Muslime oder was?

Die Aleviten: in der Türkei diskriminiert, in Deutschland gefördert
Im vergangenen Jahr demonstrierten Aleviten in Köln gegen den damaligen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan und führten Fahnen mit dem Bildnis Kemal Atatürks mit sich. Foto: dpa/ Walter G. Allgöwer
Im vergangenen Jahr demonstrierten Aleviten in Köln gegen den damaligen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan und führten Fahnen mit dem Bildnis Kemal Atatürks mit sich. Foto: dpa/ Walter G. Allgöwer
Hamburg hat die weltweit erste Professur für alevitische Theologie eingerichtet. Der Theologe und Islamwissenschaftler Andreas Gorzewski stellt die weithin unbekannten Aleviten vor, schildert ihr Verhältnis zum Islam und wie der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen ihre Förderung in Deutschland wettert.

Von einem "historischen Schritt" und einer "Weltpremiere" sprachen Vertreter der Aleviten und der Universität Hamburg Ende Januar. Denn Handan Aksünger übernahm den weltweit ersten Lehrstuhl für alevitische Theologie. Die Professur, die an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg errichtet worden ist, ist nur einer von mehreren Schritten, die in der Türkei entstandene Glaubensform der Aleviten an deutschen Hochschulen zu etablieren.

Ob es überhaupt eine alevitische Religion und Theologie gibt, wird kontrovers diskutiert. Viele türkische Sunniten und selbst einige Aleviten sehen das Alevitentum nur als eine Art Kulturgemeinschaft ohne religiöse Eigenständigkeit an. Auch Professorin Aksünger wurde schon gefragt, ob sie nun eine alevitische Religion erfinden wolle. "Wie soll ich etwas erfinden, was die Menschen über die Jahrhunderte selbst gelebt und als religiöses Gepäck mit nach Deutschland gebracht haben?", fragte Aksünger zurück. "Selbstverständlich hat auch das Alevitentum eine eigene theologisch-spirituelle Dimension und lässt sich nicht nur auf die kulturelle oder soziale Dimension reduzieren", stellt die gelernte Ethnologin und Soziologin klar.

Nun hat sie die Aufgabe, die überwiegend mündliche Überlieferung der Aleviten in den Universitätsdiskurs einzubringen. Dabei muss Aksünger auch auf Bestrebungen von türkisch-muslimischer Seite reagieren, das Alevitentum für den Islam zu vereinnahmen.

Wie sensibel das Thema ist, erfuhr im vergangenen Jahr Bundespräsident Joachim Gauck. Nachdem er in Berlin ein alevitisches Ritual- und Gemeinschaftshaus, ein "Cemhaus" besucht hatte, wurde er vom damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan scharf kritisiert. Gauck könne keinem Aleviten in der Türkei das Muslimsein absprechen, schimpfte der AKP-Politiker. Dabei hatte der Bundespräsident das gar nicht getan. Erdogans Ausbruch zielte auch gar nicht auf Gauck, sondern auf die fortschreitende Anerkennung des Alevitentums in Deutschland. Er sieht darin eine Herausforderung für die in der Türkei verbreitete Auffassung, Aleviten seien Muslime und könnten daher keine Eigenständigkeit beanspruchen. Wer darauf als Alevit beharrt, gerät schnell in den Verdacht, die Einheit der türkischen Nation zu untergraben.

Die Vorläufer des modernen Alevitentums reichen bis ins Mittelalter. In Anatolien vermischten sich islamische und nichtislamische Elemente, Zoroastrismus, Gnostik und frühislamische Mystik. Aber prägend war die unter schiitischen Muslimen verbreitete Verehrung Alis, Mohammeds Schwiegersohn. Der Begriff Alevit drückt dies aus. Deshalb gelten Aleviten häufig als Schiiten. Allerdings überwiegen die Unterschiede zum Islam, sowohl zum sunnitischen wie zum schiitischen. So beten die allermeisten Aleviten nicht in Moscheen. Auch fasten sie nicht im Ramadan und pilgern nicht nach Mekka. Und das islamische Rechtssystem, die Scharia, hat für sie ebenfalls keine Bedeutung.

Im Osmanischen Reich wurden die Vorformen des heutigen Alevitentums als Unglaube verketzert und ihre Vertreter und Anhänger zuweilen blutig verfolgt. So wurde die religiöse Tradition aus Selbstschutz zur Geheimlehre. In der Türkischen Republik gelten die 10 bis 25 Millionen Aleviten als Muslime, die sich an die Gebote des Islam halten sollen. Das sind sie für die staatliche Religionsbehörde Diyanet, weil sie kein anderes heiliges Buch als den Koran und keinen anderen Propheten als Mohammed hätten. Das bestreiten viele Aleviten und beklagen den Assimilationsdruck. So fehlt in der Türkei eine Ausbildung für alevitische Geistliche wie ein alevitischer Religionsunterricht an den Schulen. Alevitische Kinder müssen stattdessen die sunnitisch geprägte Religionskunde besuchen.

Die Schwierigkeit der Aleviten, ihre konfessionelle Eigenständigkeit zu begründen, liegt an der knappen Quellenlage und fehlenden Institutionen. Denn religiöses Wissen wurde nur in den Familien der Geistlichen, deren Amt vererbt wird, weitergegeben. Die Männer, die es ausüben werden Dede genannt, die Frauen Ana.

Ob das Alevitentum eine Konfession oder Strömung im Islam ist oder eine Religion neben dem Islam, ist auch in den eigenen Reihen umstritten. Einige sehen das Alevitentum nicht einmal als Religion, sondern nur als Kultur, Philosophie oder Weltanschauung. Dementsprechend sind die alevitischen Verbände in der Türkei zersplittert.

Modellversuch in Weingarten

In Deutschland sind die Rahmenbedingungen anders. Der Staat mischt sich nicht in die inneralevitische Debatte ein. Nach einer Studie der Deutschen Islam-Konferenz leben hierzulande etwa 500.000 Aleviten. Aber ihre Vertreter nennen höhere Zahlen. Der mit Abstand größte Dachverband ist die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF). Sie propagiert die religiöse Eigenständigkeit, legt sich aber nicht fest, ob sie sich diese außerhalb oder innerhalb des Islam vollzieht. Damit sollen Spaltungen in der eigenen Gruppe vermieden werden. Die AABF betont immer wieder, die Frage nach der Beziehung zum Islam sei eher unwichtig. Erdogan dürfte die AABF gemeint haben, als er kritisierte, die Aleviten würden sich vom Islam distanzieren und dabei von Deutschland unterstützt. Bundespräsident Gauck hatte in Berlin das Cemhaus der AABF besucht.

Die Alevitische Gemeinde ist in vielen Bundesländern als Religionsgemeinschaft anerkannt. In acht Ländern erteilt sie einen eigenen Religionsunterricht. Da es ihn in der Türkei nicht gibt, mussten Lehrpläne und Lehrerausbildung völlig neu erarbeitet werden. So waren die ersten Religionslehrer Aleviten, die andere Fächer unterrichten. Sie wurden in Wochenendseminaren auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. 2011 startete die Pädagogische Hochschule im südwürttembergischen Weingarten als Modellversuch einen Erweiterungsstudiengang für alevitische Religionspädagogen. Im Mai 2014 wurde daraus ein regulärer Erweiterungsstudiengang. Und auch damals war schon von "Weltpremiere" die Rede.

Mit dem Lehrstuhl in Hamburg ist zur Lehrerausbildung nun auch die Forschung hinzugekommen. Die große Herausforderung dabei ist, die lange verheimlichte Lehre mit ihren ganz unterschiedlichen Ausprägungen systematisch zu erfassen und darzustellen. Dabei geht es nicht nur um die Bearbeitung und Deutung alter Quellen, wie Professorin Aksünger betont. Vielmehr müssten die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft bei der Beantwortung der Frage einbezogen werden, was Alevitentum ist und wie diese Religion zu praktizieren ist. "Nur in der Verschmelzung von Mensch und Text beziehungsweise der Mensch als Text ist Erkenntnissuche sinnvoll", erklärt Aksünger. Damit spielt sie auf die zentrale Rolle des Menschen in der alevitischen Lehre an. Anstelle von Geboten oder einer abgeschlossenen Offenbarung stehen die Ethik und die Aufforderung zur Selbstvervollkommnung im Mittelpunkt. Das machen viele überlieferte Aussprüche der alevitischen Heiligen deutlich. "Das wichtigste zu lesende Buch ist der Mensch", soll der Mystiker Haci Bekta Veli im 13. Jahrhundert erklärt haben. Er mahnte: "Was immer du suchst, such es bei dir, nicht in Jerusalem, in Mekka oder auf der Pilgerfahrt."

Das Alevitentum, das in Weingarten und in Hamburg gelehrt wird, unterscheidet sich von der traditionellen Glaubensüberlieferung. Die Jahrhunderte alten türkischen oder kurdischen Lieder und Erzählungen werden in deutsche Lehrpläne und Unterrichtsbücher aufgenommen. Außerdem geben nicht mehr allein die Anas und Dedes den Glauben weiter. Vielmehr übernehmem einen Teil ihrer Funktionen Religions- und Hochschullehrer. Dabei können sich die Gruppen der Geistlichen und der Akademiker durchaus überschneiden. So entstammt der Weingartener Dozent Hüseyin Aguicenoglu einer Dede-Familie.

Nur eine Zwischenetappe

Der Dachverband AABF legt Wert darauf, die männlichen und weiblichen Geistlichen in die Entwicklungen einzubeziehen. Die stellvertretende Generalsekretärin Melek Yildiz ist Religionslehrerin und im AABF-Bundesvorstand für Wissenschaft und Lehre zuständig. Ihr zufolge nimmt der Geistlichenrat der AABF Stellung zu neuen Lehrplänen.

Der Hamburger Lehrstuhl ist für die AABF nur eine Zwischenetappe. Wie evangelisch- und katholisch-theologische Fakultäten soll auch eine alevitische dreierlei leisten: Sie soll Religionslehrer ausbilden, wissenschaftlichen Nachwuchs qualifizieren und religiöses Personal auf die Gemeindearbeit vorbereiten. "Der nächste Schritt wäre, dass auch wir unsere Geistlichen an einer universitären Einrichtung ausbilden können", meint Yildiz. Und das zeichnet sich auch ab. In Weingarten hat mit dem Sommersemester 2015 eine dreisemestrige Fortbildung für Geistliche und ehrenamtliche Mitarbeiter alevitischer Gemeinden begonnen. "Wir sehen dieses neue Angebot als einen Probelauf für die Etablierung einer universitären Ausbildung von religiösem Personal für unsere Gemeinden", erläutert Yildiz und macht deutlich: "Wir sind darum bemüht, eigenständige Lehrstühle für die alevitische Lehre und Forschung einzurichten, die in religionswissenschaftlicher Qualität den evangelischen und katholischen Lehrstühlen in nichts nachstehen." So wie das Bundesforschungsministerium den Start von Zentren für islamische Theologie finanzierte, solle auch ein Institut für das Alevitentum eine Anschubfinanzierung des Bundes erhalten. Und einzelne Hochschulen müssten mitziehen. Wie Yildiz verrät, laufen Gespräche mit mehreren Universitäten Nordrhein-Westfalens.

Die rasche Entwicklung bei der Anerkennung und Förderung der Aleviten in Deutschland strahlt auf die Türkei aus, wie Erdogans Reaktion auf Bundespräsident Gauck zeigte. Dozent Aguicenoglu erklärte 2014 in Weingarten, Deutschland diene den Aleviten in der Türkei als Modell, um ähnliche Rechte und Freiheiten zu verlangen.

Andreas Gorzewski

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