Die Angst vor dem Sterben

Warum in Deutschland so heftig über die Hilfe zum Suizid gestritten wird
Auf die Frage, ob sie assistierten Suizid befürworten, antwortet die Mehrheit in Stuttgart mit Ja. Foto: Tobias Goldkamp
Auf die Frage, ob sie assistierten Suizid befürworten, antwortet die Mehrheit in Stuttgart mit Ja. Foto: Tobias Goldkamp
So kontrovers wie kaum ein anderes Thema wird die Beihilfe zum Suizid diskutiert, auch beim Stuttgarter Kirchentag. Es ist weiter fraglich, ob sich der Bundestag im Herbst auf ein Gesetz einigen wird.

Juristisch ist die Lage klar: Selbsttötung ist in Deutschland nicht verboten, und somit steht auch die Beihilfe dazu nicht unter Strafe. Immer vorausgesetzt, die Selbsttötung ist frei verantwortet und nicht Ausdruck einer Krankheit wie einer Depression. Auch Mediziner werden genau wie jeder andere nicht strafrechtlich bei der Hilfe zum Suizid belangt, müssen sich jedoch vor ihrem Standesrecht verantworten. Und das regeln die Landesärztekammern je nach Bundesland unterschiedlich. Zwar hat die Bundesärztekammer die Vorschrift "Hilfe beim Suizid ist keine ärztliche Aufgabe" in ihre Musterberufsordnung aufgenommen, doch nur zehn Bundesländer haben diesen Passus übernommen. So befinden sich Ärzte bisweilen in einer Grauzone, manche nennen es auch "ethischen Freiraum". Nun plant die Bundesregierung, wie schon in der vergangenen Legislaturperiode, eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizids, landläufig auch Sterbehilfe genannt. Mittlerweile liegen im Bundestag vier Gruppenanträge vor, die fraktionsübergreifend erarbeitet wurden, und die Anfang Juli in erster Lesung diskutiert werden sollen.

Doch ob eine gesetzliche Regelung überhaupt nötig ist und wenn ja, welche, oder ob man besser alles beim Alten belässt, darüber gehen die Meinungen auseinander, auch beim Stuttgarter Kirchentag. Nur in einem sind sich in Stuttgart beim "Thementag Leiden" alle einig: Eine Tötung auf Verlangen wie in den Niederlanden, wo ein Arzt einem Patienten auf dessen Wunsch hin eine tödliche Dosis von Medikamenten verabreicht, soll es in Deutschland nicht geben. Zum Hintergrund: 800.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland, 10.000 begehen Suizid vielfach aufgrund von Krankheiten, allein 80 Menschen entscheiden sich für eine Fahrt in die Schweiz.

Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe fordert in Stuttgart ein Verbot der organisierten Sterbehilfe, also von Vereinen und Einzelpersonen. Doch an der Straffreiheit zur Selbsttötung und zum assistierten Suizid will er nichts ändern. Aber daraus wachse laut Gröhe eben kein Anspruch auf Hilfe zum Suizid.

Anders Gian Domenico Borasio, katholischer Palliativmediziner aus Lausanne. Er propagiert einen Gesetzentwurf, der die Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellt, jedoch mit zwei Ausnahmen: Ärzten und Angehörigen oder Nahestehenden soll es erlaubt sein, Menschen bei der Selbsttötung zu helfen. "Das Wissen um die Möglichkeit erleichtert viele Menschen", erklärt der Mediziner beim "Thementag Leiden". Eins wird auch in Stuttgart deutlich: Schon jetzt befürwortet ein Großteil der Deutschen die Beihilfe zum Suizid. Kein Wunder, treibt doch die Menschen die Angst vor dem Sterben um. Borasio ordnet ein: Die Medizin hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte geschrieben; die steigende Lebenserwartung ist nur ein Indiz dafür. Dabei habe sich allerdings bei Ärzten und auch bei Patienten eine Art Allmachtsgefühl in die Medizin entwickelt, sie könne den Tod besiegen. Eine schlechte Entwicklung, denn die Sterbebegleitung sei die urärztliche Aufgabe des Arztberufes.

Für Dieter Birnbacher, Vizepräsident der Gesellschaft für humanes Sterben, kommt die ärztliche Fürsorgepflicht auch dann zum Tragen, wenn der Patient den Wunsch zu sterben äußere und dafür ärztliche Hilfe benötige. "Selbstverständlich soll kein Arzt verpflichtet sein, assistierten Suizid zu leisten, es sollte seine persönliche Gewissensentscheidung sein", sagt der Bioethiker in Stuttgart.

Doch eins ist klar: Wer mit dem Strafrecht droht, muss sich auch auf die dringend notwendige sozialpolitische Debatte einlassen und die Ängste der Menschen ernstnehmen.

"Hohe Maßstäbe zu setzen, ohne dafür Sorge zu tragen, dass Menschen entsprechend leben und sterben können, empfinde ich als zynisch", sagt denn auch der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider in Stuttgart. Das bedeutet mehr Personal in der Pflege, den Ausbau der Hospize und vor allem einen flächendeckenden Aufbau der Palliativmedizin. Nur nebenbei: Erst seit 2012 ist die Palliativmedizin Pflichtprüfungsfach in Deutschland. Und von der palliativen Betreuung zum Ende des Lebens profitiert bislang nur eine Minderheit. So haben nur 15 Prozent der Krankenhäuser eine eigene Palliativstation, und die ambulanten Teams der Palliativversorgung, die sich um Todkranke zu Hause kümmern, erreichen laut der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin erst 40 Prozent der Bedürftigen. Dabei haben seit 2007 alle gesetzlich Versicherten einen Anspruch darauf. Die Defizite sind immer noch immens.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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