Ruhe, liebes Abendland

Über das Werden eines schillernden Begriffes
Pegida demonstriert in Dresden am 25. Januar 2015. Johann Wolfgang von Goethe (links) ist zu Stein erstarrt ...Foto: epd/ Matthias Schumann
Pegida demonstriert in Dresden am 25. Januar 2015. Johann Wolfgang von Goethe (links) ist zu Stein erstarrt ...Foto: epd/ Matthias Schumann
Seit einiger Zeit versetzen die Pegida-Demonstrationen in Dresden samt ihren Ablegern die Öffentlichkeit in Aufregung. "Abendland" war auf einmal in aller Munde. Friedrich Wilhelm Graf zeigt die Geschichte und die Facetten des Begriffes auf. Der Münchner Systematiker ist sich sicher: Bisher hat das Abendland seine Retter ganz gut überstanden.

Ganz unterschiedliche Begriffe und Formeln werden gern benutzt, um eine innere Einheit der vielen heterogenen Nationalkulturen in Europa zu behaupten. Bekanntlich ist der Kontinent seit Jahrhunderten durch eine hohe Vielfalt von Sprachen, Ethnien, Konfessionskulturen, Sitten und regionalen Überlieferungen geprägt. Angesichts der damit verbundenen Spannungen und auch harten politischen Konflikte gab es immer wieder das Bedürfnis, eine europäische Identität zu beschwören, eine Kultursubstanz, die in aller Vielfalt ein evident Gleiches, allen Europäern Gemeinsames bezeichnen sollte. Doch was hat ein französischer Aristokrat mit einem finnischen Waldarbeiter gemeinsam, was eine griechische Bäuerin auf Kreta mit einem schwulen Tänzer in Amsterdam?

Wer "den Europäern" eine starke bindende Gemeinsamkeit, eine europäische Kollektividentität zuschreiben will, braucht Einheitsbegriffe, um die geschichtlich gewordene, darin faktische Vielheit und Verschiedenheit zu überdecken. Geredet wurde und wird dann gern vom "Abendland", "unserer abendländischen Kultur", "christlichen Werten", "dem christlichen" oder "jüdisch-christlichen Menschenbild" und neuerdings von der "jüdisch-christlichen" oder gar "christlich-jüdischen Leitkultur".

Doch wie andere Begriffe unserer politisch-sozialen Sprache sind solche Formeln extrem interpretationsoffen und können von konkurrierenden Akteuren ganz unterschiedlich gedeutet und in je eigenem Sinn gebraucht werden. Oft waren sie nur Kampfbegriffe gegen jeweils Andersdenkende.

In ihren Gebrauch lassen sich Konjunkturen beobachten. Vom "Abendland" redeten dessen selbst ernannte Retter zumeist dann, wenn sie die Grundlagen wahrer Kultur bedroht und Europa in einer tiefen Krise sahen. Zwar ist die Geschichte des Begriffs erst in vagen Umrissen erforscht, und es verdient eigene Beachtung, dass die beiden größten begriffshistorischen Unternehmungen in den bundesdeutschen Geisteswissenschaften nach 1945, Joachim Ritters "Historisches Wörterbuch der Philosophie" und die entscheidend von dem genialen Historiker Reinhart Koselleck inspirierten "Geschichtlichen Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", keine Artikel "Abendland" kennen. Aber einige theologische Lexika und auch Wikipedia bieten Ersatz. Wenn christliche Gottesgelehrte, Philosophen, Dichter und Politiker höchst unterschiedlicher Herkunft vom "Abendland" sprachen, wollten sie oft nur ihre je eigenen, also partikularen "Kulturwerte" für allgemein verbindlich erklären und anderen aufdrängen.

Seit der revolutionären "Sattelzeit" des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts lassen sich vier Konstanten beobachten. Erstens: Im katholischen Deutschland fand sich Abendland-Semantik deutlich häufiger als bei protestantischen Autoren. Immer blieb zweitens die Frage umstritten, ob neben den Christen auch die Juden ins Abendland gehören; der Begriff konnte leicht auch für antisemitische Exklusion der Juden und zur Verweigerung gleicher Bürgerrechte in Anspruch genommen werden. Noch die oft zu lesende Formel von der "christlich-abendländischen Kunst" zehrt davon, dass niemand analog von einer "jüdisch-abendländischen Kunst" spricht. Abendland-Rhetorik hat drittens oft einen modernitätskritischen Grundzug: In Zeiten sehr schnellen, als bedrohlich und krisenhaft erlebten oder erlittenen Wandels, im Zusammenhang der überaus konfliktreichen Durchsetzung einer modernen bürgerlichen, ökonomisch kapitalistischen und politisch-kulturell pluralistischen, offenen Gesellschaft diente der Abendlands-Begriff den Modernitätsskeptikern dazu, eine idealiter alle wieder bindende, jedenfalls als normativ unterstellte Kultursubs-tanz zu behaupten. Wer vom "Abendland" spricht, setzt auf die Integration der Gesellschaft durch traditionsvermittelte "christliche Werte". Darin hat der Begriff einen ökumenischen, innerchristlich konfessionelle Vielfalt abblendenden und zugleich dezidiert antipluralistischen Grundzug. "Abendland" taugt viertens deshalb als Kampfbegriff gegen alle möglichen Andersdenkenden, weil er ein allen Europäern normativ Gemeinsames suggeriert, das sich leicht gegen all jene Europäer wenden lässt, die die Anerkennung dieses Gemeinsamen verweigern.

"Abendland" ist ein Relationsbegriff. Martin Luther prägte ihn im Kontext der Übersetzung von Matthäus 2, Vers 1, also mit Blick auf die "Weisen aus dem Morgenland". Im 16. und frühen 17. Jahrhundert sprachen die Gelehrten, auch die Theologen, noch nicht von "dem Abendland", sondern von "den Abendländern", womit sie die Länder und Regionen in der westlichen, lateinisch geprägten Hälfte des Römischen Reiches seit der Theodosianischen Teilung im Jahre 395 bezeichneten.

Je mehr im Zuge der oft gewalttätigen Expansion einiger europäischer Länder und der damit verbundenen schnellen Vermehrung des gelehrten Wissens über andere Kontinente und Länder die Vielfalt historisch ganz unterschiedlich geprägter Kulturen sichtbar wurde, desto mehr wurde die überkommene Rede von "den Abendländern" in den Kollektivsingular "das Abendland" überführt, um ein europäisch Gemeinsames, insbesondere "das Christliche", gegen das als bedrohlich erlittene Andere abzugrenzen. Ganz alte Ängste vor den Türken und überhaupt vor starker Aggression der von Ost nach West vordringenden Barbaren spielten dabei ebenso eine Rolle wie Versuche, nach dem mühsam erreichten, aber bleibend prekären Ende der äußerst blutigen konfessionellen Bürgerkriege eine Art vorrechtlich sozialmoralischer Grundlage des neuen innerchristlichen Religionsfriedens zu bezeichnen. Dabei wurde oft ein wahres, gutes Abendland gegen ein sich selbst zerstörendes, das christlich Gemeinsame negierendes Abendland gesetzt: das Mittelalter, also das Corpus Christianum, vor den reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts und der von ihnen herbeigeführten konfessionellen Pluralisierung des Christlichen gegen ein durch immer neuen innerchristlichen Konfessionsstreit und Kulturkämpfe geprägtes neuzeitliches Europa.

Der junge Hegel spekulierte über den "Unterschied zwischen Abendland und Morgenland im politischen Leben" und machte sich all jene Stereotypen zu eigen, die Aufklärer im 18. Jahrhundert oft ohne nähere Kenntnis von Land und Leuten, aber mit viel Phantasie und Einbildungskraft formuliert hatten: "Bei den Orientalen ist eine sinnliche, materielle Seite vorherrschend; im Abendland ist der Gedanke überwiegend, er wird in der Gedankenform zum Prinzip gemacht". So stehen sich Orient und Okzident als Welt der schwelgerischen Sinnlichkeit einerseits und Kultur von Geist und Rationalität andererseits gegenüber.

Ein katholischer Romantiker wie Friedrich Schlegel vertrat in der vor einem Wiener Publikum vorgetragenen "Philosophie der Geschichte" die These, dass in der karolingischen Zeit "das abendländische Reich als christliches Kaisertum wiederhergestellt" worden sei, als Gegengründung zur "Eroberungs- und Zerstörungswut der arabischen Weltherrscher" und zur "fast immer gleichförmigen Verderbnis des byzantinischen Hofes". Schlegel setzte das "europäische Abendland" mit dem "katholischen Abendland" gleich, und er sah in der Französischen Revolution, der "zweiten Reformation", einen "neuen" oder "fortwährenden Religionskrieg", der nur durch die "Wiederherstellung" des "wahren Christentums" beendet werden könne, durch Rückgang auf den "Ursprung des Christentums" und "Restitution" des alten Corpus Christianum.

Auch im Diskurs der Historiker war im Vormärz viel vom "Abendland" die Rede. Einflussreiche Historiker wie Leopold von Ranke und Gustav Droysen führten heftige Kontroversen darüber, welche geschichtlichen Ereignisse, historisch gewachsenen Institutionen und religiösen und kulturellen Traditionen denn als konstitutive Prägekräfte des in ihren Augen immer vom Islam bedrohten "Abendlandes" zu deuten seien.

Ranke und seine Schüler sahen das Abendland durch drei bis in die Moderne des 19. Jahrhunderts hinein prägende Grundkräfte bestimmt: die Trias von Antike, römischem, das heißt papstzentrierten Christentum und der Kultur der "germanisch-romanischen Völker". Damit stützte er das Geschichtsbild all jener Theoretiker von Restauration und Gegenrevolution, die nur in der Überwindung der so genannten Konfessionsspaltung des 16. Jahrhunderts, also in einem neuen christlichen Kaisertum und einem autoritätsbewusst starken Papsttum, die Sicherheit des Abendlandes gegen seine inneren wie äußeren Feinde gewährleistet sahen.

Gerade Vordenkern des Ultramontanismus, die durch ein massiv aufgewertetes Papsttum "die Kirche" zur zentralen Ordnungsmacht Europas machen wollten, diente die Rede vom Abendland in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts dazu, für ganz Europa, gerade auch dessen protestantischen Norden, eine umfassende Rekatholisierung einzuklagen, könne doch nur so der Gefahr der pluralistischen Relativierung aller überkommenen Kulturwerte und der individualistischen Zersetzung von Ethos und Gemeinschaft gewehrt werden. Das Motiv des schon bald drohenden "Untergangs des Abendlandes" wurde im frühen 20. Jahrhundert dann von Oswald Spengler mit so großem literarischem Erfolg entfaltet, dass um kulturanalytische Differenzierung bemühte Stimmen nur wenig Resonanz fanden.

Abendländische Bewegung

Mit Blick auf die weiter virulente Feindschaft zwischen den Kriegsgegnern wollte Ernst Troeltsch mit dem Konzept einer "Kultursynthese des Europäismus" nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Ideenwege pragmatischer Verständigung innerhalb Europas und auch in der tief gespaltenen Gesellschaft der Weimarer Republik weisen. Dies blieb ein Intellektuellenprojekt, das bei der radikalen Linken ebenso wie bei den Völkischen nur als liberale Illusion galt.

Immerhin provozierten die Kontroversen um Spenglers Weltbestseller in der Zwischenkriegszeit intensive Abendlandsdebatten, an die nach 1945 Intellektuelle ganz unterschiedlicher politischer wie religiöser Couleur anknüpfen konnten. Vor allem katholische Denker und Publizisten engagierten sich in den frühen Fünfzigerjahren für eine "abendländische Bewegung", die durch ein erstarktes kirchliches Christentum das in Nationalsozialismus und überhaupt Faschismus sichtbar gewordene "Wertevakuum" mit Glaubensgehalt füllen und so den Aufbau eines geeinten Europas fördern wollte. So wurden im Ideenkampf gegen den "nihilistischen" Kommunismus Jerusalem mit dem Kreuz auf Golgatha, Athen und Rom als die drei entscheidenden Gründungs- und Erinnerungsorte Europas beschworen.

Gerade als liberaler Protestant kann man dies leicht als eine irritierend restaurative, durch naiven Antimodernismus und regressive Einheitssehnsucht geprägte Abendland-Ideologie belächeln. Doch wenn Europa stärker als andere Kontinente durch hohe sprachliche, religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt bestimmt ist, muss man mit Blick auf den gemeinsamen Markt und die Institutionen rechtlicher wie politischer Integration nach möglichen vorrechtlichen Elementen europäischer Gemeinsamkeit fragen dürfen. Allerdings gilt dabei die simple Logizität aller Relationsbegriffe: Das "Abendland" ist nur das andere seines anderen, des "Morgenlandes". Insoweit bleibt die Rede vom Abendland immer auf Unterscheidungsfiguren von Morgenland und Abendland, Orient und Okzident bezogen. Gerade so ist das "Abendland" immer eine Projektionsfläche für politisch höchst unterschiedliche Entwürfe dessen, was die Europäer mehr oder minder stark miteinander verbindet (oder verbinden soll). Ob der Religion, genauer: dem Christentum, dabei eine so wichtige Stellung zukommt, wie oft behauptet wird, mag man bezweifeln. In Troeltschs Konzept der "europäischen Kultursynthese" ist der "hebräische Prophetismus" mit guten Gründen nur eine von vier bleibend relevanten Kulturpotenzen.

Vom Abendland ist derzeit vor allem mit Blick auf Pegida die Rede. Nüchterne Gelassenheit ist angesagt. Das Recht auf Demonstrationsfreiheit gilt auch für die, die mit fremdenfeindlichen Parolen Angst säen und Misstrauen gegen "die Politik" schüren. Das Projekt einer offenen, von der spannungsreichen Vielfalt je eigener Lebensentwürfe geprägten Gesellschaft war in Deutschland und anderen europäischen Ländern niemals unumstritten. So erleben wir nichts wirklich Neues. Und eine fortschreitende Islamisierung durch irgendwelche besonders zeugungsstarke Jung-Muslime können nur Leute befürchten, die keine Daten zur Einwanderung nach Deutschland und Auswanderung aus Deutschland kennen. Deshalb ist im Umgang mit Protestierenden Sachlichkeit angesagt, also selbstbewusste Aufklärung über das, was in Sachen Migration in Europa tatsächlich der Fall ist.

Man darf Konflikte nicht schönreden. Aber man sollte auch die Ruhe bewahren, wenn manche ihre regressiven Träume von einem ethnisch homogenen Deutschland auf der Straße kundtun. Bisher hat das Abendland seine Retter ganz gut überstanden.

Friedrich Wilhelm Graf

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Foto: dpa/Horst Galuschka

Friedrich Wilhelm Graf

Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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