Drohendes Vergessen

Über den unendlichen Wert antiker Kulturzeugnisse
Noch unbedroht: Ruinen eines Tempels der ägyptischen Göttin Isis aus römischer Zeit in der Ausgrabungsstätte Sabra (Libyen). Foto: epd/ Egmont Strigl
Noch unbedroht: Ruinen eines Tempels der ägyptischen Göttin Isis aus römischer Zeit in der Ausgrabungsstätte Sabra (Libyen). Foto: epd/ Egmont Strigl
Die Zerstörungswut islamistischer Terroristen gegen antike Kulturdenkmäler in Irak und Syrien sorgt für weltweites Entsetzen. Dieter Vieweger, Leitender Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman, gibt einen Überblick über die Wiederentdeckung und die Bedeutung dieser Schätze für die biblische Archäologie.

Das Abendland hatte die großen Kulturen zwischen den beiden Strömen Euphrat und Tigris, entlang des Nils und in Anatolien, weitgehend vergessen. Nur wenige antike Schriftsteller erinnerten an sie. Die Bibel erzählte von einzelnen Völkerschaften, von der Knechtschaft in Ägypten und unglaublich großen Städten wie Ninive und Babylon. Aber erst während der Renaissance brachen einzelne Forschungsreisende nach Ägypten auf und begannen, die unbekannte Welt zu erkunden.

Über die Ruinenstätten im Zweistromland hatte schon Benjamin von Tudela im 12. Jahrhundert berichtet. Aber erst 1766 stand ein europäischer Forscher, der Däne Carsten Niebuhr (1733-1815), ehrfurchtsvoll vor den großen geheimnisvollen Hügeln aus Tonerde und Steinen, unter denen die verfallenen Reste alter Städte, wie zum Beispiel Babylon und Ninive verborgen sein mussten. Als Muslim verkleidet, durchstreifte er unter abenteuerlichen Bedingungen Mesopotamien und gelangte schließlich bis in den Jemen.

Erst der Feldzug Napoléon Bonapartes 1798 nach Ägypten - zu dem ein Tross aus 167 hochrangigen Wissenschaftlern gehörte - brachte den wissenschaftlichen Durchbruch. Ein Vierteljahrhundert später konnte Jean-Francois Champollion (1790-1832) die Hieroglyphenschrift entziffern und eine neue Wissenschaft, die Ägyptologie, begann sich selbstbewusst zu entfalten. Vor ihm war es bereits gelungen, die keilförmigen Zeichen des Zweistromlandes, die man auch als Ornamente angesehen hatte, zu übersetzen.

Die Begeisterung des Abendlandes für Mesopotamien und Ägypten erwachte: Ausgrabungen brachten gewaltige Bauwerke zu Tage, europäische Museen beschafften sich wertvolle Zeugnisse dieser Kulturen und die abendländische Öffentlichkeit staunte über eine solch hohe Kultur vor Tausenden von Jahren. Deren literarische Reflexe in der Bibel und bei antiken Schriftstellern konnten nun verstanden und gedeutet werden. Und bedeutende Völker wie die Hethiter - von denen man bisher nur im Alten Testament las und die man einstmals in der Gegend von Hebron und Jerusalem vermutete - begannen aus dem Dunkel der Geschichte zu treten: ein großes anatolisches Reich trat in den Blick der Weltgeschichte, das 1274 v. Chr. im syrischen Qadesch am Orontesfluss selbst Pharao Ramses II. besiegt hatte.

Wiege unserer Kultur

Die Entzifferung der Keilschrifttafeln eröffnete den Epigrafikern bald eine Welt des Zweistromlandes, die noch weiter zurückreichte als die Spaten der damaligen Ausgräber. Selbst die Assyrer und die Babylonier hatten ihre Kultur ererbt. Die Wiege der abendländischen Kultur führte noch weiter zurück - bis in die Mitte des 4. Jahrtausends vor Christus, wie der amerikanische Gelehrte Samuel Noah Kramer mit dem nötigen Witz in "History Begins with Sumer" beschrieb. Er reihte die Anfänge unserer Kultur (unnachahmlich beschrieben bei C.W. Ceram) in 27 "Firsts" auf - in ersten geschichtlichen Manifestationen abendländischer Kultur und Gesellschaft: darunter die ersten Schulen, den ersten Fall von Bestechung, den ersten Historiker, das erste Gesetzbuch, den ersten juristischen Präzedenzfall, das erste medizinische Rezeptbuch, den ersten landwirtschaftlichen Kalender, die ersten Moralgesetze, die erste verzweifelte Nachfrage eines Hiob nach göttlicher Gerechtigkeit, die erste Paradiesvorstellung, das erste Liebeslied, das erste Goldene Zeitalter des Friedens. Heute würde man korrekterweise von der "urbanen Revolution" (Vere Gordon Childe) und der ihr vorausgehenden "neolithischen Revolution" sprechen und ausdrücklich bestätigen, was die Altertumsforschung seither ans Licht gebracht hat: die Anfänge unserer Kultur liegen im "Fruchtbaren Halbmond", dem Nahen Osten vom Zweistromland bis nach Ägypten.

Mutwillige Zerstörungen von Kulturgut gibt es seit Jahrtausenden. Ob ägyptische Pharaonen die Namen ihrer Vorgänger ausmeißelten, um sie damit der Vergessenheit auszusetzen, ob Eroberer das Kulturgut ihrer unterlegenen Gegner abtransportierten, die Französische Revolution sich an Kirchen und Klöstern schadlos hielt oder aber Bücherverbrennungen die Vernichtung von verhasstem Gedankengut besiegeln sollten - der Kulturvandalismus hat viele Gesichter.

Dass die Zerstörung von Kulturgütern aber im 21. Jahrhundert fröhlichen Urstand feiert, muss die Öffentlichkeit aufschrecken und erfordert den Widerstand der Weltgemeinschaft. Im März 2001 fielen die Buddha-Statuen von Bamiyan (Afghanistan) eifernden Taliban zum Opfer. Islamische Fanatiker der Ansar Dine und salafistischer al-Qaida-Ableger im Maghreb zerstörten im Mai 2012 das Mausoleum Sidi Mahmoud Ben Amars in Timbuktu (Mali) und im Monat darauf weitere berühmte Grabstätten. Die seit vier Jahren anhaltenden Zerstörungen der antiken Stätten Syriens im Zuge militärischer Auseinandersetzungen dürfen getrost in den Kulturvandalismus eingereiht werden. Im Frühjahr 2015 erreichten uns Nachrichten von der Zerstörung wertvoller Antiken in Mosul, Nimrud und Hatra (Irak) und zuletzt von der Bedrohung Palmyras (Syrien) durch islamistische Terroristen. Die aktuelle Barbarei im Nordirak vollzieht sich in fundamentaler Selbstgerechtigkeit unter religiös-ideologischen Vorzeichen. Solche Auswüchse kommen nicht aus heiterem Himmel. Fanatiker, die unser Weltkulturerbe zerstören, bedrohen nicht allein das Leben, sondern stets auch die Freiheit ihrer Mitmenschen: Sie verhindern Impfungen, verweigern Mädchen den Schulbesuch und stellen mit ihren engstirnigen Vorstellungen die Selbstbestimmung ihrer Umwelt in Frage.

Jegliche Erinnerungen an eine nicht-islamische, nichtmonotheistische Welt sollen ausgelöscht werden, jedes Denken in Alternativen zur engstirnig fundamentalen Ideologie der Fanatiker. Sonst werde die Einzigartigkeit Allahs infrage gestellt. Diesem barbarischen Eifer fallen nicht nur Andersdenkende und Andersgläubige zum Opfer, sondern auch christliche und jüdische Denkmäler und altorientalische Kulturschätze, weil sie aus einer polytheistischen Welt stammen.

Die Jahrhunderte alten assyrischen Stätten und Kunstschätze spielten eine zentrale Rolle in der orientalischen und abendländischen Geschichte und Kultur. Ob das wundervolle Nimrud oder das großartig erhaltene Hatra, die Milizen des "Islamischen Staats" plündern und zerstören Jahrtausende alte Ruinen, Tempelanlagen und einzigartige Kunstwerke. Im Museum von Mosul fielen sie mit Hämmern und einem Presslufthammer über wertvolle Statuen her, die den Assyrern der Vielgötterei gedient hätten. Sie eifern dem Propheten Mohammed nach, der Gleiches bei seiner Rückkehr nach Mekka getan habe.

Selbst Bücher wurden Opfer ihrer Attacken. In der zentralen Bibliothek von Mosul und in deren Universität wurden dem Islam nicht entsprechende Bücher vernichtet. Den Extremisten wird ohnehin nachgesagt, archäologische Beutestücke zu verkaufen.

Das Assyrische Reich - dessen Zeugnisse heute im Nordirak ausgelöscht werden - existierte etwa eintausend Jahre. Als Großreich erreichte es zwischen 750 und 620 v. Chr. bis dahin ungeahnte Ausmaße. Mit den assyrischen Herrschern kamen auch die biblischen Reiche Israel und Juda in Konflikt. Salmanassar III. (859-824 v. Chr.) wurde 853 v. Chr. bei Qarqar am Orontes zwar noch von einer Allianz aus syrischen und palästinischen Königen, darunter Ahab von Israel, gestoppt. Doch Tiglat-Pileser III. (745-726) eroberte Palästina bis hin nach Gaza. Israel geriet in den Zugriff Assurs und wurde 722/1 schließlich ausgelöscht.

Die Autoren des Alten Testaments berichten davon, natürlich auch von der Eroberung Samarias 722/1 und der Belagerung Jerusalems im Jahre 701 v. Chr. Im zweiten Buch der Könige, bei den Propheten Jesaja, Amos, Hosea und Micha wird der Konflikt, den Israel und Juda mit Assyrien auszufechten hatten, nicht nur beschrieben, sondern im Lichte der Macht des israelitischen Gottes dargestellt, der sein Volk angesichts von dessen Sünde der Fremdmacht auslieferte und sie schließlich rettete: Die Jahre des assyrischen Niedergangs bis 612 v. Chr. werden im Buch Nahum dargestellt.

Mehr als 150 Jahre lang war Nimrud die Hauptstadt dieses assyrischen Weltreiches. Sir Austen Henry Layard entdeckte es 1845 wieder. Von 1949 bis 1957 forschte hier Max Mallowan, dem dessen berühmte Ehefrau Agatha Christie zur Seite stand. Die Mauern des aufsehenerregenden Palastes, die Reste einer Zikkurat, die wertvollen Reliefs und der vor wenigen Jahrzehnten aufgefundene Goldschatz könnten nun für immer verloren sein. Damit sterben Zeugnisse unserer abendländischen Geschichte sowie der Wurzeln des jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens. Die Biblische Archäologie ist derzeit weder in Jordanien noch in Israel/Palästina durch fundamentalistische Anfeindungen direkt und unmittelbar beeinträchtigt. Anders sieht die Bedrohung der Kulturgüter im südsyrischen Kriegsgebiet aus, das für die Biblische Archäologie ebenso von großem Interesse ist.

Die Freiheit der Wissenschaft

Die beiden Institute des "Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes" (DEI) in Jerusalem und Amman vertreten eine Archäologie, die alle kulturellen Epochen von der Stein- bis zur Neuzeit in ihrem geografischen Umfelde erforscht. Die Leiterin des Ammaner DEI ist Klassische Archäologin; der Leiter in Jerusalem Vor- und Frühgeschichtler.

Der Name Biblische Archäologie zeigt aber nicht allein die forschungsgeschichtliche Herkunft, sondern auch das einmalige Proprium dieses speziellen archäologischen Wissenschaftszweiges: die Beschäftigung mit dem Umfeld der biblischen Welt im weitesten Sinne. Es kann nur als ungemein große Bereicherung der archäologischen Forschung angesehen werden, biblische und außerbiblische Zeugnisse tiefgründig zu kennen, sie in originaler Sprache zu lesen, chronologisch korrekt einzuordnen und von ihrem Selbstverständnis her kritisch zu würdigen. Im DEI wird dafür von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine doppelte Qualifikation erwartet: die archäologische und die theologische. So werden die wertvollen schriftlichen Zeugnisse verschiedenster Gattung und Herkunft den archäologischen Quellen zur Seite gestellt, wie es die Vorderasiatische oder Klassische Archäologie mit den vielfältigen Schriftquellen ihres Umfeldes vergleichbar tut.

Die Biblische Archäologie wird damit ein wertvoller Teil der multidisziplinären Altertumserforschung des Nahen Ostens, an der Disziplinen wie die Philologie, Kulturanthropologie, Kunstgeschichte, Architektur, Glyptik (Steinschneidekunst), Numismatik, Archäozoologie, Hydrologie, Paläoklimatologie und nicht zuletzt die Theologie beteiligt sind. Sie erstrebt eine möglichst umfassende Erforschung aller Kulturepochen, soweit sie sich aus der materiellen Hinterlassenschaft erschließen lassen.

Natürlich bedurfte es auch im Abendland eines langen Weges, religiöse Quellen und Ansichten mit der Freiheit der Wissenschaft zu konfrontieren und einen für beide Seiten fruchtbaren kritischen Dialog zu etablieren, der von allen Seiten akzeptiert und fruchtbar werden konnte. Der erste Direktor des DEI, Gustav Dalman, führte 1903 zum ersten Mal den "Lehrkurs" durch, zu dem er sechs deutsche Wissenschaftler auf eine große Bildungsreise durch den Nahen Osten einlud.

Diese Kurse werden bis heute jährlich mit großem Erfolg angeboten. Wissenschaftler erhalten auf der mehrwöchigen Reise in gegenseitigem Austausch und Zusammenleben die Möglichkeit, die Ursprünge unserer Kultur und Religion an ihren Ursprüngen zu erforschen und zu diskutieren. Das Störfeuer der Ideologen und religiösen Fanatiker kostet derzeit die Reise durch Syrien, hoffentlich nicht mehr lange!

Religiöse Eiferer gleich welcher Couleur, die die Welt vor und um sich herum in ihrer Vielgestaltigkeit nicht akzeptieren wollen, müssen gestoppt werden. Um der Freiheit aller Menschen und der Zeugnisse ihrer langen und bedeutenden Geschichte willen.

Dieter Vieweger

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