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Achten Sie auf die Goldkante, es lohnt sich!

Zuhause ist das Jetzt im Hier und eine fragile Größe: Immer im Fluss, wenn wir Vergangenheit und Zukunft mitbedenken, und erst recht, wenn wir das Hier mit ihnen überblenden. Richard McGuire tut das in der Graphic Novel "Hier" (ein Comic-Bilderbuch für Erwachsene) auf stupend grandiose Weise, indem er mit einem kahlen Raum in einem Haus beginnt. Fluchtpunkt ist stets der Winkel von Außen- und Innenwand. Linker Hand ein hohes Fenster, rechts ein Kamin mit Sims. Undatiert. Grau. Schattenfall. Dann die Titelseite, schon bunt und links oben mit Jahreszahl: 2014. Ein Bücherregal, halb eingeräumt, davor ein offener Umzugskarton. In anderer Farbgestaltung auf der nächsten Doppelseite derselbe Raum mit Laufstall, Teppich, Kinderspielzeug, Babyflasche auf dem Sofa. 1957. So geht das weiter.

Der Raum bewohnt, später belebt, die Jahreszahlen springen vor und zurück, es gibt Ausschnitte mit wieder anderen Jahren, Epochen wie die der Beatles sind erkennbar, frühe Siebziger, dann dahinter Bäume, Landschaft, Urzeit - sehr ferne Vergangenheit, aber stets derselbe Ort, wo später ein Haus stehen wird. Menschen, die kommen, die gehen. Familie, Kinder, Enkel, Nachfahren. Dazu Rück- und Vorblenden, von Sauriern bis hin zu Leuten in Schutzanzügen auf leerer, wohl kontaminierter Fläche: 2313, kein Haus mehr, im Vordergrund ein Geigerzähler, rechts ein Ausschnitt von 1958. Mann und Frau im besagten wechselhaften Zimmer. Beide im Hüftabwärtsportrait, er mit Golfschläger in der Hand. Zimmergrün auf nackten Dielen. Man meint, sie dabei lachen zu hören. So entfaltet McGuire auf 300 Seiten Familienchronik, Schicksale, Geschichte vom mittleren 20. Jahrhundert bis heute, aufgehängt zwischen Ur- und Noch-nicht-Zeiten.

Der Fokus immer unverändert. "Die Geschichte eines Stücks Welt, an dem das Leben vorüberzieht", heißt es im Verlagstext. Wie McGuire das passieren lässt, ist ein kleines Wunder. Graphisch stark gelingt es ihm mit großer Stringenz, dabei so virtuos wie minimalistisch zu verdichten, was der Hebräerbriefes einst über uns sagte: "Gäste und Fremdlinge auf Erden sind (wir)" (Hebräer 11, 13). Das hat Größe und Verlorenheit, ist zugleich melancholisch und praller Tanz, weil der Raum mit dem Regal am Ende wieder leer sein wird. Condition humaine, so sagt man wohl. Bei dem unwillkürlich rauschhaften Durchblättern und Schauen der seltsam schönen, nachdenklichen Seiten stellt sich Dankbarkeit für das vorübergehende Zuhause ein, das man hat. Ein ebenso philosophisches wie schlichtes, also wahres Buch. Es ist die bunte Vollversion von McGuires legendärer, nur sechs Seiten umfassender Schwarzweiß-Comic-Erzählung "Here", die 1989 im Raw-Magazin erschien und die wegen ihrer ausdrucksstarken Fokusbeschränkung gleich für Furore in der Szene sorgte und einflussreich Maßstäbe setzte. "Achten sie auf die Goldkante, es lohnt sich!", hieß es einst in übersichtlicheren Fernsehwerbungszeiten. Für McGuires "Hier" gilt das immer noch. Tröstliche Vergewisserung und nüchterne Relativierung des Orts der eigenen Welt auf einem fliegenden Zeitstrahl - irgendwo zwischen Vergehen und Erinnerung. Das Jetzt im Hier. Nicht mehr, nicht weniger. Stark.

Richard McGuire: Hier. Graphic Novel. DuMont-Verlag, Köln 2014, 300 Seiten, Euro 24,99.

Udo Feist

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