Zornmütiger Seelenbestandteil

Wut und Zorn: Ein Streifzug von durch die Jahrhunderte
Der Maler Charles Lebrun widmete sich dem Studium der wütenden und zornigen Physiognomie. Foto: akg-images
Der Maler Charles Lebrun widmete sich dem Studium der wütenden und zornigen Physiognomie. Foto: akg-images
Europäische Denker und Wissenschaftler entwarfen schon in der Antike verschiedene Bilder von Wut und Zorn, die auf eine moralische oder eine ästhetische Bewertung zielten. Einen Überblick über die Jahrhunderte liefert die Bielefelder Romanistin Kathrin Weber.

Schon für den Menschen, der weise und ernst ist, geziemt sich nicht der Zorn; denn sobald der Zorn des Menschen Gemüt befällt, so regt er wie ein wilder Sturm solche Fluten auf, daß sich der Zustand des Geistes verändert: es funkeln die Augen, es bebt der Mund; die Zunge stottert, die Zähne klappern, und abwechselnd entstellt bald überströmendes Rot, bald entfärbende Blässe das Antlitz (Lactantius, Kapitel 5)."

Die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Problematik von Wut und Zorn ebenso wie die Faszination, die sie aufgrund ihrer Deutlichkeit und Sichtbarkeit ausüben, machten Wut und Zorn in allen Jahrhunderten zu einem beliebten Thema. Europäische Denker und Wissenschaftler von Homer (8. Jahrhundert v. Chr.) bis Peter Sloterdijk (geboren 1947) entwarfen verschiedene Bilder von Wut und Zorn, die auf eine moralische, ästhetische oder wissenschaftlich-erklärende Bewertung hinzielten.

"Wie sieht es ferner mit dem feurigen und zornmütigen Seelenbestandteil aus? Von ihm dürfen wir sagen, dass die Lust seiner Bestrebung im allgemeinen immer auf Machthaben, Siegen und Berühmtsein gerichtet sei? Ja, sicher. Wenn wir ihn demnach den sieg- und ehrgierigen nennten, würde dieser Name wohl treffend sein? Ja, ganz treffend," formulierte einst Platon (428/27 bis 348/47 v. Chr.) im achten Kapitel von "Der Staat". Neutral, wenn nicht sogar positiv sind die ersten antiken Äußerungen zu Wut und Zorn, wobei hier klar der Zorn als zielgerichtetere und weniger impulsive Form im Vordergrund steht. Platon und später auch Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) identifizieren den Zorn mit Lebendigkeit, Wärme und Kraft, wie es auch schon im thymos von Homer anklingt, der mit dem Lebensodem verbunden ist und mit ihm verschwindet. Kein Leben ganz ohne Wut und Zorn, und ganz ohne Wut und Zorn auch kein Leben. Für Aristoteles ist der Zorn ein unabdingbares Merkmal des guten Hausherrn und Bürgers, der seinen Zorn gegen alles richtet, was den Frieden und den Fortbestand seines Hauses von innen und außen bedroht. Ohne den Zorn gäbe es also nicht die griechische Polis. Wut und Zorn ähneln so dem Feuer nicht nur wegen ihres warmen Gefühls, sondern auch in ihren kulturprägenden Eigenschaften: Sie sind wie das Feuer das Innere des Hauses, um das sich alle sammeln können und das sie vor Dunkelheit, Krankheiten, wilden Tieren beschützt. Und sie ermöglichen dem Menschen mit einem sehr kräftigen "zornmütigen Seelenbestandteil" eine Entwicklung, die einem kälteren Gemüt nicht möglich ist. Wie prägend diese Vorstellung immer noch ist, zeigt Sloterdijk, der aus Wut und Zorn geradezu kulturschaffende Emotionen machen möchte. Die genannten antiken Autoren sind hier gemäßigter: Eine vorwärtsstrebende, alle Kräfte sammelnde Energie alleine, ohne zügelnde Vernunft und ohne Berücksichtigung der anderen Bedürfnisse (des Körpers) bringt wenig zustande.

"Was ist sanfter als ein Mensch, solange sein Geisteszustand in Ordnung ist? Und was ist grausamer als Wut? Der Mensch ist zu gegenseitiger Unterstützung geboren, Wut führt zu gegenseitiger Zerstörung; er möchte Vereinigung, Wut führt zu gegenseitiger Störung; er will nützen, sie schaden; er ist bereit, wenn nötig, sich selbst zu opfern, damit andere einen Vorteil haben, sie geht jede Gefahr ein, wenn sie nur andere damit ins Unglück reißt", schreibt Seneca (1/ 4. v. Chr. bis 65 n. Chr.) in "Über die Wut". Der spätantike Philosoph ist sensibilisiert für das Unberechenbare und Unkontrollierbare: Das römische Reich erleidet in seiner Zeit die ersten Schwächungen; er selbst erlebt viele Anfeindungen und verbringt Jahre in der Verbannung. Die von ihm beschriebene Wut tendiert zur Zerschlagung und Auflösung dessen, wogegen sie sich, meist zufällig und unberechenbar, wendet. Der teleologische Aspekt, das heißt, dass Handlungen an Zwecken orientiert sind, den Aristoteles sehen konnte, weil er fragte, was nach der Wut kommt, geht bei Seneca, der ganz im Hier und Jetzt dachte, im Chaos der destruktiven Handlungen unter, die ja im Augenblick tatsächlich jeder Logik entbehren. Dass sich Wut und Zorn an Werten orientieren, erscheint aus der Sicht der Stoiker nur als Rationalisierung und nachträgliche Rechtfertigung eines irrationalen Verhaltens.

Den Frieden stören

Wut und Zorn werden bei den Stoikern zu sehr gefährlichen Emotionen, weil sie die constantia, die Beständigkeit und den Frieden stören. Denn sie richten sich - ob nun gewollt oder unabsichtlich, das lassen die Stoiker eher offen - gegen das basale, notwendige Sicherheitsgefühl und (Ur-)Vertrauen, ohne das ein Mensch keinen Schritt in die Zukunft tun kann: Sie halten Entwicklung auf. Schafft es der Mensch aber, sie mit Hilfe seines vernunftbegabten Ichs zu kontrollieren (und hier kommt wieder die Orientierung an Werten und Religion ins Spiel), so hat er allen Grund, an die Entwicklungsfähigkeit seiner Werte und seines Ichs zu glauben. Im 16. Jahrhundert weist Michel de Montaigne (1533 bis 1592) auf den Unterschied zwischen Kontrolle durch Vernunft und einer Kontrolle aus sozialen Gründen zum Beispiel aus Unsicherheit und Scham heraus, die schädlich ist, weil sie nur Chaos in der Person selbst anrichtet. "Ich möchte rathen, daß man lieber ein wenig zur Unzeit seinem Bedienten einen Glitsch auf die Backen gebe, als seine Fantasie foltre, um beständig eine hochwohlweise Miene zu tragen, und möchte lieber meine Leidenschaften öffentlich zeigen, als auf meine Kosten immer darüber zu brüten", so Montaigne im vierten Buch der "Essais".

Was aber ist zweckdienlich, wenn nicht eine Person, sondern eine große Gruppe wütend ist? "Man hat niemals eine ganze Nation gesehen, die von der Liebe einer Frau ergriffen war: Man hat niemals eine ganze Stadt gesehen, die vor Begehren und Wünschen, Geld anzuhäufen, brannte. Aber man sieht ganze Städte, Provinzen und Republiken von der Wut umarmt und getragen von dieser Raserei mit dem Einverständnis der Großen, der Kleinen, der Jungen, der Alten, der erwachsenen Männer, der Kinder, des Magistrats und des Volkes: Man sieht Gemeinschaften alle auf einmal zu den Waffen laufen, die diese Raserei ihnen in die Hand gibt, um einen Verdruss oder eine Beleidigung zu rächen, von der sie vorgeben, dass sie ihnen getan wurde." So wird Nicolas Coëffeteau (1574 bis 1623) in "Tableau des passions humaines" zitiert. Der französische Schriftsteller und Theologe paraphrasiert hier Seneca, aber vor dem Hintergrund der noch nicht lange vergangenen Religionskriege. Er muss feststellen, dass Werte und Religion keinen Schutz gegen das Chaos der sich so schnell sammelnden Wütenden sind, solange nicht jemand die Stabilität der Werte garantiert. Dieser Garant wird in seiner Zeit der absolutistische Staat werden, der die absolute, gottgegebene Einheit gegen die Vielheit der Wütenden setzt. Aus heutiger Perspektive, nicht aus der der Herrschenden und Ordnungshüter, sondern aus der der Bürger betrachtet, ist Wut dagegen endlich ein Gefühl, das viele verbinden kann und trotz aller Verschiedenheit und Individualität Einheit schafft.

"Ebern steht der Schaum vorm Maul, ihre Zähne werden durch Reibung gewetzt; die Hörner von Stieren werden hin und her geschleudert und der Sand durch Stöße der Hufe versprengt; Löwen geben grollend Laut: gereizten Schlangen bläht sich der Nacken; bei tollwütigen Hunden verhärtet sich der Blick," so Seneca "Über die Wut".

Er entwirft zusammen mit seinem Bild der chaotischen Emotion auch Bilder von Wut und Zorn als Emotion, die den Einzelnen hässlich macht, weil sie die Gesichtszüge verzerrt, die Haltung verhärtet, die Stimme schrill werden lässt und den Menschen einem Tier oder einer Naturgewalt ähneln lässt. Zahlreiche Abbildungen des Mittelalters zeigen die Ira mit wilden Haaren, die wie Flammen wirken (also wutentbrannt), und einem leeren Blick, der anzeigt, dass dem Gefäß des Körpers die füllende und belebende Seele fehlt: Wer vor Wut außer sich ist, der lässt auch zu, dass seine Seele aus ihm vertrieben wird. In welche "Niederungen", der Wütende, der sich zu Lebzeiten nicht mäßigen konnte, gerät, zeigt das Zitat aus Dante Alighieris (1265 bis 1321) "Inferno": "Und ich, der stille stand, mich umzuschauen / Sah im Morast dort welche, nackt und bloß/ Mit Schlamm bedeckt und grimmverzerrt die Brauen; / Die gaben sich mit Fäusten Stoß auf Stoß, / Mit Füßen auch, mit Kopf und Brust und rissen / sich Fetzen Fleisches mit den Zähnen los. / Der gute Meister sprach: 'Nun magst Du wissen, / Mein Sohn: Die Seelen solcher siehst Du hier, / Die Zorn bezwang; und in den Finsternissen / Der Tiefe stöhnen andre, glaube mir, / Davon hier oben rings die Sprudel quellen'." Es ist nicht von ungefähr, dass ein Mensch, der sich so einer überhitzten, alle Feuchtigkeit aufzehrenden Wut hingibt, im Inferno, im feuchten und erdigen Morast und Dreck feststeckt und droht, in ihm unterzugehen: Es ist ja auch das einzige Mittel gegen seine Wut. In gemäßigter Form galt dieses auch für ihn zu Lebzeiten: Dem krankmachenden Ungleichgewicht der Elemente, die sich in der Wut und dem Zorn des Cholerikers ausdrücken, administrierte man im Mittelalter, der Humoralpathologie Galenus von Pergamon (129 bis 199 n. Chr.) folgend, feuchte Wickel, eine reizarme Umgebung und Kost. Das Hässliche und Abstoßende schien aber auch zu faszinieren, so häufig wie Wütende und Zornige im Bild dargestellt wurden. Sie boten Ansatzpunkte für Vorstellungen bizarrer, fantastischer Welten, die einen Kontrapunkt zur schönen und heilen, aber stereotypen (und im Mittelalter ebenso wenig wie heute realistischen) Welt setzten.

Langsam (parallel zur Erforschung von Wut und Zorn und vor allem zu einer gesellschaftlichen Beruhigung) setzte sich die Auffassung durch, dass diese große Expressivität auch schön sein kann. Im 17. Jahrhundert widmeten sich der Maler Charles LeBrun (1619 bis 1690) und zahlreiche Schauspieler des Studiums der wütenden und zornigen Physiognomie. Hier, in der Nachahmung auf der Bühne wurden Wut und Zorn sogar zu etwas Ausdrucksvollem und Beeindruckendem. "Es ist die Begierde, verbunden mit der Selbstliebe welche dem Zorn die nötige Erregung des Blutes verleiht, die den Mut und die Kühnheit hervorrufen, und den Haß bewirkt, daß es hauptsächlich galliges Blut ist, das auch der Milz und den kleinen Adern der Leber stammt, das so in Wallung gerät und ins Herz eintritt. Dort erregt es in seiner Übermenge und gemäß der Eigenheit der Galle, mit der es durchmischt ist, eine scharfe, brennende Hitze, wie sie nicht durch die Liebe oder Freude erregt werden kann," so René Descartes (1596 bis 1650) in "Les passions de l'âme".

Reflexive Distanz

Descartes unternimmt nun auf Basis der anatomischen und körperphysiologischen Erkenntnisse seiner Zeit eine relativ neutrale Beschreibung von Wut und Zorn. Sie verlieren ihren Platz in der unteilbaren Seele und rücken der teilbaren Materie näher. Nicht das Herz, nicht die Seele, sondern die Zirbeldrüse ist Ursprung der Passionen, sie wird durch die "Lebensgeister", die als Mittler zwischen Körper und Seele fungieren, in Unruhe versetzt. Sie sind Teil des menschlichen Körpers, aber niemand ist ihnen ausgeliefert, weil das Denken, das seinen Platz in der Seele hat, sie als nicht-lohnend und unnötig entlarven kann. Wut und Zorn sind entsprechend der Lebensgeister-Vorstellung keine grundlegenden Leidenschaften, sondern aus anderen Leidenschaften, wie dem Hass und der Liebe zusammengesetzt (noch bis ins 19. Jahrhundert sah man in ihnen Verbindung zur Scham und zur Trauer). "Warme" und "kalte" Wut, die auf unterschiedlichen physiologischen Prozessen beruhen, zeigen sich deutlich in der Physiognomie.

Die reflexive Distanz, die sich hier schon im 17. Jahrhundert zeigt, ist in den Forschungen des Nervenarztes und Fotografen Guillaume Duchenne de Boulogne (1806 bis 1875), der Mitte des 19. Jahrhunderts die physiognomischen Merkmale von Wut und Zorn mit Hilfe der elektromagnetischen Stimulation von Nerven erzeugt, und Charles Darwin (1809 bis 1882), der im wütenden Verhalten eine natürliche, auch im Tierreich zu findende Beschützer- und Grenzverteidigungsgestik sieht, noch weit größer. "Das gereizte Gehirn gibt den Muskeln Kraft und gleichzeitig dem Willen Energie. Der Körper wird gewöhnlich aufrecht gehalten, bereit zur augenblicklichen Handlung, zuweilen aber auch nach vorn gebeugt gegen die anstöszige Person hin, wobei die Gliedmaszen mehr oder weniger steif sind. Der Mund wird gewöhnlich mit Festigkeit geschlossen, um den festen Entschlusz auszdrücken, und die Zähne werden fest aufeinander geschlossen oder sie knirschen. Derartige Geberden wie das Erheben der Arme mit geballten Fäusten als wollte man den Beleidiger schlagen, sind sehr häufig." Wut und Zorn werden zu etwas, das - neutral betrachtet - der Natur des Menschen entspringt und damit "sinnvoll" ist. Kinder, Geisteskranke und "Wilde" äußern sie noch ungehemmt, aber mit einiger Kultiviertheit des Denkens können sie kontrolliert werden und sind dann akzeptable Ausdrucksweisen des Menschen und nicht mehr.

Dem Oberbegriff der Aggression untergeordnet verlieren Wut und Zorn in der Folgezeit als Einzelemotionen an Bedeutung. Die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts betrachtet sie als Affektabkömmlinge der Aggression. In Sigmund Freuds "Druckkesselmodell" sind Wut und Zorn (in Gestalt der Aggression) wieder in die Nähe zum thymos Homers gerückt, doch geht es hier, aus dieser vom Einzelnen sehr abstrahierenden Perspektive nicht mehr um den Lebenshauch und die Seele, sondern, wenn man dem Bild nachfolgt, nur noch um Dampf und Maschine. Wut und Zorn selbst spielen als Affekte in der Theorie nur eine hinweisende Rolle auf Verdrängtes und Gehemmtes.

Die heutigen Umgangsweisen mit Wut und Zorn sind breit gefächert. Wir können sie akzeptieren, weil wir gelernt haben, Wut und Zorn halbwegs adäquat auszudrücken. Der "emotionale Schwenk" in den Kultur- und Geschichtswissenschaften drückt nur eine allgemeine individuelle Aneignung unserer Emotionen aus. Wir verdanken es nur unserem Wohlstand und unseren sozialen Systemen, dass wir Wut und Zorn relativ gelassen gegenüberstehen können. Die Bilder, die Denker vergangener Jahrhunderte entwarfen, sollte man gerade deswegen nicht vergessen.

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Kathrin Weber

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