortes stellt, sondern die autonome und ungegenständliche Kunst der Moderne, Newman, Rothko, Uecker oder Graupner, sind der kulturhermeneutische Idealfall für eine religiöse Aura der Kunst, die erst in der religiösen Deutung aufscheint. Und alles das, so Werner Hofmann, hat mit Martin Luther begonnen.

Es ist das Verdienst von Horst Bredekamp, dass er 2007 in seiner Frankfurter Adorno-Vorlesung dem Protestantismus auch die Folgen der Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin für die Kunst der Moderne aufgezeigt hat. Nicht Luther, betonte der Berliner Kunsthistoriker, sondern die radikalen reformierten Ikonoklasten haben die wahre Bedeutung des Bildes erkannt. Bilder haben ein Eigenleben, das ihrer jeweiligen Deutung vorausliegt. Das stand nicht Luther, sondern Zwingli und Calvin lebhaft vor Augen. Bilder berühren, bevor sie gedeutet werden. Diese unmittelbare Eindrucksmacht verliert ein Bild nie, auch wenn es nicht mehr religiös verehrt wird. Will man diese auratische Macht des Bildes brechen, hilft nur, was Leonardo da Vinci einem potenziellen Betrachter seines Werkes empfiehlt: "Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist." Oder man muss das Bild vernichten.

Horst Bredekamp teilt nicht die ikonoklastische Konsequenz, die radikale Reformatoren aus dieser Bildthese gezogen haben. Im Gegenteil. Er fordert ein genuines "Lebensrecht" des Bildes. Wer Bilder zerstört, vernichtet eben mehr als nur Leinwand und Farbe. Aber Bredekamp teilt die These, dass Bilder effektiv und mächtig sind, bevor sie jemand deutet. Und in der reformierten Bildkritik ist diese Macht des Bildes präsent. Mit dieser Bildkritik und einer minimalistischen Ästhetik, die reformierte Kirchenräume bis heute auszeichnet, haben Zwingli und Calvin eine bis in die Gegenwart reichende kulturelle Wirkung entfaltet.

Protestantische Bildtheologie, die eine religiöse Aura der Bilder vor aller Deutung annimmt, und protestantische Bildhermeneutik, die diese religiöse Aura in den religiösen Deutungsakt verlagert, lassen sich so als Folgen für die Kunst der Moderne begreifen, die von Luthers, Zwinglis und Calvins widersprüchlichem Verständnis des Bildes ausgehen.

Die bilderreichen lutherischen Kirchen erhalten das Bild im Kirchenraum um den Preis einer auratischen Depotenzierung, während die bilderlosen reformierten Kirchen an der auratischen Mächtigkeit des Bildes festhalten und gerade deshalb die Bilder aus ihren Kirchen verbannen. Diese Differenzen im reformatorischen Bildverständnis wirken bis heute nach, auch wenn die Folgen Luthers, Zwinglis und Calvins für die Kunst der Moderne nicht mehr die konfessionellen Grenzlinien einhalten.

Vorrang des Glaubensvollzugs

In Zwinglis Predigerkirche, dem Großmünster in Zürich, sorgt der Fensterzyklus von Sigmar Pohlke für eine berührende Präsenz des Religiösen in Glasfenstern, die so deutungsoffen wie deutungsbedürftig sind, während die von John Pawson gestaltete lutherische Moritzkirche in Augsburg in ihrer maximal reduzierten Ästhetik wie ein calvinistischer White Cube aussieht, obwohl es sich um die ehemals barocke katholische Stadtkirche handelt.

Ist das alles? Sind mit diesem widersprüchlichen Ergebnis die Folgen der Reformation für das Bild und für die Kunst der Moderne ausgeschöpft? Nicht ganz. Eine der Folgen Luthers für die Kunst zeigt sich erst heute in der Kunst, lautet meine These. Und sie zeigt sich auch in aller Deutlichkeit erst heute in der Kirche. Ich meine Luthers Interesse am Performativen, am Vorrang des Glaubensvollzugs, der subjektiven Aneignung gegenüber dem Angeeigneten, der fides qua vor der fides quae. Einen solchen Vollzugscharakter erwartet Luther offenbar auch vom Bild.

Das Bild soll - wie der pragmatische Philosoph John Dewey in seiner Theorie ästhetischer Erfahrung sagt - ein "work of art" sein, ein aktualer Vollzug, kein Resultat, keine "works of art" im Sinn eines abgeschlossenes Kunstwerks. Man kann das an einem Unbehagen festmachen, das Luther gegenüber dem Medium Bild empfand und das ihm, so Margarete Stirm, den Vorwurf der Kunstinkompetenz einbrachte, weil er die Grenzen der bildenden Kunst nicht beachte. Denn Luther erwartete von Bildern lebendige Handlungen: Ereignisse, nicht nur die Darstellung von Ereignetem. Es braucht eine aktuale Religionsperformance, wenn man zur Darstellung bringen will, was die religiöse Dimension von Transzendenz ausmacht. Protestantische Bildtheologie wie Bildhermeneutik - so könnte man Luthers Unbehagen verstehen - gehen beide von einem Stehen des Betrachters vor einem Bild aus. Unendlichkeit zeigt sich dort einem Betrachter im Bild oder in der Deutung eines Bildes. Das (deutende) Handeln vor einer Darstellung ist aber noch kein eigenes darstellendes Handeln. Die Darstellung der Unendlichkeit in einem Bild wie Gerhard Richters "Seestück", das an Caspar David Friedrich erinnert, müsste transformiert werden in eine Unendlichkeit der Darstellung im eigenen Leben. Die Transzendenz des Bildes muss sich in einer Selbsttranszendenz des Betrachters vollenden.

Eine solche Unendlichkeit der Darstellung, in der ein Betrachter das Bild in seiner unmittelbaren Wirkung auf sich zugleich festhält und überschreitet, leistet im Idealfall der evangelische Gottesdienst. Dass im Gottesdienst die Erfahrung von Transzendenz performativ wird und religiöse Bedeutung nicht in der Darstellung der Unendlichkeit (vor und in einem Bild) besteht, sondern in einer Unendlichkeit der Darstellung (in einem unendlichen Fortschreiten von Bild zu Bild) überhaupt erst entsteht, zeigt sich im Kern im Marburger Religionsgespräch von 1529. Luther bestand im Streit mit Zwingli darauf, dass der göttliche Logos in einem geistigen Vorgang in endliche Zeichen eingeht und sie zugleich überschreitet. Diesen inkarnatorischen Drive hat Werner Hofmann vermutlich unterschätzt. Der nach Luther rechte religiöse Gebrauch der Zeichen hat eine darstellungstheoretisch gravierende Konsequenz: Gott ist als Erfahrung von Transzendenz nur in einem offenen und unabschließbaren Prozess endlicher Zeichen darstellbar. In ihm wird jedes Bild als Präsenz des Göttlichen festgehalten - exemplarisch in Brot und Wein - und zugleich überschritten, zugunsten des nächsten Bildes - in subjektiver Aneignung und Verzehr der Zeichen -, ohne dass die religiöse Verknüpfungsregel den jeweils richtigen Anschluss garantiert. Überraschungen müssten im evangelischen Gottesdienst daher die Regel sein. Der evangelische Gottesdienst ist eben nicht eine Art von konventionellem Religionstheater, in dem sich nichts ereignet, weil es nur um eine exakte Reproduktion fester Abläufe, definierte Rollen und sakrosankte Texte geht. Eine Performance, die keine ist, weil in ihr nichts geschieht, was nicht zuvor festgelegt wäre. Vielmehr müsste der evangelische Gottesdienst, würden alle Folgen Luthers für die Kunst auch in der Darstellung der Religion beherzigt, ein experimenteller Zeichenprozess sein, in dem man die religiöse Bedeutung nicht "als etwas dauerhaft Feststehendes, sondern als etwas sich auf dem Wege von Deutungen neu Konstituierendes versteht" (Michael Meyer-Blanck).

Liturgie und Predigt sind eine Performance, eine Form der Darstellung christlicher Religion, in der Sinn nicht vorausgesetzt wird, sondern im Vollzug entsteht. Das ist nun allerdings eine der verspäteten Folgen Luthers für die Kunst, die sich erst im evangelischen Gottesdienst der Gegenwart zeigt. Eine kulturelle Nachwirkung, die Religion und Kunst der Gegenwart verbindet. Denn auch in der Kunst führen Performativität und Multimedialität zu einer Ausweitung der Kunstzone (Erika Fischer-Lichte). Die Geschichte der documenta zeigt, wie schnell und umfassend die performativen und medialen Kunstformen, die Zeichnung, die Druckgrafik, das Bild und die Skulptur abgelöst haben.

Was folgt aus dieser gemeinsamen Ausweitung der Kunst wie der Religionszone um die Dimension des Performativen? Es gibt neue Allianzen, neue Irritationen und neue Inklusionen zwischen Kunst und Kirche, zwischen religiöser Performance und performativen Formen der Kunst. Christian Jankowski liegt in "The Holy Artwork" von 2002 im Gottesdienst der Harvest Fellowship Church in San Antonio dem evangelikalen TV-Prediger, der über Kunst und Verkündigung spricht, regungslos zu Füßen. In der Stuttgarter Brenzkirche wird das Video von Jankowskis "Casting Jesus" von 2011 im Gottesdienst gezeigt, und der Künstler schlüpft in die Rolle des Pfarrers und trägt den zweiten Teil seiner Predigt vor. In der Performance "Durchzügler" von 2011 vertreibt Thomas Putze, knapp bekleidet, die Gemeinde auf die Empore und balanciert dann im Gottesdienst der Universitätskirche Marburg über die leeren Bänke.

Doch was geschieht, wenn sich Künstler und Liturg, künstlerische und religiöse Performance begegnen? Bilden sich dabei neue beispielhafte Beziehungsmuster der Ähnlichkeit und Differenz von Kunst und Religion aus, die über die konkrete Situation hinausweisen? Das ist eine Frage, die sich nicht ausschließlich theoretisch beantworten lässt. Es bedarf der Konkretion einer gemeinsamen Erfahrung. Man muss es ausprobieren.

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Thomas Erne

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