In der Schwebe

Der historische Blick ist relativ. Auch wenn er auf das Reformationsjubiläum trifft
Martin Luther, 1983. Prof. Dr. Karl Heinz Stahl, Nürnberg. Aus: Michael Mathias Prechtl: Denkmalerei. Herausgegeben von Christoph Stölzl Verlag C. J. Bucher, München und Luzern.
Martin Luther, 1983. Prof. Dr. Karl Heinz Stahl, Nürnberg. Aus: Michael Mathias Prechtl: Denkmalerei. Herausgegeben von Christoph Stölzl Verlag C. J. Bucher, München und Luzern.
Vergangenes ist erst wirklich vergangen, wenn es nur noch die Spezialisten interessiert. Bis dahin bleibt es eine Sache des gesellschaftlichen Diskurses, meint der frühere "zeitzeichen"-Chefredakteur Helmut Kremers im Hinblick auf das bevorstehende Reformationsjubiläum.

Das ist nur noch von historischem Interesse. Will heißen: Ein Fall ist erledigt. Mögen sich die Spezialisten mit ihm beschäftigen, ihn untersuchen, kategorisieren und katalogisieren - aber im Übrigen sollen sie ihn in Frieden ruhen lassen. Die Spezialisten: Das sind nach dieser Vorstellung Historiker, die keinen anderen Ehrgeiz kennen, als in ihrem jeweiligen Elfenbeintürmchen vor sich hin zu werkeln und also niemanden stören, der daran interessiert ist, sich Erleichterung zu verschaffen, eine Bürde abzuwerfen, einen Anspruch zurückzuweisen.

Doch so ein Versuch misslingt regelmäßig. Trotz des sich immer mehr auffächernden Spezialistentums wollen auch Historiker gehört werden, auf ihren jeweiligen Spezialgebieten beanspruchen sie die Deutungshoheit. Für sie kennt das "historische Interesse" kein "nur noch", schließt es doch nach ihrem Verständnis alle anderen Interessen ein, mögen das politische, philosophische, theologische, existenziale, ästhetische oder welche auch immer sein.

Dieser Geltungsanspruch ist nicht unproblematisch. Denn ob eine historische Bürde noch geschultert werden muss, ob uns Vergangenes noch etwas angeht, ob daraus der Anspruch auf weitere Auseinandersetzung abzuleiten ist, eine solche Entscheidung ist ohne Wertung nicht zu denken. - "Wertung"? Das klingt nach Subjektivität, nach Relativität, wenn nicht gar nach Beliebigkeit.

Nicht ohne Grund. Zwar gibt es eine spezifische historische Distanz, die Überblick und Urteilsmöglichkeit über Vergangenes erst erlaubt. Wenn die Justierung gelingt, beginnt die Arbeit: Darstellungen sichten, Relationen feststellen, in Beziehung setzen, Zusammenhänge plausibel machen, Tatsachengewissheiten aussprechen.

Da bedarf es des methodischen Vorgehens nach wissenschaftlichem Standard - schließlich findet sich derjenige, der sich neugierig in einen historischen Raum hineinbegibt, unvermeidlich in einem Spiegelkabinett der Uneindeutigkeiten wieder: hinsichtlich der Quellen und Artefakte, der Desiderate, der Meinungen, Falschbehauptungen und Fälschungen.

Doch offenbar reicht gute Quellenarbeit nicht aus, um sich ein Bild von einer historischen Lage zu machen. Was hinzukommen muss, darüber streiten die Historiker seit langem.

Leopold von Ranke (1795-1886) huldigte noch einem frommen Relativismus: "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott", hieß das bei ihm. Aufgabe der Geschichtsschreibung sei es nur, zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen" - ein stolzer Anspruch, den man als fernes Leuchtfeuer für alle Geschichtsforschung hätte gelten lassen können. Rankes Nachfolger im 19. Jahrhundert wollten darin aber nicht mehr die nüchterne Abgrenzung zu jeder subjektivistischen, zeitgebundenen, machtinteressengeleiteten Geschichtsschreibung erblicken, sondern einen naiven Objektivismus. Sie bekannten sich ganz ungeniert zu ihrem "erkenntnisleitenden Interesse" (auch wenn der Begriff noch nicht gebildet war). Das lag für gewöhnlich im Nationalen: Heinrich von Treitschke (1834-1896) sei als der bekannteste Vertreter genannt.

Nebulöser Begriff

Johann Gustav Droysen (1808-1884) führte den Begriff des Verstehens in die Geschichtswissenschaft ein (Grundriss der Historik, 1868). Verstehen: Das umfasste für ihn auch das Einfühlungsvermögen in die Fühl- und Denkweise einer Zeit und ihrer Protagonisten. Da sich die Ergebnisse nur unzureichend überprüfen lassen, liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dem "Verstehen" um einen nebulösen Begriff handelt, der subjektiven Wertungen Tür und Tor öffnet.

Subjektivismus und Relativismus sind die Scylla und Charybdis der Geschichtswissenschaft. Droysen lavierte noch zwischen beiden hindurch, indem er energisch die Sittlichkeit als Movens der Geschichte betonte. Das machte keine Schule. Max Weber (1864-1920)etwa betonte, dass Werte zwar Gegenstand der Forschung seien, ihr aber weder zugrunde liegen dürfen noch durch sie als wahr erwiesen werden können. Moralische Zuständigkeiten wurden aus der Geschichtswissenschaft zunehmend verabschiedet. Eine Lücke wurde zunächst kaum bemerkt, noch waren Theologie und Kirche stark genug, um vom christlichen Glauben her die moralische Blöße pseudorelativistischer nationaler oder "wertfreier" Geschichtsschreibung zu bedecken.

Doch nach zwei Weltkriegen wurde der "historistische" Zugang zur Geschichte als spezifisch deutscher Sonderweg angeprangert. Stattdessen insistierte man auf eine naturrechtliche Fundierung der Geschichtswissenschaft (zum Beispiel wirkungsvoll Georg G. Iggers, 1968, dt. 1971), jeder relativistischen Verlockung sollte ein Riegel vorgeschoben werden.

Mit jeder Naturrechtsfiktion kommt aber der Zeitgeist ins Spiel. Er liefert das moralisch Aktuelle, das schon immer im Naturrecht angelegt sein soll, er souffliert, was als Bürde im öffentlichen Bewusstsein zu bleiben, was Anspruch auf nicht nachlassende Auseinandersetzung hat, und erteilt so den eigentlichen Berechtigungsnachweis historischer Forschung, genannt "Bezug zur Gegenwart".

Dieser ist ohne Interpretation nicht zu denken, einen gewissen Ruch von Willkür wird er nicht los. Dennoch ist er keineswegs gering zu schätzen. Einleuchtend hergestellt, vermag er immerhin von alten Dämonen zu befreien. Ein Beispiel: Kann eine kritische Geschichtswissenschaft plausibel machen, dass Nationalismus unter allen Umständen als Unglück bringende Hybris zu betrachten ist, kann ihm nur noch wider besseres Wissen gehuldigt werden. Doch muss klar sein: Das bessere Wissen ist nicht bloßer Ertrag historischer Forschung, sondern Ergebnis eines sich auf wissenschaftliche Autorität stützenden gesellschaftlichen Diskurses - schlicht gesagt: von Wertungen.

Nicht in jedem Fall wird historische Aufklärungsarbeit vorbehaltlos begrüßt. Dies zeigt sich etwa am Umgang mit dem Holocaust. Viele, die die Erinnerung an ihn wachhalten wollen, halten dafür, er könne kein Gegenstand der Forschung wie jeder anderer sein, er sei schlechthin als Verbrechen unvergleichlich. Da aber Historiker darauf bestehen, dass historische Forschung ohne Vergleichen nur möglich wäre als Rückfall in die Ranke unterstellte Naivität, fürchten die Vertreter des Unvergleichbarkeitsdogmas, selbst der moralische Anspruch, der sich aus diesem einzigartigen Verbrechen herleitet, könne relativiert werden; dies könne endlich auf die Wiederbelebung alter Dämonen hinauslaufen.

Wo immer Akteure in Sachen Wertung historischer Ereignisse auftreten, machen sie ein unmittelbares Interesse an ihrem historischen Gegenstand geltend. Dies zeigt sich besonders, wenn die Religion ins Spiel kommt. Gläubige beharren darauf, dass ihnen in der Hinwendung zu ihren Quellen Anderes und Wesentlicheres in den Blick gerät als dem der Profanität verpflichteten Betrachter.

Es macht bekanntlich die Besonderheit des Christentums aus, dass es selbst die eigene heilige Schrift der historischen Kritik ausgesetzt hat. Deren Ergebnisse zwangen die Gläubigen dazu, jenseits aller zugemuteten Relativierungen Wege zu finden, die es erlaubten, weiterhin Glaubensgewissheiten als Wahrheitsgewissheiten aufrechtzuerhalten. Die Konfessionen sind bei solchem Bemühen unterschiedliche Wege gegangen, die Katholiken lange den der Abschottung, die Evangelischen den der freien, inspirierten Auslegung, die stets darauf beharrte, dass Widersprüche zwischen den Erkenntnissen der Bibelwissenschaften und der Glaubensmöglichkeit nur scheinbar und durch rechte Theologie auflösbar seien.

Inzwischen haben die beiden Kirchen einen langen Weg der Wiederannäherung hinter sich. Nicht ohne retardierende Schleifen. Nun stehen sie vor einer Schwelle, von der sie sich vorgenommen haben, sie gemeinsam zu überschreiten: Im Jahre 2017 soll der Reformation gedacht werden, die vor fünfhundert Jahren ihren Anfang nahm. Niemand wird erwarten, dass der Blick auf die damaligen Ereignisse und die Folgen in beiden Kirchen derselbe ist: Ein anderer Standort ergibt eine andere Perspektive. Die Grundfrage ist, ob man sich darüber einig werden kann, dass hinsichtlich der Reformation das Positive soweit überwiegt, dass es etwas zu feiern gibt, oder ob die Glaubensspaltung, die mit ihr einherging, eher einen Traueranlass darstellt.

Trauer oder Freude?

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Das Positive ist: die Emanzipation von der Macht einer allzu mächtigen Kirche und damit die Ermöglichung von Glaubens- und Religionsfreiheit. Dieser Impuls lässt sich ausziehen bis zur Freiheitsemphase der Aufklärung, ohne den Reformatoren entsprechende Ambitionen zu unterstellen.

Doch auch das Negative ist nicht zu leugnen: die Zerrissenheit Europas, in erster Linie die des Heiligen Römischen Reiches und damit Deutschlands bis an die Schwelle der neuesten Zeit, die Religionskriege, die Unduldsamkeit auf beiden (oder auf drei) Seiten.

Doch es geht ja nicht nur um eine generelle Deutung der Reformation. Es geht auch um eine übermächtige Gestalt: Martin Luther. Mit anderen Großen der Weltgeschichte teilt er das Schicksal, dass sein Bild kaum noch verwacklungsfrei ins Auge gefasst werden kann. Zu oft wurde es übermalt und wieder freigelegt, vergrößert und wieder verkleinert. Kein Wunder, dass sich Rekonstruktionen beträchtlich voneinander unterscheiden können.

Luther hat ungeheuer viel geschrieben, zu tausend Anlässen und Themen. Vieles davon vermag auch heute anzurühren, vieles gibt zu denken, vieles kann erheben. Anderes stößt ab, sein hartes Büchlein "wider die Bauern" etwa, seine Forderung der Todesstrafe für Wiedertäufer (1531), seine späten Schriften über die Juden.

Hat Luther uns, die wir ein halbes Jahrtausend später in einer radikal anderen Welt leben, wirklich noch etwas zu sagen? Oder kann es nur noch darum gehen, ihm gerecht zu werden, ihm sein Genie zwar zuzugestehen, aber doch vornehmlich seine Rolle in seiner Zeit, in der er herausragte, zu klären, und dabei herauszustellen, dass er - wie der stets auf Relationen achtende Historiker weiß - nur eine Kraft von vielen war, ein Mann mit vielen Wurzeln und Abhängigkeiten, ein Kind seiner Zeit? Ist es möglich und sinnvoll, sich über Raum und Zeit hinweg mit diesem ebenso reizbaren wie sendungsbewussten Ex-Mönch sozusagen in ein persönliches Gespräch einzulassen? Oder gilt die kühle Auskunft nicht weniger Historiker, man müsse begreifen, dass der Reformator ein Mensch an der Schwelle zur Neuzeit war, einer, der mit mindestens einem Bein noch im Mittelalter steckte, woraus folgere, dass einen Luthertext herausgreifen und sich unmittelbar von ihm ansprechen lassen, in die Falle führe, die Klio für alle Laien bereit halte: nämlich beim Starren aufs vermeintlich klare Wort nicht Klarheit zu gewinnen, sondern sich in einer selbst fabrizierten Illusion zu verstricken.

Die Gefahr ist nicht zu leugnen. Und doch: Wäre es nicht mehr erlaubt, sich von längst historisch gewordenen Texten ansprechen zu lassen, sie ins Verhältnis zu setzen zur eigenen Weltsicht, zum eigenen Glauben, gar sich von ihnen belehren zu lassen, bei aller zuzugestehenden Unterschiedlichkeit des Vorwissens, wäre es also nur närrisch - was wären dann diese Texte, die des Plato ebenso wie die des Thomas, die der Reformatoren, der Aufklärer, Romantiker und so weiter und sofort, philosophische Texte, literarische, theologische? Nur Archivstücke im Elfenbeinturm.

Halten wir fest: Die evangelischen Christen haben Anlass, den Beginn des Durchbruchs zu dem Glauben, zu dem sie sich bekennen, zu feiern. Doch gegenwärtig beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass sie, wenn sie das Jubiläum (in welchem Wort die Feier schon steckt) ökumenisch begehen wollen, nicht darauf beharren müssen, durchgehend von einer Feier zu sprechen, dass sie auf jeden Hauch von Triumphalismus verzichten können. Das Wort "Gedenken" lässt Wertungen ökumenisch in der Schwebe und macht zudem deutlich, dass 2017 kein Anlass ist, Pflöcke einzuschlagen, eher einer, möglichst viele Grenzsteine zwischen den Konfessionen zu Nachdenk-Mälern zu erklären, die herausfordern, sich des eigenen Glaubens zu versichern, die keineswegs nur noch von historischem Interesse sind, aber doch nicht mehr kirchentrennend. Allerdings ist das leichter gesagt als getan, erinnert sei nur an den Streit um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung" von 1999.

Aufklärung durch historische Wissenschaft ist ein kostbares Gut. Von der Notwendigkeit, zu werten, entbindet sie nicht. Ohne Verstehen bleibt sie blass. Historik ist keine exakte Wissenschaft nach dem Geschmack der Naturwissenschaftler, das hat sie mit anderen Humanwissenschaften gemein. Sie muss sich ständig mit den Einlässen und Wertungen von Vertretern anderer Interessen auseinandersetzen, und das ist gut so, wenn anders sie nicht ihren Sitz im Leben verlieren will. Denn merke: Wenn eine Sache nur noch ausschließlich eine der Historiker ist, dann ist sie wirklich nur noch von historischem Interesse, dann ist der Fall tatsächlich erledigt. Solange es evangelische Christen gibt, wird dies hinsichtlich der Reformation und der Gestalt Luthers nicht eintreten, glücklicherweise nicht.

Helmut Kremers

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