Wohl temperiert

Zwischen den Grenzen
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Eine Musik, zu der sich beim besten Willen nicht sagen lässt, ob sie nun mehr der Klassik oder der Folklore angehört. Die Wirkung changiert, die Grenzen sind stets offen.

"Zamba del Carnaval", da denkt man an südamerikanisches Feuer, tanzende Umzüge, lange Nächte. Doch die argentinische Zamba hat mit der viel bekannteren Samba wenig gemein. Auch sie ist ein Tanz, aber die Paare bewegen sich in der langsamen Würde und Eleganz eines Dreivierteltakts. Zu den Meistern unter den Komponisten dieser Gattung gehört Gustavo "El Cuchi" Leguizamón (1917-2000). Viele seiner Werke sind in Argentinien Gemeingut, gewissermaßen Klassiker der traditionellen Musik.

Leguizamón war ein Autodidakt, der Beethoven verehrte und auch von Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts wie Debussy, Ravel und Schönberg fasziniert war. Deren harmonische Einflüsse sind in seinen Stücken unüberhörbar, die gleichwohl durch und durch populäre Musik sind. Der Gitarrist Pablo Marquez nähert sich den Zambas und Chacareras nun von der anderen Seite her: Durch und durch klassisch ausgebildet, nimmt er sich ihrer in neuen, eigenen Arrangements an. Das Ergebnis ist eine Musik, zu der sich beim besten Willen nicht sagen lässt, ob sie nun mehr der Klassik oder der Folklore angehört. Die Wirkung changiert, die Grenzen sind stets offen.

Marquez hat nicht nur neue Arrangements geschrieben, er hat die Stücke zum großen Teil auch in neue Tonarten übertragen, um - inspiriert von Bachs Wohltemperierten Klavier - durch alle 24 Tonarten zu wandern. Es sind aber nur 17 Titel auf "El Cuchi Bien Temperado" ("das wohl temperierte Schwein"); der virtuose Gitarrist, der schon mit Komponisten wie Berio, Kurtág und Kagel gearbeitet hat, löst das Problem, indem er in einem einzigen Stück durch bis zu fünf Dur- und Moll-Tonarten moduliert.

Die CD enthält auch zwei Kleinode, die Leguizamón geschaffen hat: "Chacerera Del Holgado", ein Stück ohne tonales Zentrum, und besagte "Zamba del Carnaval", die zwar keine Zwölf-Ton-Musik im engeren Zentrum ist, aber doch - inspiriert von Schönberg - alle zwölf Töne der Skala benutzt. Trotzdem klingt das nie konstruiert oder gar nach Avantgarde, was für eine ganz eigene Meisterschaft spricht.

All dies gesagt, wird klar, welch knifflige Aufgabe Pablo Marquez sich hier gesucht hat. Und er löst sie mit Bravour. Wie er die als Miteinander von Klavier/Gitarre und Gesang angelegten Stücke solistisch umsetzt, wie er Begleitung und Melodien mal präzise trennt, mal fließend ineinander übergehen lässt, das ist hohe Kunst. Und das Beste daran: Marquez will nicht virtuos auftrumpfen, sondern vertraut ganz der subtilen Schönheit der Vorlagen. Tolles Album.

Gustavo Leguizamón / Pablo Márquez: El Cuchi Bien Temperado. ECM New Series 2380 4810972.

Ralf Neite

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