Die Welt retten

Über sinnlosen Überfluss
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Ein Plädoyer für den Verzicht - leider mit heißer Nadel gestrickt.

In den westlichen Wohlstandsgesellschaften, so die These des Journalisten Jörg Schindler, herrscht das Prinzip des "immer mehr": Die Autos werden immer größer, die Urlaubsreisen gehen ins immer weiter entfernte Ausland. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Männern und Frauen, die sich zur Selbstoptimierung beim Schönheitschirurgen unters Messer legen. "Alles wird immer mehr", beobachtet der "Spiegel"-Redakteur in seinem Buch "Stadt, Land, Überfluss", um dann zu fragen: "Aber heißt das auch, dass alles besser wird?"

Kaum einen Lebensbereich, den der Autor dabei nicht in den Blick nimmt: Er beschäftigt sich mit dem Konsumverhalten und der Medizin, mit Arbeit, Reisen, Fußball und moderner Kommunikation. Kritisch analysiert er die wirtschaftlichen und sozialen Mechanismen der westlichen Konsumgesellschaften. Die Müllberge wachsen tagtäglich, während es krummgewachsene Möhren nicht mehr in die Gemüsetheke des Supermarktes schaffen. Bei zappeligen Kindern wird überdurchschnittlich schnell ADHS diagnostiziert, statt den Erziehungsstil der Eltern zu hinterfragen und die seelische Gesundheit des Kindes in den Blick zu nehmen.

Und Smartphones, mit denen jeder rund um die Uhr mit dem Internet verbunden sein kann, führen dazu, dass der Lebensalltag immer rastloser wird. Selbst den Fußball lässt Schindler nicht außen vor: Dieser Sport ist durch und durch kommerzialisiert, die Profi-Spieler werden immer jünger und müssen immer mehr Leistung bringen. Es ist ein düsteres Bild, das Jörg Schindler, der für seine investigativen Recherchen in der Vergangenheit mehrfach ausgezeichnet wurde, hier zeichnet.

Und doch bleibt das Buch nicht bei dieser Bestandsaufnahme stehen. Schindler hat sich auf die Suche nach Menschen mit alternativen Lebensmodellen gemacht. Gefunden hat er eine Produktdesignerin aus Berlin, die verschrumpeltes Gemüse vor dem Müll rettet und in einer Markhalle verkauft. Oder einen Banker, der seinen hoch dotierten Job gekündigt hat und jetzt Suchtkranke betreut. Auch Papst Franziskus ist für den "Spiegel"-Redakteur ein positives Beispiel: Mit seiner deutlichen Entscheidung für eine Wohnung im Gästehaus des Vatikan hatte der Papst schon zu Beginn seiner Amtszeit dem Prunk eine Absage erteilt. Schindlers Helden sind Menschen, die sich in unterschiedlichen Bereichen dem Mainstream entzogen haben. Menschen, die einen Anfang gewagt haben und erkannt haben, "es darf, für den Anfang, gerne ein bisschen weniger sein." So gesehen ist das Buch ein Plädoyer für den Verzicht.

In seiner Argumentation stützt sich Schindler auf zahlreiche Zitate aus großen deutschen Tageszeitungen. Aus der "Süddeutschen Zeitung", der "Frankfurter Rundschau", der "Welt" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat er Stimmen zusammengetragen, die seinem "Plädoyer gegen den sinnlosen Überfluss" zuträglich sind. Beim genauen Durchsehen der Fußnoten fällt allerdings auf, wie sehr das Buch mit heißer Nadel gestrickt wurde. Die Quellenangaben sind mitunter unsauber recherchiert: Nicht näher beschriebene "Tourismusstudien" werden etwa aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitiert, wobei die Originalquelle fehlt.

Auch von der ökumenischen Sozialinitiative der katholischen und evangelischen Kirche hat Schindler zwar in der Zeitung gelesen, in seinem Buch verweist er auf den entsprechenden Zeitungsartikel, nicht jedoch auf das Originaldokument. Diese Ungenauigkeit ist bedauerlich. Gerade in einem Plädoyer gegen das "immer mehr" wäre hier weniger mehr gewesen: Weniger schnell zusammengeschriebene Zweitquellen und mehr Lektüre der Originaltexte.

Jörg Schindler: Stadt, Land, Überfluss. Warum wir weniger brauchen als wir haben. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 272 Seiten, Euro 14,99.

Barbara Schneider

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